Hannover

Allerlei "Verhältnisse"

Herrenhäuser Gärten in Hannover
Die Herrenhäuser Gärten in Hannover © dpa / picture alliance / Peter Steffen
Von Volkhard App |
Die Kunstfestspiele bieten in den Barockanlagen von Herrenhausen Literatur, Theater, zeitgeschichtliche Reflexion, moderne Musik zu Stummfilm-Klassikern − und aus aktuellem Anlass auch rhetorische Dribblings.
Mit Kurzpassspiel und rhetorischen Dribblings näherten sich die Teilnehmer im Tagungsraum des Schlosses dem bevorstehenden Ausnahmezustand, der den Namen "Fußballweltmeisterschaft" trägt. Dabei schaute Sporthistoriker Kay Schiller sogar zurück: nein, nicht auf 1954, aber doch auf '74, als die WM von der Politik noch nicht so hofiert wurde − anders als heute, da "Mutti" vor Kameras im Stadion jubelt. Die Auseinandersetzung mit '74 schärft den Blick auf Vieles, was den Fußball bis heute belastet:
"Um zu erkennen, wie alles angefangen hat, Geld anfing, richtig zu fließen, Stars geboren wurden, die Weltmeisterschaft zum Mega-Ereignis aufstieg − da ist 74 ein ganz zentrales Durchgangsturnier. Es lohnt sich in jedem Fall, sich damit zu beschäftigen."
Kritisch äußerte sich auch der ehemalige Torwart Bernd Franke, der der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 82 angehörte:
"Es geht fast nur noch ums Geld: ob Afrika, Katar oder Brasilien. Der Außenstehende sieht es so, ich auch. Man muss nicht in Länder gehen, wo alles aufgebaut und nachher nicht mehr genutzt wird. Man stellt Stadien hin, die später kein Mensch mehr braucht."
Die große Erfolgsgeschichte des Fußballs in Lateinamerika beleuchtete Stefan Rinke: Fußball als Fetisch, als Gelegenheit des sozialen Aufstiegs, als nationale Identifikation. Wie aber soll sich die Politik hierzulande verhalten, und wie der Fan, wenn die Weltmeisterschaft in autoritären Staaten veranstaltet wird? Oder − wie jetzt − in einem von sozialen Gegensätzen zerrissenen Land? Kritik solle man schon üben, sagt Rinke, hält aber Distanz zur kommenden WM und zu Brasilien als demokratischem System für unangebracht:
"Ich denke, man muss unterscheiden zwischen Brasilien und Fällen aus der Vergangenheit wie Argentinien 1978. Heute sagt man, dass man da viel stärker hätte protestieren müssen und nie hätte hingehen dürfen. Wenn man aber mit Beteiligten aus jener Zeit spricht, merkt man, dass die damalige Wahrnehmung eine ganz andere war, dass man einfach nicht so gut informiert war wie heute, wo man die Dimensionen der Gewaltherrschaft kennt und sagt, dass es ein Unding war, 1978 in Argentinien eine Fußball-Weltmeisterschaft stattfinden zu lassen."
Ausblick auf ein Großereignis. Niemand sollte sich wundern, dass diese Vorträge mitsamt Gespräch, getragen von der Volkswagen-Stiftung, im Rahmen der Kunstfestspiele stattfanden. Denn dieses Festival versucht seit Beginn höchst unterschiedliche Themen, Medien und Künste miteinander zu verbinden − und bietet in den Barockanlagen Literatur und Theater, Bildende Kunst, zeitgeschichtliche Reflexion und sogar moderne Musik zu Stummfilm-Klassikern. Ein denkbar breites Spektrum.
Kontraste und Wagnisse
Mozarts unvollendetes Requiem mit dem Tölzer Knabenchor, von Christof Nel großflächig inszeniert – mit szenischen Sprengseln zu Gewalt und Tod und zur Hoffnung auf Erlösung. Ein Höhepunkt der ersten Tage.
Doch diese Festspiele sind eben eine Welt der Kontraste. Mozart und Buster Keaton, Schostakowitsch und Fußball-WM. Wie passt das alles unter einen Hut? Zumal am Wegesrand noch eine Klanginstallation von Paul Demarinis wartet, in der Wassertropfen auf die Regenschirme der Besucher treffen, wo sie bizarre Töne erzeugen.
Elisabeth Schweeger
Elisabeth Schweeger© dpa / picture alliance / Christoph Schmidt
Die Kunstfestspiele in Hannover-Herrenhausen sind ein Beispiel dafür, dass es sich lohnt, ein Wagnis einzugehen. Denn statt allein auf das Bewährte und Publikumswirksame zu setzen, hat Intendantin Elisabeth Schweeger hier etwas Neues probiert, hat für Überraschungen gesorgt, Tradition und Moderne ineinander verschränkt. Diese 5. Festwochen stehen unter dem etwas allgemein klingenden Obertitel "Verhältnisse":
"Ich habe zunächst an ‚schlampige Verhältnisse' gedacht, weil das so ein Begriff in Österreich ist. Verhältnisse heißt aber auch, dass es politische Bezüge gibt. Und das ist im Zusammenhang der hannoversch-britischen Personalunion ein Thema: dass zwei Länder über ihre Verwandtschaftsverhältnisse zueinander finden und miteinander können müssen. Für uns der Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit ‚Verhältnissen'. Und das bezieht sich dann auch auf Verhältnismäßigkeit, auf den politischen und familiären Raum und auf die Kunst."
Das Programm für das nächste Jahr ist bereits fertig, Elisabeth Schweeger aber, die in Ludwigsburg künftig die Theaterakademie leitet, hat sich bei der diesjährigen Eröffnung schon mal verabschiedet. Diese Festspiele waren wegen der Kosten und des nur allmählich gestiegenen Publikumszuspruchs Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Doch sie haben mit der Qualität des Programms an diesem historischen Ort Maßstäbe gesetzt:
"Ich denke, wir haben erreicht, dass diese Kunstfestspiele von der Politik gewünscht werden. Auch die Widersacher sind hier, sind erstaunt und begeistert. Wir haben hier etwas abgesetzt in den Herrenhäuser Gärten, was sich in dieser Konstruktion aus Kunst, Natur und Wissenschaft einfach gut einbettet. Und für die Zukunft wünsche ich mir, dass die Festspiele sehr viel besser noch honoriert und ausgestattet werden, so dass sie wirklich reibungslos mit hoher Qualität weiterlaufen können."
Homepage der Kunstfestspiele Herrenhausen
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