Hans Wolfgang Kölmel: "Charité 91"

Als erster West-Arzt an der Charité

09:48 Minuten
Blick von West-Berlin aus auf die Baustelle des chirurgischen Zentrums der Charité, im Bildvordergrund Gedenkkreuze für die Mauertoten.
Der Hochhausbau der Charité hatte so viel Geld verschlungen, dass eine Renovierung der anderen Gebäude nicht möglich war. © Picture Alliance / Günter Bratke
Hans Wolfgang Kölmel im Gespräch mit Florian Felix Weyh · 09.11.2019
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Anfang 1991 wechselt Hans Wolfgang Kölmel als erster Westberliner Arzt in die Osthälfte der Stadt, an die Charité. "Eine Arbeit mit vorprogrammierten Konflikten", schreibt er in seinem Buch "Charité 91". Denn dort war er alles andere als willkommen.
Florian Felix Weyh: Wir gehen zurück in der Geschichte, nicht 30, sondern knapp 29 Jahre, denn Anfang 1991 wechselte ein Mediziner im besten Karrierealter als erster Westberliner Arzt in die Osthälfte der Stadt über an die berühmte Charité. Dort wurde er kommissarischer Direktor der Neurologie und war, sagen wir mal so, nicht auf Anhieb willkommen, sondern wurde eher misstrauisch beäugt.
Wie sich die ersten Monate als Fremder in einer fremden Welt anfühlt, hat er nun erst doch mit ziemlicher Verzögerung aufgeschrieben und sitzt mir jetzt gegenüber: Hans Wolfgang Kölmel.
Herr Kölmel, ist das denn so, dass Sie die Aufzeichnungen "Charité 91. – Schritte in eine neue Zeit" erst jetzt verfasst haben oder lagen die einfach nur bei Ihnen in der Schublade? Der Text liest sich nämlich tatsächlich so, als wäre das ganz frisch, quasi gestern erlebt.
Kölmel: Also ich habe damals schon etliche Aufzeichnungen gemacht, weil ich dachte, das ist so außerordentlich, das darf ich niemals vergessen. Hinzu kommt, dass sich etliche Ereignisse derartig eingebrannt haben in mein Gedächtnis, dass sie dort auch heute nicht mehr rausgehen.
Weyh: Die Initialzündung war ein Artikel im Berliner "Tagesspiegel", und dann haben Sie einen Brief an den Wissenschaftssenator geschrieben.
Kölmel: Ja, das ist richtig. Ich habe – ich glaube, das war Januar, wahrscheinlich im "Tagesspiegel", Januar '91 – einen Artikel gelesen, wo man darüber berichtete, dass ein schlimmer Exodus speziell von Ärzten aus der ehemaligen DDR zu beklagen sei und auch in Ostberlin, und ich dachte, da sowieso auch in Westberlin alles durcheinander war: Ach, wer weiß, ich schreibe mal einen Brief, und das war dann direkt an den damaligen Wissenschaftssenator Manfred Erhardt. Ich war extrem erstaunt, nach kurzer Zeit kam eine Antwort, wunderbar, gute Idee, melden Sie sich bei dem Dekan der Charité. Damit war ich dann sozusagen dran.

Nicht willkommen als Westler

Weyh: Ein Zitat: "Eine Arbeit an allen Fronten mit vorprogrammierten Konflikten." Sagen Sie mal spontan, was zwei, drei der vorprogrammierten Konflikte dann waren.
Kölmel: Ich war mir sehr schnell im Klaren, dass ich, sagen wir mal, nicht willkommen war, und warum muss jetzt einer aus dem Westen uns sagen, wo es langgeht, und wieso sind wir darauf angewiesen, dass ein Westler hier diese wichtige Position einnimmt, und ist der mit Sicherheit doch da drüben nicht gelitten oder etwa zweite oder dritte Wahl. Das habe ich sehr schnell gemerkt, dass das in den Köpfen etwas war.
Gang in einem alten Gebäude der Charité Berlin, in der die Psychiatrie untergebracht ist.
Die alten Gebäude der Charité, wie hier die Abteilung für Psychiatrie, waren Anfang der 1990er-Jahre in sehr schlechtem Zustand.© Picture Alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Dazu kam, dass gerade das Jahr '91 mit solchen Irritationen behaftet war. Da war einmal die Sache des Rektors, der sich als Stasi entpuppte, und keiner glaubte das, ich auch nicht. Dann war die Frage der Abwicklung der Charité. Das ging etwa zwei, drei Monate, prompt in der Zeit, in der ich dort war. Da ich nun dort neu war, haftete von all diesem auch etwas an mir: Ist der etwa schuld oder zum Teil schuld, oder berichtet er, wie schlimm es hier aussieht, nach drüben, um dann dort für die Material zu haben und so weiter.
Weyh: Wie schlimm sah sie denn aus, die Charité 1991, das Renommier-Krankenhaus der DDR?

"Es war bejammernswert"

Kölmel: Also, mein zweiter Gang, der war diese alte Charitéstraße entlang, wo rechts die wunderschönen Gebäude der inneren Medizin lagen, und ich war erstaunt, dass die also sowas von verwahrlost aussahen, auch eingeschmissene Fensterscheiben, sodass ich dann fragte, was ist denn hier los. Ja, die sind leergezogen.
Das heißt, die waren schon Monate, wahrscheinlich auch Jahre leergezogen, weil das Hochhaus, das chirurgische Gebäude, wohl derart viel Geld verschluckt hatte, dass keine Möglichkeit mehr war, diese Gebäude zu renovieren. In der Neurologie und Psychiatrie war es so, dass diese alten Gebäude zwar nicht geräumt worden waren, aber das Innere war dann doch – ich wagte das nie zu sagen, aber im Buch habe ich es dann doch gesagt: Es war bejammernswert.
Weyh: Und dadurch entsteht ein Zentralkonflikt. Sie kommen und sagen mit ihren Standards, die Toiletten, das geht nicht, das muss sofort gemacht werden. Der Renovierungsstau war aber so groß, dass natürlich sofort es hieß: Ach, da kommt der aus dem Westen, und er kriegt jetzt Sonderrechte, weil sein Klo wird gemacht.
Kölmel: So war es, und es wurde dann nach einem Weststandard gemacht, und dann war man natürlich bestürzt, dass die Krankenzimmer noch weiterhin den alten Standard hatten und er da kommt, und im Handumdrehen kriegt er ein wunderbares Zimmer.
Weyh: "Ich war, was ich bis dahin noch nicht in vollem Umfang realisiert hatte, als Brückenkopf einer allgemeinen Landnahme gedacht." – Wow, eine militärische Metapher. Stimmt das? Sollten Sie sozusagen das Feld freiräumen für die Westärzte?

Führende Stellen durch Westprofessoren besetzt

Kölmel: Also, den Begriff habe ich später gewählt, ohne zu wissen, dass es tatsächlich so abgelaufen ist. Die Ostprofessoren – ich nenne sie mal so – hatten ja keinerlei Chance, im Wissenschaftsbetrieb in irgendeiner Weise gleichzuziehen mit den Westlern. Dort galt ja sowas wie "Impact Factor", "Citation Index", alle diese schlimmen wissenschaftlichen Begriffe, die dann Grund waren für irgendwelche Berufungen.
Da fielen die alle über Bord, also ein Großteil, sodass zum Schluss, als ich dann schon die Charité verlassen hatte, also sicher 80 oder 90 Prozent der führenden Stellen durch Westprofessoren besetzt waren. Das fand ich dann doch erstaunlic,h beziehungsweise eigentlich auch eine Portion ungerecht.
Weyh: Diese Ungerechtigkeit kommt jetzt plötzlich, ich sage plötzlich, weil man hätte schon viel früher damit rechnen können, nach 30 Jahren sehr deutlich zum Vorschein, die Unzufriedenheit damit, was nach der Wende gelaufen ist.
Die Publizistik jetzt im Jahr 2019 bezüglich der Wende ist eine ganz andere als vor zehn Jahren, nämlich eine, die die Fehler des Westens aufrechnet. Haben Sie denn schon, da Sie nun in einer Situation sind, quasi da wirklich ein bisschen kolonialherrenartig, Sie kommen in ein fremdes Land wie ein Entwicklungshelfer und bringen materielle Dinge mit, stoßen etwas an. Haben Sie denn schon Gegenwind gekriegt auf diese Publikation, so nach dem Motto: Da sieht man mal wieder, der arrogante Westler mit seinen Erinnerungen?
Kölmel: Ich habe bis jetzt eine Lesung gehabt, da waren auch Menschen aus dem Osten, die auch zufälligerweise an der Charité studiert hatten, die waren nicht begeistert. Die sagten, das sei überzeichnet, das stimmt gar nicht, es war wunderbar und wir haben eine ausgezeichnete Ausbildung bekommen.
Dass sie sicher eine sehr gute Ausbildung bekommen hatten, das stimmte, aber sie kamen auch vom Hochhaus, also von diesem Neubau, und da war natürlich auch einiges anders, was Betten und Ausrüstung anbelangt, als in diesen alten Kliniken beziehungsweise dann auch in der Neurologie und Psychiatrie, wo ich gearbeitet habe.

Kampf um neue West-Betten

Weyh: Apropos Betten, da gibt es eine Szene, die ist so bizarr: Sie schaffen es dann, zehn neue Westbetten zu bekommen für Ihre Abteilung, und dann geht das gegenseitige Geklaue los.
Kölmel: Ja, das war also eine Schlüsselszene. Ich habe nicht zehn, sondern vierzig Betten bestellt und war schon mal erstaunt, wie unbürokratisch das ablief, denn es war sicher eine Bestellung mit Nachtkästen und Matratzen, alles vielleicht 250.000 Mark damals. Hat geklappt.
Das hat dann zur Freude in meiner Klinik beigetragen, aber alle anderen waren mehr als eifersüchtig. Ich habe später von Schwestern mitgeteilt bekommen, dass sie tagtäglich aufpassen mussten, dass nicht ein Bett abhanden kam, das sich dann irgendeine andere Abteilung unter die Nägel gerissen hat.
Collage mit dem Buchcover von Hans Wolfgang Kölmels "Chaité 91".
1991 war Hans Wolfgang Kölmel als erster westdeutscher Arzt an der Ostberliner Charité nicht willkommen.© Osburg Verlag
Weyh: Haben Sie, bevor Sie das veröffentlicht haben, was Sie jetzt geschrieben haben, juristischen Beistand gesucht und sich versichern lassen, dass das, was da auch beschrieben wird, nämlich, heute würde man sagen: Bestechung und ein bisschen Unterschlagung von Ihrer Seite, also bestochen werden von der Pharmaindustrie, dass das verjährt ist?
Kölmel: Also das ist eine lange Diskussion darüber. Die Frage, die ist berechtigt. Ich habe tatsächlich das Buch schon einem renommierten Juristen mal durchkämmen lassen, und es sind viele Dinge verklausuliert, andere sind ganz deutlich, wo gesagt wurde, das kann ruhig so gesagt werden, auch was der juristisch schwierige Akt etwa der Beschaffung oder der Rüberschaffung von Gegenständen, da meinte man, das ist wahrscheinlich jetzt verjährt. Auch das nachzuforschen, wie das genau abgelaufen ist, das wird niemand mehr feststellen können. Da besteht auch wohl kein Interesse mehr.

"Ich dachte, jetzt hole ich raus, was rauszuholen ist"

Weyh: Aber die deutsche Pharmaindustrie hat Sie tatkräftig unterstützt, zum Beispiel ein Handy Ihnen gegeben, hat Ihnen Stühle für die Bestuhlung und sowas beschafft. In der Notlage sehr willkommen, aber heute würde man sagen, das geht nicht.
Kölmel: Das geht gar nicht, ja. Ich muss dazu sagen, damals war die Einstellung dazu noch etwas schwierig. Aber ich war im Osten und ich dachte, jetzt hole ich raus, was rauszuholen ist, und wenn die mir alles angeboten haben, dann habe ich das auch gerne angenommen.
Es war sicher weit über dem, was erlaubt war. Die hatten allein das Interesse, über die Charité, über diesen Namen mit ihren Medikamenten in den Markt zu kommen, was auch erst mal nachzuvollziehen ist, aber in der Form mit Geschenken geht das natürlich gar nicht oder wäre auch damals nicht gegangen. Ich habe es angenommen, weil ich dachte, das ist jetzt ein gerechter Ausgleich zwischen Ost und West.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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