US-Buchmarkt

Harper Lees neues Buch gilt als literarische Sensation

Das neue Buch der US-Autorin Harper Lee: "Go Set a Watchman" in einer Londoner Buchhandlung
© picture alliance / dpa
Von Kai Clement · 14.07.2015
Sie schrieb nur ein Buch – und verkaufte es 40 Millionen Mal. Mit 89 Jahren bringt Harper Lee nun die Fortsetzung von "Wer die Nachtigall stört" auf den Buchmarkt. Das Lesepublikum schockiert, denn die Hauptfigur hat sich radikal gewandelt.
Eine Startauflage von zwei Millionen Exemplaren. Geschäfte und Bibliotheken in mehr als 70 Ländern sind vorbereitet, das Buch in letzter Minute in die Regale zu nehmen. Es ist das Literaturereignis des Jahres. "Gehe hin, stelle einen Wächter" erscheint erst 55 Jahre nach Harper Lees Erstveröffentlichung "Wer die Nachtigall stört" – gilt aber als dessen Blaupause. Die Autorin selbst – inzwischen 89 Jahre alt – hilft nicht, das Rätselraten um das neue alte Buch aufzulösen, sie gibt schon lange keine Interviews mehr.
Die literarischen USA sind in Aufruhr, so auch Whitney Hu vom legendären unabhängigen New Yorker Buchgeschäft "Strand Bookstore".
"Ganz, ganz selten erleben wir Bücher solcher Schlagkraft. Es hat jetzt schon Harry Potter geschlagen. Wir sind nervös, aber noch mehr begeistert."
Seit Tagen Schlagzeilen auf dem Titel der "New York Times" zu "Gehe hin, stelle einen Wächter" - direkt neben denen zur Griechenland-Krise. Aufregung beim Nachrichtensender CNN. Das erste Kapitel vorab im "Wall Street Journal": Die Erregungs-Maschinerie läuft auf Hochtouren.
Der gerechte Anwalt hat sich in eine Art Hitler verwandelt
Dazu hat die Auslieferung des Buches im Hochsicherheitsstil nicht ganz funktioniert. Die ersten Literaturkritiker besprechen es bereits vor der heutigen US-Veröffentlichung – und sind, ja was? Irritiert? Verblüfft? Schockiert? Die Hauptfigur Atticus Finch klingt auf einmal nach Hitler und Goebbels, sagt die Kritikerin Maureen Corrigan.
Hitler und Goebbels? Atticus Finch? Die Figur, die sich in "Wer die Nachtigall stört" als alleinerziehender Anwalt unbeirrt gegen Rassismus im Alabama der 30er-Jahre einsetzte?
Der Gregory Peck im Film ein Denkmal gesetzt hat mit dem prominenten Buchzitat - "Nie versteht man jemanden wirklich, so lange man sich nicht in ihn hineinversetzt, dessen Haut überstreift und darin herum spaziert" - ?
Ein so lange erwartetes Literaturereignis – das nun so gar nicht den Erwartungen entspricht. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die USA die Rassenfrage mit erneuter Heftigkeit diskutiert, in der in South Carolina die Südstaatenflagge im Archiv verschwindet und Polizeiübergriffe auf Farbige Schlagzeilen machen.
Das neue, alte Buch sei ein einziges Durcheinander, sagt Kritikerin Maureen Corrigan.
"Es ist ja eigentlich der Erstentwurf für 'Wer die Nachtigall stört'. Überall lose Enden. Und moralisch ist es auch eine Unordnung."
Warum ist der gealterte Atticus, ein "Nigger Lover", wie er zuvor beschimpft wurde, nun ein Rassist? Warum hat Harper Lee, als sie auf Anraten ihres Lektors den ersten Entwurf um 20 Jahre vorverlegte, die Hauptfigur so geändert?
Für viele Amerikaner war "Wer die Nachtigall stört" Schullektüre
Fragen, die man ihr gerne stellen würde, aber die Autorin, sie spricht ja nicht. Mutmaßungen explodieren. Biograf Charles Shields leistet seinen Beitrag bei CNN.
"Wir haben es nicht mit einem Heiligen zu tun. Sondern einem Südstaatler. Ein Anwalt, und intelligenter Mann, der glaubt, dass er Recht hat."
Für viele Amerikaner war "Wer die Nachtigall stört" Schullektüre. War Anregung, selbst Anwalt der gerechten Sache zu werden. Diese Leser blicken der heutigen Veröffentlichung so fasziniert wie irritiert entgegen. Sie können noch gar nicht glauben, was aus "ihrem" Atticus geworden ist, so auch der New Yorker David Nussbaum.
"Wirklich?! Er ist ein Fanatiker im neuen Buch? Ein saurer, alter Fanatiker? So ist er geworden? Hätte ich nie gedacht nach 'Wer die Nachtigall stört'!"
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