Hamburger Erinnerungsprojekt "Geschichtomat"

Auf den Spuren jüdischer Kultur

10:30 Minuten
Der jüdische Friedhof Königstraße in Hamburg-Altona mit seinen charakteristischen Grabsteinen gilt als bedeutendes Kulturdenkmal des Judentums in Nordwesteuropa.
Der jüdische Friedhof Königstraße ist einer der vielen Orte in Hamburg, die Schülerinnen und Schüler für den "Geschichtomat" erkundet haben. © imago/ epd
Ivana Scharf im Gespräch mit Thorsten Jabs · 26.01.2020
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Am Internationalen Holocaust Gedenktag werden in Berlin die Obermayer Awards verliehen. Gewürdigt werden Personen und Gruppen, die sich für die Erinnerung an jüdische Kultur einsetzen – dazu gehört das Hamburger Projekt "Geschichtomat".
Thorsten Jabs: Wenn morgen am Internationalen Holocaust-Gedenktag an das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte erinnert wird, ist es auch eine gute Gelegenheit, zu schauen, wie heutzutage mit der deutschen Vergangenheit umgegangen wird. In Berlin werden die Obermayer Awards verliehen, mit denen Menschen gewürdigt werden, die sich für die Erinnerung an jüdisches Leben in Deutschland einsetzen. Ein Preis geht an das Projekt "Geschichtomat", das Ivana Scharf entwickelt hat.

Jüdische Geschichte jugendgerecht vermitteln

Frau Scharf, in Ihrem Projekt erkunden Schülerinnen und Schüler seit 2013 in Hamburg ihre Nachbarschaft. Sie machen sich mit historischen Persönlichkeiten, Orten und Ereignissen vertraut, recherchieren mit fachlicher Begleitung in Museen und Archiven, reden mit Experten und Zeitzeugen und drehen dann dazu eigene Filme. Warum bestand aus Ihrer Sicht die Notwendigkeit eines solchen Projekts?
Ivana Scharf: Es besteht auf jeden Fall die Notwendigkeit, jüdische Geschichte und Kultur kinder- und jugendgerecht zu vermitteln und auch mit anderen Informationen und mit anderen Zugängen, als das im Unterricht passiert.
Jabs: Glauben Sie, dass so ein Projekt dazu beitragen kann, antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft zu bekämpfen?
Scharf: Das ist jetzt eine große Frage. Ich behaupte: ja. Ich behaupte, dass das Einfühlen, das Verständnis, auch das Entwickeln von Empathie für die Themen, für die Menschen, für die Geschichten, für die persönlichen Biografien, dass diese ganze Aufklärungsarbeit und diese Reflexionsarbeit, die das bei den Jugendlichen anstößt, sehr, sehr wichtig ist, um Vorurteile überhaupt erst gar nicht entstehen zu lassen.
Porträt von Ivana Scharf
Jüdisches Leben in der eigenen Nachbarschaft wiederentdecken: Ivana Scharf entwickelte den "Geschichtomat" für Hamburger Schülerinnen und Schüler.© Frank Eibel
Jabs: Auf der Homepage zum Projekt "Geschichtomat" kann man die Filme der Jugendlichen ansehen. Da geht es zum Beispiel um die Opernsängerin Sabine Kalter, die 1935 aus Hamburg nach London geflohen ist, oder ehemalige Synagogen in Altona oder jüdische Sportvereine. Was für Beispiele sind Ihnen von den Anfängen besonders in Erinnerung geblieben?
Scharf: Es sind so viele, es sind ja mittlerweile 200 Videos – wir haben mit 800 Schülerinnen und Schülern gearbeitet. Natürlich sind die Videos, in denen die Schüler mit Zeitzeuginnen arbeiten, immer sehr intensiv und sehr emotional, die bleiben auf jeden Fall im Gedächtnis. Aber was ich vor allen Dingen faszinierend finde und auch so wichtig an dieser Arbeit, ist, den Schülerinnen ihr gesamtes Themenspektrum zu eröffnen.
Wir gehen ja auf die Fragestellung der Schülerinnen ein. Wenn wir im Umfeld der Schule die jüdische Geschichte erkunden, dann haben die Schüler ja immer die Gelegenheit, auch selber ihre Themen auszuwählen – Sie haben ja die Spannbreite gerade schon angesprochen. Es sind ja eben, ich sag mal, von den jüdischen Festtagen über kulturelle Themen eben aber auch die biografischen Themen.

Schülerinnen und Schüler entwickeln eigene Fragen

Jabs: Welche Rolle spielt die jüdische Religion in dem Projekt, werden die Jugendlichen auch von Religionsexperten betreut, die zur religiösen Aufklärung beitragen?
Scharf: Die Jugendlichen entdecken ja vor allen Dingen selber, wen sie brauchen, besuchen, befragen, interviewen müssen, um ihre Fragen auch zu beantworten, aber im "Geschichtomat"-Team sind auch Kulturvermittlerinnen und Medienpädagogen. Allerdings ist es ja genau dieser unmittelbare Kontakt auch zu Menschen in dem Umfeld, der wichtig ist in dem Projekt. Beispielsweise haben Schülerinnen auch einmal ein jüdisches Fest nachempfunden und das im Endeffekt dann so auch besser erlebt, und es ist ihnen dadurch natürlich auch näher gekommen.
Jabs: Gibt es auch Unterschiede zwischen verschiedenen Schulen, die Ihnen aufgefallen sind, also wie das Projekt an verschiedenen Schulen aufgenommen wird?
Scharf: Es gibt natürlich Schulen, die in ihrer eigenen Historie zum Beispiel auch viel enger mit der jüdischen Geschichte verbunden sind. Da merkt man natürlich, dass die Schülerinnen und Schüler dann auch ein großes Interesse haben, die Geschichte der eigenen Schule oder auch der Schüler, die diese Schule besucht haben, zu erkunden. Wenn das nicht der Fall ist, wenn eine Schule einfach diesen direkten Bezug nicht hat, dann wird eben nach anderen Themen gesucht.

Interviews mit Kindern Überlebender

Jabs: Geht es denn eigentlich nur um Geschichte oder auch um jüdisches Leben heute? Ich kann mir vorstellen, dass Jugendliche vielleicht auch die Frage stellen, warum sollte mich das denn heute noch betreffen, das ist doch so lange her.
Scharf: Diese Frage, die stellt sich gar nicht, und natürlich geht es nicht nur um die Geschichte, es geht ja sehr viel auch um diese kulturellen Aspekte und natürlich auch um das lebendige Judentum heute. Auch solche Gespräche werden ja von den Jugendlichen geführt und Videos dazu produziert. Wichtig ist, dass es immer in einer Sprache ist, in ihrer Sprache, und dass die Schüler das für andere Schüler machen.
Diese Videos erheben ja keinen Anspruch auf hohe Filmkunst, sondern es geht ja vor allen Dingen um den Reflexionsprozess, der dadurch auch angestoßen wird. Natürlich haben sie auch Begegnungen gehabt mit jungen Israelis in Hamburg, sie haben aber auch Begegnungen gehabt mit den Kindern von Überlebenden oder auch von ermordeten Juden und Jüdinnen.
Der Feststrauß des Sukkot besteht aus Etrog (Zitrusfrucht), Lulaw (Dattelpalmzweig), Hadassim (drei Myrtezweige) und Arawot (zwei Bachweidezweige).
Jüdisches Leben heute: Das Laubhüttenfest, genannt Sukkot, wird als lebendige Tradition im "Geschichtomat" vermittelt.© dpa/ Annette Riedl
Jabs: Mir geht es so, dass mich Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen am stärksten berühren – Sie haben das Thema ja auch schon angesprochen. Welche Bedeutung haben sie für das Projekt?
Scharf: Die Begegnungen mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sind immer sehr intensiv. Allerdings muss man ja auch sagen, dass es jetzt nicht mehr so viele Zeitzeugen gibt und insofern auch diese Begegnungen eher selten sind. Das sieht man auch beim "Geschichtomat"-Projekt allein schon an der Anzahl der Videos – es gibt zu den Zeitzeuginnen weniger Möglichkeiten und damit eben auch weniger Videos.
Natürlich ist das für die Schülerinnen immer etwas ganz Besonderes, sie fühlen sich da sehr geehrt, wenn sich eine Person die Zeit nimmt, und sind natürlich auch berührt durch diese sehr persönlichen Geschichten, die teilweise natürlich auch nicht positiv sind und die ihnen sehr nahegehen. Und gerade die Zeitzeugen haben ja den Holocaust auch als Kinder erlebt, daran können die Jugendlichen sehr gut anknüpfen, weil sie Vergleiche ziehen können zu ihrer eigenen Kindheit.

Ohne Zeitzeugen verändert sich Geschichtsvermittlung

Jabs: Wie geht man mit dem Problem um, dass Zeitzeugen immer weniger werden? Verändert sich dann auch so ein Projekt, muss es sich zwangsläufig verändern?
Scharf: Als ich das Projekt entwickelt habe, war mir vor allen Dingen wichtig, dass es überhaupt noch diese Möglichkeit gibt. Deswegen bin ich auch froh, dass es zumindest in dieser Zeit – seit 2011 – die Möglichkeit gab, die Gespräche zu führen und auch diese persönlichen Beziehungen aufzubauen. Natürlich, das wird die gesamte Vermittlung in dem Bereich maßgeblich verändern, und da macht man sich jetzt auch schon seit einigen Jahren Gedanken darüber.
Es wird auch dieses Projekt insofern betreffen, als man dann nicht mehr die Originalstimme hören, nicht mehr das authentische Gespräch führen kann, und da werden wir uns natürlich auch etwas einfallen lassen. Ich habe da auch schon Ideen.
Stolpersteine im ehemaligen jüdischen Grindelviertel in Hamburg.
Stolpersteine im Hamburger Grindelviertel: Nachfahren der Familie Baruch wurden von Schülergruppen für das Portal interviewt.© imago images / Lars Berg
Jabs: Welche?
Scharf: Es müsste generell und deutschlandweit das Thema Vermittlung viel, viel stärker in den Mittelpunkt rücken. Das Vermitteln ist nun mal eine ganz eigene Aufgabe und kind- und jugendgerecht zu vermitteln sowieso. Natürlich gibt es Archive, Zeitzeugeninterviews, die verschriftlicht wurden, es gibt Videointerviews, es gibt Filme. Also, es gibt natürlich Material, mit dem man arbeiten kann in der Vermittlung, allerdings müsste das alles anders aufbereitet werden.

Archive und Audiobeiträge werden wichtiger

Jabs: Wie zum Beispiel?
Scharf: Im "Geschichtomat"-Team würde man das so angehen, dass es mit den Jugendlichen gemeinsam auch entwickelt wird, weil das ja genau die Stärken des Projekts sind, dass das "Geschichtomat"-Team mit den Jugendlichen auf Augenhöhe arbeitet, auf ihre Fragestellungen eingeht und dann entsprechend die nächsten Schritte auch gemeinsam geplant und unternommen werden. Und genau so würde ich dann auch ein Projekt, in dem ich mit diesem vorhandenen Material arbeite, entwickeln.
Wir tun das ja jetzt auch schon: Es fließen ja auch Originaltexte ein – weniger im Moment noch zum Beispiel Audiobeiträge, Filmbeiträge aus Archiven, aber das könnte dann eine Möglichkeit sein, dass man die in diese Vermittlungsarbeit miteinbezieht. Was auf jeden Fall ja auch jetzt schon passiert ist – das hatte ich schon erwähnt –, dass die Nachkommen ja häufig auch gesprächsbereit sind und selber dann letztendlich auch häufig ihre eigene Familiengeschichte erkunden.
Jabs: Sie haben uns gesagt, seit den Anfängen haben mehr als 800 Schülerinnen und Schüler an dem Projekt teilgenommen. Das Ziel ist es, den Jugendlichen ein Verständnis von jüdischem Leben und jüdischer Kultur zu vermitteln. Wenn Sie einmal Bilanz ziehen, haben Sie dieses Ziel aus Ihrer Sicht erreicht?
Scharf: Ja, wir haben jetzt nicht die ganz ausführlichen Projektevaluationen, wir befragen natürlich schon die Schülerinnen. Wir stellen definitiv fest, dass unglaublich viele Schülerinnen zwar durch den Geschichtsunterricht und die Vermittlung des Themas Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht so ein Faktenwissen haben, dass sie aber kaum etwas über das jüdische Leben, über die Menschen, über deren Kultur wissen. Und das verändert sich definitiv nach diesem Projekt.
Was ich schade finde, ist, dass nur in Hamburg die Schülerinnen in den Genuss kommen, es wäre schön, wenn das auch noch in anderen Städten angeboten werden könnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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