"Alle Maßnahmen der Gesellschaft kommen uns unzulänglich vor"

Erik Fosnes Hansen im Gespräch mit Katrin Heise · 16.04.2012
Für den mutmaßlichen Massenmörder Anders Behring Breivik erscheint nach Ansicht des norwegischen Schriftstellers Erik Fosnes Hansen sowohl das Gefängnis als auch lebenslange psychiatrische Behandlung inadäquat. Was er getan habe, sei "total unmenschlich" und "total böse", sagte der Autor.
Katrin Heise: Seine Tat hat Norwegen erschüttert und wohl auch verändert: Die vermeintliche Sicherheit ging verloren, als Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 77 Menschen tötete. Zuerst schlug er in Oslo zu, dann auf der Ferieninsel Utoya. Er wusste, was er tat, sagt ein neues psychiatrisches Gutachten, das am vergangenen Dienstag in Oslo vorgelegt wurde. Damit gibt es nun zwei sich widersprechende Expertenmeinungen über den psychischen Gesundheitszustand von Breivik. Eine erste Untersuchung hatte ihm im November paranoide Schizophrenie attestiert und ihn für unzurechnungsfähig und somit eben auch nicht schuldfähig erklärt. Das Gericht im heute beginnenden Prozess wird über Breiviks Gesundheits- und Geisteszustand entscheiden müssen. Erik Fosnes Hansen ist einer der bekanntesten Schriftsteller Norwegens, er lebt in Oslo und ich konnte ihn vor der Sendung erreichen. Guten Tag, Herr Hansen!

Erik Fosnes Hansen: Guten Tag!

Heise: Wie bereitet man sich denn auf den Prozess quasi vor, auf den alle Norweger warten? Wie ist die Stimmung?

Fosnes Hansen: Man bereitet sich vor allem auf die Erklärung vor. Denn es ist zu erwarten, dass er nicht bereuen will, sondern er will wahrscheinlich erklären, dass er nur das bereut, dass er nicht weitere, mehr Menschen getötet hat. Angenehm wird das nicht, und es wird wahrscheinlich sehr provozierend, was er zu sagen hat. Und er wird gegen viele Gefühle dagegenstoßen, würde ich sagen.

Heise: Man sprach ja nach der Tat von einem nationalen Trauma. Wie würden Sie denn den Zustand der Gesellschaft heute beschreiben, hat sich Norwegen davon so ein bisschen erholt, oder hat Breivik eine Wunde aufgerissen, die, ja, die eigentlich gar nicht mehr zu schließen ist?

Fosnes Hansen: Na ja, es ist beiderlei, denke ich. Also, einerseits ist ja schon wieder Alltag geworden, muss ja sein, und das Leben geht weiter und die Gesellschaft, die von ihm so gehasste norwegische, offene, demokratische Gesellschaft geht ja weiter. Natürlich sind wir immer noch alle davon geprägt. Es ist ein geografisch gesehen großes Land, aber eine kleine Gemeinschaft mit wenigen Menschen, knapp fünf Millionen. Und in einer solchen Gesellschaft, die normalerweise ganz friedlich, ganz stabil, ganz ruhig ist, macht natürlich eine solche Tat eine furchtbare Wunde. Norwegen bleibt und ist dasselbe wie vorher und gleichzeitig nicht dasselbe.

Heise: Kommen wir mal zu den alles bestimmenden Gutachten: Das erste Gutachten hielt Breivik ja für nicht zurechnungsfähig und verursachte dann einen Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit, worauf das Gericht ein zweites Gutachten in Auftrag gegeben hat. Es erscheint so, als ob das Gericht dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben hat und deswegen dieses zweite Gutachten auf den Weg gebracht hat. Und das hat dann ja auch wie erwartet dem ersten jetzt widersprochen. Finden Sie das auch, hat das Gericht tatsächlich auf Druck der Öffentlichkeit reagiert?

Fosnes Hansen: Ja, klar. Das erste Gutachten wurde nicht nur wegen des Ergebnisses, sondern auch wegen der Methodik, die zugrunde lag, ganz stark kritisiert. Die ersten zwei Psychiater gingen an die Aufgabe in einer nicht zufriedenstellenden Art und Weise heran ...

Heise: ... was wurde denn in Zweifel gezogen, wo haben sie denn nicht den Richtlinien entsprochen?

Fosnes Hansen: Ja, zum Beispiel haben sie ihn nicht voneinander unabhängig beobachtet, sondern sie waren immer zu zweit bei ihm. Zweitens hat man da bei den Gesprächen mit dem Psychiatern, haben die Psychiater wohl aus Gewohnheit - und das ist ein bisschen schockierend - keine Aufnahmen gemacht, also weder Ton noch Bild, sondern sie stützen sich nur auf ihre Notizen. Es wird dann schwierig für andere, spätere Experten zu beurteilen, ob die Observationen richtig gewesen sind oder nicht. Daher hat natürlich das Gericht entschlossen, ein zweites Gutachten zu bestellen. Und dies ist unter mehr kontrollierten und mehr umfassenden Umständen gemacht worden. Es ist wichtig zu erinnern, dass weder die Staatsanwaltschaft noch die Verteidiger, als das erste Gutachten vorgelegt wurde am 27. November vergangenen Jahres, da hatten sie keine Einsprüche dagegen. Niemand bezweifelte eigentlich zuerst, dass die Diagnose richtig war. Das gilt auch für den Verteidiger, der jetzt ab Montag für das Umgekehrte plädieren will vor Gericht, und zwar, dass Breivik gemäß dem zweiten Gutachten tatsächlich gesund ist, dass er nicht geistesgestört ist, dass er im Tataugenblick zurechnungsfähig war.

Heise: Der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen zum Prozessauftakt heute gegen Anders Behring Breivik. Herr Hansen, Sie selber stimmen ja dem ersten Gutachten zu, also nicht zurechnungsfähig. Warum?

Fosnes Hansen: Ich stimmte jedenfalls zu, als das erste Gutachten vorgelegt wurde. Jetzt ist es Aufgabe des Gerichts zu entschließen, welche Diagnose die richtige ist. Denn man muss aufpassen: Auch das zweite Gutachten setzt voraus, dass er geistig gestört ist. Also, er wird nicht als total normal bezeichnet in diesem zweiten Gutachten, sondern man nennt ihn Psychopath, er wird als Narzisst diagnostiziert, man sagt, er hat grandiose Wahnvorstellungen und so weiter. Also, es ist nicht die Frage, ob er krank ist, sondern wie krank er ist und ob diese Krankheit psychotisch ist in dem Maße, dass er als unzurechnungsfähig im juristischen Sinne gerechnet werden muss. Aber es ist wohl allen klar, den Psychiatern, dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und der norwegischen Öffentlichkeit inzwischen, dass er nicht ganz gesund ist, er ist nicht ganz normal. Er hat zum Beispiel überhaupt keine Empathie mit seinen Mitmenschen. Es scheint durch seine Aussagen so zu sein, als ob er gar nicht weiß, was das heißt. Durch sein Auftreten kommt ein Bild von einem tief gestörten Menschen empor, der kein wirkliches Verständnis von der gesellschaftlichen Realität, von der geschichtlichen Realität hat.

Heise: Wenn man die Berichterstattungen in den deutschen Medien verfolgt, hat man den Eindruck, die Mehrheit der Norweger ist gegen dieses Urteil, unzurechnungsfähig. Warum, würden Sie sagen, ist das für die norwegische Gesellschaft so unerträglich, dass er unzurechnungsfähig und deswegen nicht schuldfähig wäre?

Fosnes Hansen: Ja, ich denke schon, es liegt schon ein Element von Wut darin. Und das kann ich auch selbst spüren. Und man hat ja wohl auch das Gefühl, durch eine Diagnose, durch eine, sagen wir mal, Somatisierung des ganzen Geschehens, wird auch seine Ideologie irgendwie freigesprochen. Und auch seine, sagen wir mal, ideologischen Mitläufer und Zulieferer. Und sie haben sich inzwischen mehr oder weniger selbst auch im Internet freigesprochen dadurch, dass sie darauf zeigen können, ja gut, also, der Breivik, der war ein Spinner, und wir machen jetzt mit unserem ideologischen Hasskram weiter.

Heise: Aber kann man das tatsächlich durch ein Gerichtsurteil eindämmen, das Umfeld, in dem seine Gedanken publiziert wurden, in dem die Ideen wuchsen, eben das Internet? Das wird ja durch ein Urteil nicht eingeschränkt. Sie haben vorhin über die Offenheit und über quasi den Angriff auch auf die norwegische Offenheit gesprochen. Hat sich die Einstellung der Norweger beispielsweise zum Internet verändert?

Fosnes Hansen: Nein, ich denke nicht. Nur die Frustration in der Gesellschaft ist immens, und wir erleben wohl jetzt alle, dass eigentlich keine Reaktionsform ganz adäquat wäre ihm gegenüber. Also, weder Gefängnis, noch lebenslängliche psychiatrische Behandlung. Denn was er getan hat, ist so total unmenschlich, so total böse, dass es eigentlich, ja, alle Strafreaktionen, alle Maßnahmen der Gesellschaft kommen uns unzulänglich vor.

Heise: Ja, letztendlich lassen sich Wahnvorstellungen ja auch nicht wegsperren, vor allem im, wie gesagt, im Internet nicht, und auch ein Klima, in dem sie gedeihen können, lässt sich nicht wegsperren. Sie haben ja auch von den, ja, von den "Unterstützern", in Anführungsstrichen, gesprochen. Wie kritisch geht die norwegische Gesellschaft eigentlich mit sich ins Gericht, anlässlich dieses Falls?

Fosnes Hansen: Ich habe das Gefühl, dass etliches sich tatsächlich geändert hat. Zum Beispiel hatten wir, oder haben wir, wie die meisten anderen westeuropäischen Staaten, eine rechtspopulistische Partei, die viel von Angst gegen Einwanderung profitiert hat. Es ist deutlich spürbar, dass die Rhetorik in dieser Partei sich in den Monaten seit dem 22. Juli geändert hat, gemildert hat. Es bleibt zu hoffen, dass es in Zukunft auf einer mehr reflektierten Ebene so weitergeht. Denn natürlich, es ist durchaus legitim, alle Themen in einer Demokratie zu diskutieren, auch Einwanderung. Die Frage ist nur, auf welche Art und Weise diskutiert wird. Und ich glaube, man hat schon verstanden: Es geht eine Brücke von der primitivsten Rhetorik hin zu Gewalttaten. Und ich sage damit nicht, dass diese Partei sich für seine Taten in irgendwelcher Art und Weise verantwortlich vorkommt, aber sie haben ganz deutlich eine Rechenschaft mit sich selbst gemacht und die Rhetorik ist jetzt anders. Ich denke schon, dass diese enorme nationale Tragödie zu einer Reflexion, zu einem Nachdenken, zu einem Besinnen bei vielen, vielen Norwegern geführt hat.

Heise: Veränderungen in der norwegischen Gesellschaft, beobachtet von dem Schriftsteller Erik Fosnes Hansen. Vielen Dank, Herr Hansen!

Fosnes Hansen: Bitte sehr!

Heise: Auf Deutsch erschien von Erik Fosnes Hansen übrigens der Roman "Das Löwenmädchen". Der Prozess gegen Anders Behring Breivik, der wird heute eröffnet in Oslo. Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Mehr zum Thema bei dradio.de: