Hans Rothfels

Begründer der modernen Zeitgeschichtsschreibung

Der Historiker Hans Rothfels auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1961.
Der Historiker Hans Rothfels auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1961. © picture alliance / dpa
Von Otto Langels |
Hans Rothfels war einer der bekanntesten Historiker der frühen Bundesrepublik. Er etablierte die Zeitgeschichte als anerkannte historische Teildisziplin und publizierte ein Standardwerk über den Widerstand gegen das NS-Regime. Vor 125 Jahren wurde er geboren.
"Die Aufgabe des historischen Verstehens, also des Sich-Hineinversetzens in die Lage der Handelnden wie der Leidenden, kann durch die Situation des Mitlebens erheblich erleichtert werden. Wir brauchen uns in den Geist der Epoche nicht aus der Ferne einzuleben."
Mit diesen Sätzen begründete Hans Rothfels im Jahr 1953 die moderne Zeitgeschichtsschreibung als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich aus unmittelbarer Anschauung mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigt. Rothfels war einer der einflussreichsten westdeutschen Historiker der Nachkriegszeit, Kollegen nannten ihn "eine Lichtgestalt".
Geboren wurde er am 12. April 1891 in Kassel. Sein Vater, ein Rechtsanwalt, war Vorsteher der Jüdischen Gemeinde. Der Sohn konvertierte 1910 zum Protestantismus. Er studierte Geschichte, zunächst in Freiburg und München, dann in Berlin bei dem hoch angesehenen Friedrich Meinecke, ein akademischer Lehrer, der ihn maßgeblich beeinflusste. Zu dessen 90. Geburtstag im Jahr 1952 hielt sein inzwischen renommierter Schüler Hans Rothfels die Laudatio.
"Sie gaben der Geschichtsschreibung einen neuen Impuls, der nicht so sehr auf epischer Erzählung, auf künstlerischem Genuss oder patriotischer Erbauung, als vielmehr auf geistige Durchdringung des Politischen zielte."

Fokus auf dem ostmitteleuropäischen Raum nach 1918

Worte, die auch auf Rothfels selbst zutrafen. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlor er im November 1914 bei einem Unfall an der Front ein Bein. Seine akademische Laufbahn führte über eine Stelle beim Reichsarchiv in Potsdam auf einen Lehrstuhl für Geschichte an der "Grenzlanduniversität" Königsberg.
In seinen historischen Forschungen beschäftigte er sich insbesondere mit dem ostmitteleuropäischen Raum nach 1918. Rothfels trat für eine politische Neuordnung in der Vielvölkerregion ein. Seine damaligen Überlegungen skizzierte er noch einmal 1955.
"Mit Notwendigkeit führte das zu einem Neudurchdenken gesellschaftlicher, politischer und nationaler Lebensformen. Es ging bei diesen Gedankengängen weniger um Revision der Grenzen als um Revision der Gesinnungen."
Über diese Gedankengänge brach vor gut einem Jahrzehnt unter Historikern eine erbitterte Debatte aus. Kritiker charakterisierten Rothfels als "Totengräber der Weimarer Republik", der eine kulturelle Überlegenheit der Deutschen im Osten proklamiert und damit der rassistischen Expansionspolitik Hitlers Vorschub geleistet hätte. Verteidiger konzedierten einen "Revisionismus der besonderen Art", sahen in ihm aber keinen Wegbereiter des NS-Regimes.

Hans Rothfels: Profilierter akademischer Lehrer

Trotz seiner nationalkonservativen Einstellung musste Hans Rothfels 1934 seinen Lehrstuhl wegen seiner jüdischen Herkunft räumen. Rothfels konnte den sozialen Abstieg durch einige Forschungsaufträge noch einige Zeit hinauszögern, ging dann aber 1939 nach England und ein Jahr später in die USA, wo er an der Brown University und der University of Chicago lehrte. 1951 nahm er einen Ruf an die Universität Tübingen an. Mit ihm gewann die durch den Nationalsozialismus diskreditierte Historikerzunft wieder an Ansehen.
"Wir stehen noch mitten in der Revision der damals angerichteten Verwüstung, in einer Revision nicht nur der offenbarsten Fehlurteile und primitivsten Verfälschungen, sondern auch in der Aufgabe einer Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit historischen Denkens, die durch propagandistischen Missbrauch so schwer diskreditiert worden sind."
Rothfels etablierte die Zeitgeschichte als anerkannte historische Teildisziplin und publizierte ein Standardwerk über den Widerstand gegen das NS-Regime.
"In ihm offenbarte sich am deutlichsten und sinnfälligsten das andere Deutschland, dass es in dunkelsten Stunden Männer und Frauen gab, die bereit waren, nur der Stimme des Gewissens zu folgen und mit Einsatz ihres Lebens dem Unrecht zu widerstehen."
Hans Rothfels' Ruf gründete sich nicht nur auf seine Tätigkeit als Wissenschaftler und hochdekoriertes Akademiemitglied; wie sein Mentor Friedrich Meinecke profilierte er sich auch als akademischer Lehrer. Zu seinen Schülern zählen unter anderem die Historiker Hans Mommsen und Heinrich August Winkler. Rothfels starb 1976 in Tübingen.
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