Handeln wider besseren Wissens

Warum die Gegenwart oft die Zukunft übertrumpft

04:59 Minuten
Die Silhouette einer Frau mit lockigen Harren, beim Spung über eine kleine Felskluft.
Als vernünftige Tiere können wir uns eine Zukunft geben - und verhalten uns doch oft nicht entsprechend, beobachtet David Lauer. Woher kommt diese Kluft zwischen Wissen und Tun? © unsplash / Sammie Chaffin
Von David Lauer · 26.06.2022
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Klimakrise, Energie-Abhängigkeit, Corona-Herbst: Was uns morgen blüht, wissen wir oft schon heute – das macht uns als „vernünftige Tiere“ aus. Und doch handeln wir meist nicht entsprechend. Wie ist das philosophisch zu begreifen?
Der Mensch ist das Wesen, das Zukunft hat. Das liegt an jener besonderen Gabe, die Platon und die Denker der Antike ins Staunen versetzte: Der Mensch kann nicht nur das Seiende, sondern auch das Nichtseiende erfassen. Jedes Tier interagiert mit seiner Umwelt. Es verändert das und wird seinerseits verändert von dem, wovon es umgeben ist. Aber es ist nur das real Gegenwärtige, mit dem nicht-vernünftige Tiere interagieren können. Die Gabe des vernünftigen Denkens jedoch eröffnet dem Menschen eine Welt, die nicht nur alles umgreift, was der Fall ist, sondern auch das, was nicht der Fall ist.

Das „Noch-Nicht“ denken

Das Aufbrechen des Nicht-Seienden im Sein revolutioniert die Stellung, die das Tier Mensch zu seiner Welt unterhält. Es kann das, was nicht mehr ist, im Denken festhalten und vieles, was noch nicht ist, vorhersagbar machen. Und es vermag das, was nicht der Fall ist, aber der Fall sein könnte, rational planend herbeizuführen oder zu verhindern. Welcher Zuwachs an Welt! Und welcher Zuwachs an Macht!
Es ist die zugleich welteröffnende und weltsprengende Kraft der Negation, des schlichten „nicht“, die dem Menschen eine gestaltbare Zukunft überhaupt erst eröffnet. Deswegen hat er Zukunft wie kein anderes Tier. Er ergreift seine Möglichkeiten und trifft seine Entscheidungen, indem er aus einer gedanklich vorweggenommenen Zukunft auf seine Gegenwart zurückkommt. Heidegger nennt das die „Sorgestruktur“ des Daseins.
Ein Schwarz-Weiß-Porträt von David Lauer.
Allein die Einsicht in das Richtige reicht nur selten als Motivation zum Handeln, meint der Philosoph David Lauer.© Privat
In der Gegenwart freilich gibt die faktische Verfassung dieser Sorgestruktur in erster Linie Anlass zu größter … Sorge. Es ist überall dasselbe: Klimawandel? Wir wissen seit Jahrzehnten, was getan werden müsste – und tun es nicht. Ukrainekrieg? Hätten wir seit der Krim-Annexion kommen sehen müssen. Russisches Gas? Wie konnten wir uns sehenden Auges in eine solche Abhängigkeit begeben! Corona? Der Herbst wird furchtbar, wir wissen es alle, Warnung um Warnung verhallt, unternommen wird – im Moment jedenfalls – nichts.

Warum die Vernunft unterliegt

Der Grundton der gegenwärtigen politischen Debatte ist ein selbstanklägerisches „wir hätten können“, „wir hätten müssen“, „wir hätten sollen“ – „Hätte, hätte, Sorgestruktur“, um Heidegger (beinahe) zu zitieren. Wie kann es sein, dass wir die Gabe der Zukünftigkeit in so desolater Weise missachten?
Auffällig ist, dass der Zukunftsbezug im Bereich des Wissens besser zu funktionieren scheint als im Bereich des Handelns. Es hapert nicht an Einsicht, sondern an Entschlossenheit. Woran liegt das? Kant hat es unverblümt ausgesprochen: Die bloß theoretische Einsicht in das Richtige als solche motiviert niemanden, das Richtige auch zu tun. Es bedarf einer „Triebfeder“.

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Manche Moralphilosoph*innen waren und sind der Ansicht, dass es eine Form praktischen Wissens gibt, das diese Triebfeder bereits in sich enthält. Das Richtige zu wissen und es zu tun wären dann eins. Aber diese Form des Wissens ist schwer zu erlangen, weil sie lebenslange, vollendete Charakterbildung erfordert. Für Normalsterbliche sind die Triebfedern, die zum Handeln motivieren, von gröberer und häufig ganz äußerlicher Natur, in Gestalt von Anreizen und in Aussicht gestellten Belohnungen.

Das vernünftige Tier bleibt Tier

Und hier liegt das Problem: Denn wenn es um die Befriedigung konkreter Bedürfnisse geht, so übt das sinnlich greifbare Seiende in der Gegenwart immer die größere Anziehungskraft aus als das bloß vernünftig vorstellbare Nicht-Seiende einer besseren Zukunft. Was man hat, hat man. Das vernünftige Tier Mensch ist eben auch und für immer: Tier.
Der Mensch hat Zukunft. Das ist seine Chance. Wenn er sie nicht ergreift, mag man zu zweifeln beginnen, ob er eine Zukunft hat.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian Albrechts Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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