Bandengewalt in Haiti
Nach der Ermordung von sechs Polizisten durch Banden kam es Ende Januar 2023 in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince zu Protesten und Gewalt der lokalen Bevölkerung.
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Ein wahr gewordener Albtraum

25.02.2023
Bandengewalt, politisches Chaos, Armut, Hunger: Haiti leidet seit Jahren unter humanitären, wirtschaftlichen und politischen Krisen. Die internationale Gemeinschaft zögert mit einer Intervention. Was sind die Gründe für Haitis desolaten Zustand?
Etwa 2000 Morde allein im vergangenen Jahr, Gruppenvergewaltigungen, vier Entführungen pro Tag: In Haiti haben kriminelle Banden vielerorts de facto die Kontrolle übernommen. Insbesondere in der Hauptstadt Port-au-Prince toben schwere Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden.
Die Vereinten Nationen (UN) gehen davon aus, dass 60 Prozent des Stadtgebietes von bewaffneten Gangs kontrolliert werden. Am schlimmsten ist die Lage offenbar in Cité Soleil, dem größten Slum der Stadt. Die Zustände im Land bezeichnete die UN als „grauenerregend“.
Und die Regierung wird des Chaos nicht Herr. Neben der politischen Instabilität und den Unruhen ist Haiti von einer schwierigen wirtschaftlichen Krise gebeutelt.
Wie ist die politische Lage in Haiti?
Haiti steckt in einer tiefen politischen Krise. Im Juli 2021 wurde Präsident Jovenel Moïse in seinem Haus ermordet. Die Angreifer gaben zwölf Schüsse auf das Staatsoberhaupt ab. Die Tat sei ursprünglich eher als Putsch gedacht gewesen, berichten US-Behörden.
Die Rädelsführer hätten darauf gesetzt, unter der neuen haitianischen Regierung von lukrativen Aufträgen profitieren zu können, sobald Moïse aus dem Weg geräumt sei. Insgesamt elf Personen sitzen im Zusammenhang mit dem Fall Moïse inzwischen in US-Haft, darunter zwei Hauptverdächtige.
Nach der Ermordung Moïses stürzte das Land in ein politisches Chaos, das Verbrecherbanden nutzten, um ihren Einfluss auszubauen. Mitte September 2022 brachte die Bande „G9“ ein wichtiges Treibstoffterminal in ihre Gewalt, um Ministerpräsident Ariel Henry aus dem Amt zu jagen, nachdem der einen Anstieg der Benzinpreise angekündigt hatte. Die Blockade konnte erst im November aufgehoben werden.
Doch Haitis Regierung wird der Gewalt nicht Herr. Im Gegenteil: „So schlimm, wie es heute ist, war es sehr, sehr, sehr lange nicht mehr“, sagt Andrea Steinke vom Centre for Humanitarian Action. Die Ermordung Moïse habe ein Machtvakuum hinterlassen, das nun von Gangs gefüllt werde.
Für die Situation trifft nach Einschätzung der Expertin die Eliten des Karibikstaates eine Mitschuld: „Diejenigen innerhalb der Elite, die die Gangster zu ihrem eigenen Machterhalt genutzt haben, haben nun gewissermaßen tatsächlich die Kontrolle über diese Gangs verloren“, sagt sie.
Mitglieder von Haitis Banden sind laut Steinke sehr oft junge Männer mit einem hohen Maß an Frustration. Ihnen fehle die Chance auf ein gutes Leben in dem Karibikstaat.
Steinke berichtet von einer paradoxen Situation: Die Gangs sorgten in einigen Gebieten Haitis für „eine Art Sicherheit“: Sie würden die Versorgung übernehmen, die der Staat nicht übernimmt, etwa bei der Sicherheit oder dem Zugang zu Nahrungsmitteln.
Warum ist die humanitäre Situation in Haiti so katastrophal?
Haiti gilt als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es wurde in den vergangenen Jahren zudem von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürmen erschüttert. Ein besonders schweres Beben traf Haiti 2010. Hunderttausende Menschen starben.
„Das Land wurde nachhaltig beschädigt“, sagt Andrea Steinke. Dazu kam eine Cholera-Welle, die seit Beginn im Oktober Hunderte Tote gefordert hat.
Hunger und Mangelernährung seien ein „sehr, sehr großes Problem im Moment in Haiti“, erklärt Andrea Steinke. Laut der Expertin sind 46 Prozent der Bevölkerung des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Gewalt vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince führe dazu, dass viele Menschen kein Geld verdienen könnten. Die Inflationsrate liege bei 47 Prozent. „Und gleichzeitig ist Haiti eines der zehn meist betroffenen Länder vom Klimawandel“, so Steinke.
Gibt es Hilfe von der internationalen Gemeinschaft?
UN-Menschenrechtshochkommissar Volker Türk hat die internationale Gemeinschaft aufgefordert, die Entsendung einer bewaffneten Spezialtruppe nach Haiti zu erwägen. Es sei Zeit, dass die internationale Gemeinschaft den haitianischen Behörden dabei helfe, die volle Kontrolle wiederzuerlangen, „damit dieses Leid beendet werden kann“, sagte Türk.
Der Menschenrechtshochkommissar sprach mit Blick auf die Zustände vor Ort von einem „wahr gewordenen Albtraum“. Angesichts zahlreicher Krisen in aller Welt befürchte er, dass die Lage in Haiti nicht die Aufmerksamkeit erhalte, die sie verdiene.
Das Problem: Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt eine Intervention ab, meint Andrea Steinke. Premierminister Ariel Henry habe im Oktober 2022 die UN um Unterstützung gebeten. Daraufhin seien Tausende Menschen in Haiti zu Protesten auf die Straße gegangen.
Für ihre Skepsis gebe es aber auch sehr gute Gründe, so Steinke, denn Haiti habe eine lange Geschichte teils unrühmlicher ausländischer Interventionen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Gangs „Teil der sozialen und politischen Infrastruktur des Landes“ sind, so Steinke. „Sie sitzen quasi im Leben der Menschen. Gegen sie militärisch vorzugehen, in ihre Viertel einzudringen und das ohne Gewalt, Verlust und Tod an der Zivilbevölkerung, scheint hier schier unmöglich.“
Welche Rolle könnten die USA und Kanada spielen?
Das Interesse an einer Beruhigung der Lage in Haiti sei besonders aufseiten der USA und Kanada hoch, sagt Andrea Steinke, "weil die folgenden Migrationsbewegungen sich traditionell immer in diese Richtung bewegen".
Wesentlich geringer ist offenbar das Interesse, an einer solchen Mission teilzunehmen: "Die USA halten sich zurück, Kanada soll es nun richten, ist aber jetzt auch nicht mit wehenden Fahnen bereit."
Quellen: Deutschlandfunk Kultur, AFP, KNA, AP, tmk