Hansen: Rücksicht nehmen auf die, die noch mit Trauer kämpfen

Erik Fosnes Hansen im Gespräch mit Dieter Kassel · 20.07.2012
Die größte Strafe für Anders Breivik sei, ihm zu zeigen, dass er mit seinen Gräueltaten nichts erreicht hat, sagt der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen. Die Attentate hätten Norwegen im vergangenen Jahr so sehr geprägt, dass manche gerne einen Schlussstrich ziehen würden.
Dieter Kassel: Am 22. Juli 2011 tötete Anders Breivik mit einer Bombe im Regierungsviertel von Oslo und mit einer Waffe auf der Ferieninsel Utoya insgesamt 77 Menschen - ein traumatisches Ereignis für Norwegen, ein Ereignis, das sich am Sonntag, übermorgen, zum ersten Mal jährt. Über dieses erste Jahr nach den Massenmorden wollen wir deshalb jetzt mit Erik Fosnes Hansen reden, einer der bekanntesten Schriftsteller Norwegens und auch in Deutschland sehr erfolgreich. Er lebt in Oslo, und da begrüße ich ihn jetzt am Telefon. Einen schönen guten Morgen!

Erik Fosnes Hansen: Schönen guten Morgen!

Kassel: Welche Bedeutung hat dieser Jahrestag in Norwegen?

Hansen: Ja, zwei Bedeutungen, denke ich: Erstens gibt es ja für viele dadurch vielleicht einen vorläufigen Abschluss, einen Schlussstrich. In dem Jahr, in dem vergangenen Jahr hat diese Geschichte Norwegen so sehr geprägt, dass wohl viele einfach jetzt weitergehen und weiterkommen möchten. Andererseits ist es ja für die vielen, die wirklich persönlich betroffen sind, ein ganz wichtiger Tag, denn für sie geht das Leben vielleicht nicht so leicht oder ohne Weiteres weiter. Ich denke, in Zukunft wird das Verhältnis zwischen den direkt Betroffenen und der übrigen Gesellschaft ... Vielleicht, ja, wird da der Unterschied größer sein, als er bislang noch war.

Kassel: Wollen Sie damit sagen, dass dieser Ansatz, den ja auch Ministerpräsident Stoltenberg hatte, als er wenige Tage nach dem Attentat sagte, wir werden auf die Gewalt mit noch mehr Demokratie, noch mehr Öffentlichkeit antworten, dass dieser Ansatz zwar von der Mehrheit der Bevölkerung, aber nicht unbedingt von den Angehörigen der Opfer geteilt wird?

Hansen: Ich denke, das wird, also diese Aufforderung wird wohl von der großen Mehrheit auch der Hinterlassenen und direkt Betroffenen geteilt, nur: Die Erfahrungen von ähnlichen Attentaten im Ausland, sagen wir mal, die Erfahrungen von Beslan im Kaukasus 2004 zeigt ja, dass ... In einer kleinen betroffenen Gesellschaft geht, also kommt, also kehrt der Alltag nicht ohne Weiteres immer zurück.

Und ich denke, wir, die ja die Mehrheit in unserer norwegischen Gesellschaft ausmachen, die nicht direkt betroffen sind, wir müssen Rücksicht auf die Leute nehmen, die noch mit ihrer Trauer und mit ihren Traumas weiter kämpfen werden, lange Zeit noch werden sie damit weiter kämpfen müssen.

Kassel: Gab es in Norwegen gar keine Stimmen, die gefordert haben, eben doch nicht mit mehr Offenheit, sondern mit mehr Kontrollen, mehr Sicherheit zu reagieren?

Hansen: Doch, das gab es. Und wir müssen ja realistisch bleiben: Ich denke, einiges hat sich schon verändert, wenn es zu Sicherheitsmaßnahmen im ganz praktischen Sinne kommt. Mehr wird sich vielleicht auch ändern, wenn es zu Sicherheitsmaßnahmen und einer gewissen Fahndung, sagen wir mal, im Internet anbelangt.

Nur: Sehr wichtige Qualitäten, die wir ja immer geschichtlich in unserer Gesellschaft geschätzt haben, sind ja eben Offenheit, Demokratie, Gleichheit unter den Leuten, also einen gewissen Egalitarismus, und es wäre nicht mehr dieselbe Gesellschaft, die wir so sehr schätzen, wenn wir diese Werte irgendwie aufs Spiel setzen sollten jetzt. Wir müssen diese Werte auch in Zukunft behalten, sonst ist die norwegische Gesellschaft nicht mehr die norwegische Gesellschaft.

Kassel: Aber sieht sich die norwegische Gesellschaft nicht manchmal auch ein bisschen besser als sie ist? Ich will Ihnen sagen, wie ich darauf komme. Ich habe gelesen von einem glaube ich noch relativ neuen Sinti-und-Roma-Lager am Stadtrand von Oslo, und da sind in den Leserbriefen und Internetkommentaren offenbar doch die Meinungen zu diesen Menschen nicht so viel anders gewesen als in Frankreich, Spanien oder auch Deutschland.

Hansen: Nein, das stimmt leider. Und ja, da soll man sich nichts vortäuschen, also dass man hier irgendwie edler oder besser oder mehr bewusst damit umgeht. Aber ich habe auch Gott sei Dank, würde ich sagen, bemerkt, dass in den letzten Tagen eben in den Diskussionen zu den Sinti und Romas, die hier in Oslo seit einigen Monaten ein Lager aufgemacht haben, habe ich bemerkt, dass viele jetzt zu einer gewissen Rückhaltung und zu einer gewissen Mäßigung der Rhetorik jetzt mahnen, weil man sich eben an die Gelöbnisse und an die Prinzipien, die nach dem 22. Juli letzten Jahres so stark in den Vordergrund kamen, ... Und das ist jedenfalls ein erfreuliches Zeichen, denke ich.

Kassel: Könnte man vielleicht sogar, das soll nicht zynisch klingen jetzt, aber könnte man vielleicht sogar sagen, Anders Breivik hat genau das Gegenteil von dem erreicht, was er vermutlich erreichen wollte?

Hansen: Ja, was er nun eigentlich erreichen wollte und was er sagt, das er erreichen wollte, das mögen zwei unterschiedliche Dinge sein. Aber ich möchte nicht zu spitzfindig sein. Also ich würde sagen, die beste Strafe oder Rache oder Wiedergeltung vonseiten der Gesellschaft an ihm ist ja, zu zeigen, dass er mit seinen Gräueltaten nichts, aber wirklich nichts erreicht hat. Ob er das Gegenteil nunmehr erschaffen hat, das wissen wir noch nicht. Es ist ja so, dass ... Ein Jahr ist ja eigentlich keine so lange Zeit, und in Norwegen waren, muss ich sagen, diese letzten zwei Monate, die waren eigentlich ganz kurz, so kamen sie uns vor.

Kassel: Wenn wir jetzt darüber sprechen, dass man wahrscheinlich nie erfahren wird, was Anders Breivik wirklich gedacht hat, dann sind wir ja schon bei dem Gerichtsprozess gegen ihn, der vor knapp einem Monat erst mal abgeschlossen wurde, das Urteil kommt voraussichtlich am 24. August. In diesem Prozess durfte Breivik recht ausführlich reden, er durfte recht ausführlich und oft von der Richterin nicht unterbrochen seinen kruden Standpunkt der Dinge darstellen. Und wenn ich mich richtig erinnere, gab es an diesem Umgang mit ihm auch durch die Richterin durchaus Kritik in Norwegen während des Prozesses. Jetzt, wo der Prozess abgeschlossen ist - muss man da sagen, es war richtig, ihn so viel reden zu lassen?

Hansen: Ja, inzwischen denke ich, dass die meisten eben zu diesem Gesichtspunkt gekommen sind. Man hat ihn reden lassen, das war ja auch sein Recht, im Prozess reden zu dürfen, und es war, denke ich, für das Gericht wie für die Gesellschaft wichtig, dass hier alles nach dem Buch sozusagen, also nach dem konventionellen, ganz normalen Muster einer Gerichtsverhandlung stattfinden sollte. Denn niemand soll in Zukunft, also im Nachhinein sagen können, dass hier zu viele Ausnahmen oder Sondervorgänge gemacht worden seien.

Kassel: Wie wichtig wird denn das Urteil nun noch sein, wenn es Ende August verkündet wird, für Norwegen?

Hansen: Schwer zu beurteilen. Also die Schlussfolge kennen wir ja: Er kommt nie wieder auf die Straßen, er bleibt irgendwie im Knast sitzen. Ob das nun ein psychiatrischer Knast oder ein Gefängnis ist, das wissen wir ja noch nicht. Es folgt ja womöglich nächstes Jahr schon ein Appellprozess, je nachdem. Inwiefern das Urteil wichtig wird - tja, ich denke, für einige, besonders für diejenigen, die direkt betroffen sind, ist es wohl wichtiger als für uns andere, wie er nun beurteilt und verurteilt wird von dem Gericht. Aber als Schlussfolge, das ist wohl nicht so wichtig, wie man da konkludiert, so jetzt schätze ich das jedenfalls im Moment ein.

Kassel: In diesem Prozess, es ist ein Strafgerichtsprozess, ging es ja nur um die Schuld von Breivik. Es gibt ja noch andere Fragen, die sich stellen, gerade was die Ereignisse in Utoya angeht. Es gibt einen Untersuchungsausschuss, der die Rolle der Polizei beleuchtet und sehen soll, ob da Fehler gemacht wurden. Darüber wird in Deutschland relativ wenig berichtet. Spielt das noch eine große Rolle in Norwegen?

Hansen: Das wird wichtiger oder jedenfalls genauso wichtig. Etwa am 13. oder 14. August wird das Gutachten dieses Ausschusses erwartet, und die Vorsitzende des Ausschusses hat schon angekündigt, dass ... In diesem Gutachten werden Einzelpersonen womöglich direkt kritisiert. Das ist nicht, sagen wir mal, gewöhnlich in unseren kleinen skandinavischen Gesellschaften, dass in solchen öffentlichen Untersuchungen, Rapporten und so weiter Einzelmenschen hervorgehoben werden. Das kommt äußerst selten vor. Man kann sich ... Ja, was man sich darunter vorstellen soll, ist ja, wird da nur Spekulation. Aber es könnte womöglich mit der Handhabung des Geschehens vonseiten der Polizei am 22. Juli letzten Jahres zu tun haben.

Kassel: Der Schriftsteller Erik Fosnes Hansen über Norwegen ein Jahr nach den Massenmorden vom 22. Juli 2011. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Hansen: Bitte!

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Der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen.© picture alliance / dpa / Stefan Hallin
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