Hannah Höch: "Mir die Welt geweitet. Das Adressbuch"

Ein großartiges Lebens- und Erinnerungsbuch

Buchcover: "Hannah Höch: Mir die Welt geweitet. Das Adressbuch"
In der Zeit des Nationalsozialismus galten ihre Werke als entartet – diese und viele weitere Erinnerungen hielt Hannah Höch in ihrem Adressbuch fest. © Transit Buchverlag GmbH / imago/AFLO
Von Eva Hepper · 11.09.2018
Vielfach wurde das Leben der Malerin, Grafikerin und Collagekünstlerin Hannah Höch beschrieben, nun kommt sie selbst zu Wort: In dem originalen Adressbuch, von Harald Neckelmann sorgfältig editiert, hielt sie neben bekannten Namen auch ihr Leben fest.
Wer dieses Adressbuch einmal gesehen hat, vergisst es nicht mehr: Vorder- und Rückendeckel sind brüchig bis zerfetzt, und die 700 Seiten – unterschiedlich in Form, Farbe und Textur – spreizen sich aus dem minimal Halt gebenden Buchrücken geradezu heraus. Zudem sind unzählige Blätter, Visitenkarten und Zettel zusätzlich eingeklebt und die handgeschriebenen Einträge immer wieder ergänzt, durchgestrichen, überschrieben und mit Notizen versehen. Zuklappen lässt sich das fragile Objekt schon lange nicht mehr.
Über 60 Jahre nutzte Hannah Höch (1889-1978) ihr Adressbuch. Von 1917 an bis zu ihrem Tod versammelte die Künstlerin darin über 1.400 Namen; darunter Freunde und Freundinnen, Verwandte und Nachbarn, Malerkolleginnen und -kollegen, Museumskuratoren und Sammler sowie diverse Geschäftskontakte; vom Modeladen bis zur Wäschemanufaktur, vom Arzt bis zum Gärtner. In einem sorgfältig edierten Band hat der Journalist und Autor Harald Neckelmann nun über 400 der 1.400 Namenseinträge ausgewählt und mit ergänzenden Kurzbiografien, historischen Abrissen, Briefauszügen und weiteren Notizen aus Hannah Höchs Terminkalendern versehen.

Ein Who-is-Who des Kulturlebens

Das Ergebnis ist beeindruckend: sogar die um 1.000 Namen verschlankte Adressbuch-Edition (mit 21cm mal 15cm ein wenig kleiner als das Original) liest sich wie ein Who-is-Who des – nicht nur deutschen – Geistes- und Kulturlebens. Allein unter dem Buchstaben M finden sich große Künstler wie Lázló Moholy-Nagy, Piet Mondrian, Konrad Felix Müller, Ewald Mataré oder Otto Mueller, Architekten wie Mies van der Rohe, Fotografen wie Stefan Moses, Kolleginnen aus frühen Zeiten beim Ullstein-Verlag wie Wanda Meyer oder auch Hannah Höchs Ehemann Kurt Heinz Matthies.
Ungemein kenntnisreich sind Neckelmanns Erläuterungen der Einträge. So erfährt man, dass Höch und Moholy-Nagy eine innige Liebe zum Film verband, dass sie von 1916 bis 1926 ihr Geld als Illustratorin für Handarbeitshefte (Ullstein) verdiente, dass die junge Künstlerin Piet Mondrian 1924 in Paris kennenlernte und als "trocknen Bursch" beschrieb, oder dass sie gemeinsam mit Kurz Heinz Matthies, den sie 1935 in den Dolomiten kennengelernt hatte, nach Heiligensee bei Berlin zog, um die Zeit des Nationalsozialismus in der inneren Emigration zu überstehen; ihre Werke galten als "entartet".

Das Adressbuch als biografische Selbst-Auskunft

Tatsächlich ist Hannah Höchs Adressbuch ein großartiges Lebens- und Erinnerungsbuch. Es lässt sich herrlich darin stöbern, Berühmtheiten und weniger bekannte Zeitgenossen stehen gleichrangig nebeneinander, und auch die Alltags- und Zeitgeschichte kommen nicht zu kurz. Dass Höch dem Gärtner 40 Mark fürs Schneeschippen bezahlte, erwähnt sie ebenso wie die Tatsache, dass sie – völlig verarmt gegen Ende der 1940er Jahre – die Hundesteuer nicht bezahlen konnte und so Werke von Arp und Schwitters verpfändete; notiert unter Punta, dem Namen ihres Terriers.
Was für ein Leben! In vielen Biografien wurde es beschrieben, doch kein Werk gibt so beredt (Selbst-)Auskunft wie Hannah Höchs Adressbuch. Eine großartige Lektüre!

Hannah Höch: "Mir die Welt geweitet. Das Adressbuch"
Harald Neckelmann (Hg.)
Transit Verlag 2018
320 Seiten, 25,- Euro

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