Hans Thill: "Der heisere Anarchimedes"

Wanderungen durch die Welt der Einbildungskraft

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Buchcover zu Hans Thill: "Der heisere Anarchimedes"
Eine Theorie des leichten Gehens über Dächer entwirft Hans Thill in seinem Gedichtband "Der heisere Archimedes". © Poetenladen/Deutschlandradio
Von Nico Bleutge · 05.08.2020
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Der Dichter Hans Thill schreibt surreale und zugleich einfache Verse, die viel Raum für die Vorstellungskraft lassen. Aber auch eine rebellische Unterströmung wird immer wieder sichtbar – wie schon der titelgebende "Anarchimedes" zeigt.
In einem seiner Gedichte entwirft Hans Thill eine "Theorie des leichten Gehens über Dächer". Und wie es sich für ein Gedicht gehört, ist diese Theorie alles andere als trockene Abstraktion. Ja, nicht einmal um eine Theorie im eigentlichen Sinne handelt es sich, eher um ein locker gefügtes Ensemble von Sätzen, in dem Hunde Fische sein können und Tannen neben Schnupftüchern und "schnurrigen Automaten" stehen.

Blitze der Assoziation

Der Dichter Hans Thill schreibt wundersam surreale Verse, die ganz einfach daherkommen und uns doch gerade so die Freiheit lassen, in die Welt der Imagination abzudriften. In loser Anlehnung an Lautréamonts Bonmot, etwas könne schön sein "wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch", erlaubt er seinen Gedanken, über die Dächer der Einbildungskraft zu gehen. Eben noch ist die Erde "ein Gestöber/zänkischer Insekten", schon erfahren wir, wo das Wasser steigt, und hören Sänger und "Nachttrommler mit Fahnen". Seziertische verwendet Hans Thill vor allem, um den Klang und den Rhythmus der Wörter zu untersuchen. Das Bild des Nähens wiederum taucht in einer ironischen Umschreibung der Kriemhild-Figur auf, die hier eine "Nixe aus Nichts" ist und "ins Nähzeug" sticht.

Hören Sie hier auch Hans Thills Hörspiel "Brot für die Fische"

In dieser Art, ohne logische oder kausale Verbindungen, einzig zusammengehalten von den Blitzen der Assoziation, ist der ganze Band angelegt. Der titelgebende Anarchimedes ist dabei so etwas wie ein Gegen-Archimedes, einer jedenfalls, der im Schreiben gerade keinen archimedischen Punkt hat, von dem aus er alles fest in den Blick und in die Sprache nehmen könnte. Eher vertraut er dem Zufall, um "noch einen Schritt in der Luft zu machen", und bewundert die Wespe, aggressive Variante jener Biene, die seit der Antike ein Bild für den Schreibenden ist. Was die Wespe kann? Sie kann "rückwärts in ihren Bau gehen".

Rebellische Unterströmung

Doch das Spiel mit den Sätzen ist bei Thill mehr als bloßes Spiel. In viele Gedichte ist auch eine historische Schicht eingezogen, die kritisch reflektiert wird, sie mag in Form einer "Kehre aus dem Gedächtnis" erscheinen oder als "Butterbergbetrug". Und Anarchimedes versteckt zugleich einen Anarchisten in sich. Eine rebellische Unterströmung wird immer wieder spürbar, die sich schon in Gedichttiteln wie "Look like Bakunin" oder "Mit Krapotkin" zeigt. "Die Eroberung des Brotes" heißt Kropotkins bekannteste Schrift – so wundert es kaum, dass Thill zahllose Brotmotive und -wörter zwischen die Zeilen streut, das "zahnlose Brot" etwa oder die gewitzte Hölderlin-Anspielung: "Wie Brote hingen die Birnen/ins Wasser".
Von Rimbaud bis zu César Vallejo reichen die Anleihen, von Gertrude Stein über Rosmarie Waldrop bis zu Friederike Mayröcker. Dass Thill seine Stoffe nie ausstellt – einerlei, ob er mit biografischen Lesarten spielt oder Falco mit John Donne und Franck Ribéry mixt –, macht seine poetische Kunst aus. Zu "Wagnis" und "Abenteuer" müsse der Dichter bereit sein, meinte einst der Surrealist Benjamin Péret. Von beidem lässt sich in Hans Thills Gedichten reichlich finden.

Hans Thill: "Der heisere Anarchimedes". Gedichte
Poetenladen, Leipzig 2020
111 Seiten, 18,80 Euro

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