Harald Jähner: "Wolfszeit"

Das Lachen im Elend

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Im Vordergrund das Cover von Harald Jähners "Wolfszeit", im Hintergrund eine undatierte Aufnahme der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Innenstadt von Köln
Harald Jähner will in "Wolfszeit" ein allumfassendes Stimmungsbild des Nachkriegsdeutschlands zeichnen. © Rowohlt Verlag/ dpa picture alliance/ Royal Air Force
Von Holger Heimann · 02.03.2019
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Der Germanist Harald Jähner zeichnet in "Wolfszeit" ein Stimmungsbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Dabei zeigt er - mit Eloquenz und dramatischem Gespür - sowohl das Leid als auch die Lebensfreude derer, die den Krieg überlebt hatten.
Als der Krieg zu Ende war, standen die Deutschen vor dem Nichts. Die selbstverschuldete Katastrophe war ohnegleichen. Wie sollte ein Volk nach der unvorstellbaren Schuld, die es auf sich geladen hatte, weiterleben? Doch überlagert wurde diese Frage zunächst durch ein anderes, unmittelbar dringlicheres Problem: Wie ließ sich überhaupt überleben? Viele Städte waren nicht mehr wiederzuerkennen, haushoch türmten sich die Trümmer. Deutschland, das gerade noch die Welt beherrschen wollte, war nun selbst besetztes Gebiet. Hier drängten sich Ausgebombte, Verschleppte und Flüchtlinge aus dem Osten. Auf dem Schwarzmarkt suchten ausgemergelte Gestalten nach Essbarem, Hamsterkolonnen machten sich auf den Weg aufs Land, um die Felder zu plündern.
Die kollektive Erinnerung an die Zeit wird von solchen, teilweise ikonischen Bildern des Elends und der existenziellen Not bestimmt. Aber darin spiegelt sich nur die halbe Wahrheit, glaubt Harald Jähner. "Wenn man da genauer hinhört, dann hört man die Leute tatsächlich lachen. 1946 war der erste spontane Rosenmontagszug in Köln. Der führte durch diese Trümmer. Köln war ja wirklich eine apokalyptisch aussehende Stadt, da stand ja fast nichts mehr außer dem Dom. Es gab eine unglaubliche Tanzwut. Das kann man pervers finden, aber die Leute hatten sehr viel Spaß. Und dafür gibt es auch einen Grund. Sie waren entronnen und hatten wirklich Lust zu feiern. Diese Tatsache wurde aber im Nachhinein aus der Erzählung der Nachkriegszeit Stück für Stück wieder verdrängt, weil die Leute sich natürlich als Opfer darstellen wollten, auch um sich selber so ein bisschen zu entschulden. Die Deutschen haben immer betont, sie seien Hitlers erste Opfer gewesen."

Widersprüchliche Gemengelage

Harald Jähner will mit seinem Buch die ganze Wirklichkeit zeigen. Ihn interessieren dabei weniger die Parteienpolitik oder die Diskussion um eine neue Verfassung. Er schaut vielmehr auf den Alltag der Menschen und erzählt, wie sie mit der Ausnahmesituation klargekommen sind. Dass die chaotische Zeit bei weitem komplexer und vielfältiger war als die nachträgliche Sicht darauf, ist eine überraschende Einsicht dieses Buches, das sich stellenweise so packend wie ein Roman liest.
Denn Harald Jähner, der lange Zeit das Feuilleton der Berliner Zeitung leitete, zeigt sich als ein begabter, ja begnadeter Erzähler. Er zoomt dicht heran an markante Szenerien und eindrückliche Schicksale, um dann den Bick wieder zu weiten und die widersprüchliche Gemengelage der Zeit in zwingende, prägnante Merksätze zu gießen. Zu den faszinierendsten Aspekten des Buches zählt, dass sich zuweilen gerade die größten Herausforderungen der Zeit als Glücksfälle der späteren Entwicklung erwiesen, wie Jähner überzeugend darlegt.
Er erklärt etwa, dass ausgerechnet die verhassten Ostflüchtlinge zu einem maßgeblichen Faktor des Mentalitätswandels der Deutschen wurden. "Die Begegnung mit den Vertriebenen aus dem Osten war für die Deutschen eine wirklich multikulturelle Begegnung, ein multikultureller Schock. Es gab wahnsinnig viel Krach und Stunk - vor allem auf dem Land. Die Deutschen als Fremde zu erleben, als unerwünschte Fremde, auch als Polacken, wie man sagte, ließ diese ganze emphatische Volksgemeinschaft natürlich implodieren. Davon war nichts mehr übrig. Diese desillusionierende Begegnung mit sich selbst ist für die Deutschen insofern sehr wichtig, weil ein Nationalismus sich darauf gar nicht mehr bauen ließ."

Schwarzmarkt als Staatsbürgerschule

Harald Jähner führt eine ganze Reihe weiterer Belege dafür an, dass die Umerziehung der Deutschen, wie er meint, viel stärker als durch politische Diskurse durch die gesellschaftliche Praxis geprägt war. Er erzählt vom Schwarzmarkt als einer veritablen Staatsbürgerschule. Zigaretten dienten hier anstelle von Geldscheinen als Währung, vor allem aber waren Menschenkenntnis und eine gesunde Portion Skepsis nötig, um nicht übers Ohr gehauen zu werden.
Jähner berichtet vom Staunen über die Lässigkeit amerikanischer Soldaten, die so anders daherkamen als die deutschen Männer, denen die militärische Zucht zur zweiten Haut geworden war. Und er erzählt schließlich von erotisch ausgehungerten deutschen Frauen und plädiert entschieden dafür, "die vielen Liebhaberinnen der GIs als Wegbereiterinnen der deutsch-amerikanischen Freundschaft zu erkennen. Tatsächlich sind sie Vorreiterinnen auf dem langen Weg nach Westen, sie sind Pionierinnen der Liberalisierung unserer Republik. Ihr unpolitisches, rein privates Agieren macht uns blind dafür, wie wichtig sie für die geistige Demobilmachung der Deutschen waren."
Die Erfahrungen der Frauen im Osten des Landes waren andere. Sie wurden zum Freiwild und Opfer massenhafter Vergewaltigung. Die russischen Soldaten nahmen vielfach Rache für das von der Wehrmacht über die Sowjetunion gebrachte Grauen. Die Haltung zu den Siegern war infolgedessen in Ost und West grundverschieden - mit weitreichenden, bis heue spürbaren Folgen, wie Harald Jähner mutmaßt: "Die Ereignisse liegen zwar mehr als sieben Jahrzehnte zurück, doch Argwohn habitualisiert sich und wird an die Kinder weitergereicht. Ohne diesen Zusammenhang anzusprechen, traf der Historiker Lutz Niethammer die Differenz auf den Punkt, als er die DDR eine 'hagere Tochter aus Tugend und Vergewaltigung' nannte, die BRD hingegen einen 'vitalen Liederjan'."
Harald Jähner beleuchtet Aspekte der unterschiedlichen Entwicklung in beiden Teilen des besetzten Landes, wie es der Titel des Buches verspricht. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass er sich insgesamt stärker auf den Westen konzentriert hat. Er erzählt etwa von der aus dem Boden gestampften Stadt Wolfsburg, nicht aber vom sozialistischen Pendant, der Plansiedlung Eisenhüttenstadt. Zu einem kompletten Bild hätte letzteres durchaus dazugehört. Doch der Fokus ist nachvollziehbar, denn zweifellos liefern die teils märchenhaften Unternehmerkarrieren der Wirtschaftswunderzeit im Westen einen anderen Erzählstoff als die Planvorgaben zum Aufbau des Sozialismus. Mit enormer Eloquenz und großem dramaturgischen Gespür formt der Autor diesen Geschichtsstoff zu einer ungemein fesselnden, eindrücklich bebilderten Erzählung vom Neubeginn nach 1945.

Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955
Rowohlt, Berlin 2019
478 Seiten, 26 Euro

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