Hari Kunzru: "Götter ohne Menschen"

Übernatürliche Begegnungen in der Wüstenhitze

06:02 Minuten
Cover des neuen Buchs von Hari Kunzru: Es heißt "Götter ohne Menschen".
Vielschichtige Bilder, keine einfachen Lösungen: Hari Kunzru fordert seine Leser heraus. © Liebeskind Verlag / Deutschlandradio
Von Birgit Koß · 24.06.2020
Audio herunterladen
Die Mojave Wüste als Rückzugsort und Fluchtpunkt für Sinnsucher steht im neuen Roman von Hari Kunzru im Mittelpunkt. In "Götter ohne Menschen" verknüpft er Geschichten aus drei Jahrhunderten und stellt sich großen Themen: Identität, Macht und Wahrheit.
Bereits das Debüt des britischen Schriftstellers und Journalisten Hari Kunzru "Die Wandlung des Pran Nath" von 2002 wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Der inzwischen in New York lebende Autor, dessen Vater aus Indien stammt, hat inzwischen fünf Romane veröffentlicht. Der jüngste mit dem Titel "White Tears" von 2017 hatte so großen Erfolg, dass der Verlag Liebeskind nun auch den Vorgänger von 2011 auf Deutsch herausgegeben hat: "Götter ohne Menschen".

Ein autistischer Sohn als "Strafe der Götter"

Wie schon in seinem zweiten Roman "Grayday" von 2004 spielt die Geschichte in Amerika und der Hauptprotagonist ist ein indischstämmiger Informatiker. Jaz Matharu arbeitet an der Wall Street und hat zum Entsetzen seiner Familie eine weiße Amerikanerin geheiratet.
Die beiden haben einen vierjährigen, stark autistischen Sohn, Raj – das kann nur "eine Strafe der Götter sein". Um ihre angespannte Beziehung zu kitten fahren Jaz, Lisa und Raj für einen Urlaub in die Mojave Wüste im südlichen Kalifornien. Hier gibt es eine interessante Felsformation: die Pinnacles, die aussehen, als würden Antennen in den Himmel ragen.
Hari Kunzru nimmt seine Leser mit auf einen 300 Jahre umspannenden Parforceritt durch die Geschichten dieser Landschaft, die alle etwas mit Sinnsuche und übernatürlichen Begegnungen zu tun haben. Immer wieder wechselt der Autor phantasievoll und gleichzeitig wertfrei erzählend zwischen realen Beschreibungen der Menschen, die sich in die Wüste zurückgezogen haben, und ihren mystischen Erlebnissen und Wünschen nach Erlösung hin und her. Sei es ein Missionar mit Engelsvisionen im achtzehnten Jahrhundert, ein alkoholkranker Flugzeugmechaniker, der nach dem Zweiten Weltkrieg dort Funkkontakt zu Außeririschen sucht, oder eine Hippieaussteigergruppe der 1970er Jahre, die auf heilsbringende UFOs wartet.

Exakte Beobachtungen und Recherchen

Quer durch Zeiten und Geschichten springend entwickelt sich der Roman in einem rasanten Tempo und entwickelt einen regelrechten Sog. Die Familiengeschichte von Jaz und Lisa bildet dabei die Klammer. Dramatisch wird es, als Raj bei den Felsen spurlos verschwindet.
Geschickt legt der Autor frühzeitig in den unterschiedlichen Kapiteln winzige Hinweise und Fährten aus, die sich im Laufe der Zeit zusammenfügen. Durch außerordentlich exakte Beobachtungen und Recherchen einerseits und ironischen Abstand zu seinen Figuren und dem Weltgeschehen andererseits schafft er überraschende Wendungen. Absurd und gleichzeitig real ist die Schilderung von Übungen der US-Truppen 2008 während des Irakkrieges, bei denen irakische Flüchtlinge in der Wüste als Statisten eingesetzt werden.
Hari Kunzri fordert seine Leser heraus. Er entwirft vielschichtige Bilder, ohne einfache Lösungen zu bieten. Brillant stellt er die Frage nach Sinnhaftigkeit und Identität in den Mittelpunkt und zeigt, wie beim Zusammenprall verschiedener Kulturen ein Kampf um Macht und Wahrheit entsteht - ein Thema, das sich durch alle seine Romane zieht.
Immer wieder schließt Hari Kunzru die Kreise seiner überbordenden Phantasie. Bereits in seinem ersten Buch spielte die Wüste als Ort übernatürlicher Ereignisse eine wesentliche Rolle. Dass sie nun der Ort für die "Götter ohne Menschen" ist, hat der Autor von Balzac entlehnt.

Hari Kunzru: Götter ohne Menschen
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Liebeskind, München 2020
416 Seiten, 24 Euro

Mehr zum Thema