Bandengewalt in Haiti
Die Polizei in Haiti kann der zunehmenden Bandengewalt im Land kaum mehr etwas entgegensetzen. Zwei Millionen Menschen, darunter 1,6 Millionen Frauen und Kinder, lebten in Gebieten, die von Banden kontrolliert würden, schätzt Unicef. © imago / ZUMA Wire / Jose A. Iglesias
Ein wahr gewordener Albtraum

24.10.2023
Bandengewalt, politisches Chaos, Armut, Hunger: Haiti leidet seit Jahren unter humanitären, wirtschaftlichen und politischen Krisen. Nun hat die Zahl schwerer Verbrechen UN-Angaben zufolge neue Höchststände erreicht. Was sind die Gründe für Haitis desolaten Zustand?
Der von Bandengewalt schwer erschütterte Karibikstaat Haiti kommt nicht zur Ruhe - im Gegenteil: Die Zahl schwerer Verbrechen erreicht immer neue Höchststände, die Sicherheitslage vor Ort verschlechtert sich weiter. Das sagte die UN-Sondergesandte für Haiti, María Isabel Salvador, im OKtober 2023 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen.
So verzeichnete die Polizei zwischen Anfang Juli und Ende September 1239 Tötungsdelikte, im Vorjahreszeitraum waren es 577 Fälle.
In Haiti haben seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 kriminelle Banden vielerorts de facto die Kontrolle übernommen. Insbesondere in der Hauptstadt Port-au-Prince toben seitdem immer wieder schwere Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass 60 Prozent des Stadtgebietes von bewaffneten Gangs kontrolliert werden. Anfang Oktober 2023 hat der UNO-Sicherheitsrat für die Entsendung einer multinationalen Eingreiftruppe nach Haiti gestimmt. Neben der politischen Instabilität und den Unruhen ist das Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Krise gebeutelt.
Wie ist die politische Lage in Haiti?
Haiti steckt in einer tiefen politischen Krise. Im Juli 2021 wurde Präsident Jovenel Moïse in seinem Haus ermordet. Die Angreifer gaben zwölf Schüsse auf das Staatsoberhaupt ab. Die Rädelsführer hätten darauf gesetzt, unter der neuen haitianischen Regierung von lukrativen Aufträgen profitieren zu können, sobald Moïse aus dem Weg geräumt sei.
Nach der Ermordung Moïses stürzte das Land in ein politisches Chaos, das Verbrecherbanden nutzten, um ihren Einfluss auszubauen. Das bisher letzte schwere Massaker hatte es im August in der Stadt Carrefour-Feuilles, als 100 Bewohnerinnen und Bewohner getötet wurden. Auch Fälle von Vergewaltigungen wurden dokumentiert, viele Häuser wurden angezündet.
Für die schlimme Situation trifft die Eliten des Karibikstaates eine Mitschuld sagt Andrea Steinke vom Centre for Humanitarian Action: „Diejenigen innerhalb der Elite, die die Gangster zu ihrem eigenen Machterhalt genutzt haben, haben nun gewissermaßen tatsächlich die Kontrolle über diese Gangs verloren“, sagt sie.
Mitglieder von Haitis Banden sind laut Steinke sehr oft junge Männer mit einem hohen Maß an Frustration. Ihnen fehle die Chance auf ein gutes Leben in dem Karibikstaat.
Steinke berichtet von einer paradoxen Situation: Die Gangs sorgten in einigen Gebieten Haitis für „eine Art Sicherheit“: Sie würden die Versorgung übernehmen, die der Staat nicht übernimmt, etwa bei der Sicherheit oder dem Zugang zu Nahrungsmitteln.
Warum ist die humanitäre Situation in Haiti so katastrophal?
Haiti gilt als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es wurde in den vergangenen Jahren zudem von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürmen erschüttert. Ein besonders schweres Beben traf Haiti 2010. Hunderttausende Menschen starben.
„Das Land wurde nachhaltig beschädigt“, sagt Andrea Steinke. Dazu kam eine Cholera-Welle, die seit Beginn im Oktober Hunderte Tote gefordert hat.
Hunger und Mangelernährung seien ein „sehr, sehr großes Problem im Moment in Haiti“, erklärt Andrea Steinke. Laut der Expertin sind 46 Prozent der Bevölkerung des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Gewalt vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince führe dazu, dass viele Menschen kein Geld verdienen könnten. Die Inflationsrate liege bei 47 Prozent. „Und gleichzeitig ist Haiti eines der zehn meist betroffenen Länder vom Klimawandel“, so Steinke.
Gibt es Hilfe von der internationalen Gemeinschaft?
Anfang Oktober hat der UN-Sicherheitsrat einer internationalen Polizeimission unter kenianischer Führung zugestimmt. Kenia hatte sich bereiterklärt, 1.000 Mann zu entsenden. Jamaika, die Bahamas sowie Antigua und Barbuda hatten ebenfalls Personal zugesagt.
Amnesty International sieht das Engagement Kenias kritisch, denn die kenianische Polizei steht selbst in der Kritik, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, die Kenianer sprechen außerdem Englisch und Suaheli statt Französisch und Kreol.
Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt ohnehin eine Intervention ab, meint Expertin Andrea Steinke vom Centre for Humanitarian Action. Premierminister Ariel Henry habe im Oktober 2022 die UN um Unterstützung gebeten. Daraufhin seien Tausende Menschen in Haiti zu Protesten auf die Straße gegangen.
Für die Skepsis der Menschen gebe es aber auch sehr gute Gründe, so Steinke, denn Haiti habe eine lange Geschichte teils unrühmlicher ausländischer Interventionen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Gangs „Teil der sozialen und politischen Infrastruktur des Landes“ sind, so Steinke. „Sie sitzen quasi im Leben der Menschen. Gegen sie militärisch vorzugehen, in ihre Viertel einzudringen und das ohne Gewalt, Verlust und Tod an der Zivilbevölkerung, scheint hier schier unmöglich.“
Auch die haitianischen NGOs stehen der internationalen Polizeimission kritisch gegenüber. Die finanzielle Unterstützung solle lieber in vorhandene Strukturen fließen, zuerst müsse die Justiz gesäubert werden, argumentieren sie.
Welche Rolle könnten die USA und Kanada spielen?
Das Interesse an einer Beruhigung der Lage in Haiti sei besonders aufseiten der USA und Kanada hoch, sagt Andrea Steinke, "weil die folgenden Migrationsbewegungen sich traditionell immer in diese Richtung bewegen".
Wesentlich geringer ist offenbar das Interesse, an einer solchen Mission teilzunehmen. Immerhin haben die USA Anfang Oktober finanzielle Unterstützung zugesagt.
tmk, mick