Hanne Ørstavik: "ti amo"

Liebeserklärung an einen Sterbenden

05:53 Minuten
Buchcover zu Hanne Ørstavik: "ti amo"
Wie kann man noch jemanden lieben, den man nicht mehr begehrt? Hanne Ørstavik geht dieser Frage in "ti amo" nach. © Deutschlandradio/Karl Rauch Verlag
Von Gabriele von Arnim · 04.10.2021
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Der Mann, den sie liebt, wird sterben. Er verschwindet allmählich. In Hanne Ørstaviks autobiografischem Roman hält eine Erzählerin ihre Lebensliebe und ihre widersprüchlichen Gefühle in schnörkellosen Beschreibungen fest.
Sie schreibt. Er stirbt. Sie muss festhalten, was geschieht und wie, denn mit ihm kann sie nicht reden über den Tod, den nun allgegenwärtigen Tages- und Nacht-Begleiter. Und so erzählt sie, was sie weiß und er nicht wissen will: dass er sterben wird.
Seit wenigen Jahren erst leben sie zusammen – die norwegische Schriftstellerin und ihr italienischer Verleger – und aus der so sehr ersehnten langen Lebensliebe wird alsbald ein Abschied. Den sie sich vom Leibe hält, indem sie über ihn schreibt. Distanz herstellt. Ausgerechnet sie, die Nähe so braucht, eine Weile sogar eifersüchtig ist auf seine Schmerzen. Das von den Eltern verlassene Kind in ihr ist noch immer unersättlich. Er soll nur sie haben, nur sie unbedingt und ohne Ablenkung wollen. Damit ihre "Liebeswunde" heilen kann bei ihm.

Schnörkellose Schilderung

Hanne Ørstavik, eine der wichtigsten Schriftstellerinnen Norwegens, erzählt in ihren Romanen meist in wunderbarer Kargheit von dem geheimnisvollen Sog der dunklen Verlassenheit und Einsamkeit, lässt uns Lesern Raum für Ahnungen, eigene Empfindungen. Hier schreibt sie direkt und unumwunden über die ausweglose Situation. Schreibt in diesem Roman offenbar über sich. Schildert schnörkellos sein Leiden und ihre Zuwendung – aber auch die Grenzen ihrer Hingabe. Fragt sich, wie konzentriert und intensiv ihre Liebe denn nun wirklich ist, wenn sie in seinen trüben Augen nicht mehr wie bisher ihre Heimat findet. Fragt, was ihr fehlt, wenn er siecht, was sie braucht, was er nicht mehr hat.
Das erkennt sie voller Anspannung und auch Schrecken auf einem Literaturfestival in Guadalajara in Mexiko. Ihr Gastgeber, der sie begleiten wird durch die Tage, strahlt eine Energie, eine Kraft aus, der sie auf der Stelle zitternd erliegt. Leuchtend und voller Abwehr beschreibt sie diese ungewollte Anziehung. Ist es Verrat, den anderen zu wollen? Oder einfach nur die verzweifelte Sehnsucht nach Stärke und Eros? Sie schreibt auf, was sie dort in Mexiko erlebte, während sie wieder in Mailand ist bei ihm, ihrem Mann, den sie doch so liebt. Aber kann man einen so geschwächten Mann, den man nicht mehr begehrt, noch mit allem in sich lieben?

Widersprüchliche Gefühle

Wir mäandern mit der Erzählerin zwischen Fragen und Lebenswirklichkeit, zwischen Gegenwart und Erinnerung, vielleicht ja auch zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Ørstavik zieht uns hinein in die Widersprüchlichkeit der möglichen Gefühle, die nebeneinander und sehr lebendig in uns wohnen können, unserer habhaft werden.
Und lotet zugleich aus, wie man mit scheinbar einfacher Sprache ein komplexes Menschsein erzählt. Ein Leben und Sterben. Ein Lieben und ein Begehren. Ein Wollen und Verzicht.

Liebesbeschwörung in Todesnähe

Dies ist ein Zwischenbuch. Eigentlich wollte die Erzählerin einen anderen Roman schreiben. Doch der muss warten. Die Geschichte kann sie erst anfangen, wenn er nicht mehr ist.
Wir sehen sie das weite Feld durchqueren von zärtlicher Zuwendung zu kühler Reflexion. Manchmal – wenn der Sterbende und die Schreibende einander immer wieder ihre Liebe versichern, ti amo – verkommen die Worte fast zu einer Beschwörungsformel. Ti amo – woran sonst soll man sich in lebendiger Todesnähe festhalten?

Hanne Ørstavik: "ti amo"
Aus dem Norwegischen von Andreas Donat
Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2021
112 Seiten, 18 Euro

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