Häusliche Gewalt in Frankreich

Alle drei Tage wird eine Frau ermordet

25:21 Minuten
Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und Femizide am 19. Oktober 2019 in Paris. Frauen halten Schilder hoch, auf denen die Namen von ermordeten Frauen stehen.
Demonstration gegen Femizide am 19. Oktober 2019 in Paris. Auf Schildern wird ermordeter Frauen gedacht. © imago images/Hans Lucas/Mathieu Menard
Von Suzanne Krause · 08.01.2020
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Im vergangenen Jahr wurden in Frankreich 148 Frauen von ihrem Mann oder Ex-Partner umgebracht. Seit Jahren kämpfen Feministinnen dafür, diese Taten als gesellschaftliches Problem anzuerkennen.
Entschlossen stimmt Prune Richard ihren Schlachtruf an:
"Wir sind stark, wir sind gut – Radikale Feministen in Wut!"
Prune ist 16 Jahre alt und Schülerin im Pariser Nobelgymnasium Montaigne. Dort geht es heute um das Thema "Häusliche Gewalt". Der Theatersaal ist voll besetzt, Prune und ihre Freundin Manon Missioux hocken am Boden.
Prune Richard; "Wir möchten uns für alle Frauen in der Welt einsetzen, zeigen, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Hier im Saal sind auch viele Jungen. Wir wollen deutlich machen, dass wir Jugendlichen häuslicher Gewalt den Kampf ansagen."
Manon Missioux; "Das Thema interessiert uns sehr, denn in Frankreich kommt es alle zwei, drei Tage zu einem Femizid. Bei uns sterben weit mehr Frauen durch die Hand ihres Mannes oder Ex-Gefährten als in Spanien. Das Thema betrifft mich persönlich als Frau wie auch die gesamte Gesellschaft."
Manon weiß: 2018 wurden in Frankreich 121 Frauen vom Mann oder Ex-Gefährten umgebracht. Jede Dritte hatte zuvor zumindest eine Anzeige wegen Partnerschaftsgewalt erstattet. Im selben Zeitraum wurden 23 Männer von ihren Frauen ermordet – jeder Zweite war den Behörden als Täter häuslicher Gewalt bekannt. Noch schlimmer sind die Zahlen für 2019: insgesamt 148 weibliche Opfer.

100.000 Menschen protestieren gegen sexualisierte Gewalt

Prune Richard ist eine von tausend Ehrenamtlichen, die sich im Pariser Großraum in Schulen und an Universitäten engagieren – beim Kollektiv "Nous Toutes" – "All wir Frauen". 2017 wurde es von zahlreichen Frauenvereinen gegründet, um gegen sexistische und sexualisierte Gewalt vorzugehen, mit Lobbyarbeit, Aufklärungskursen, Kundgebungen. Ende November, beim letzten "Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt an Frauen", brachte "Nous Toutes" in Paris 100.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf die Straße und weitere 50.000 im Rest des Landes. Ein historischer Rekord.
Seit eine enge Freundin ihr anvertraute, dass bei ihr zu Hause Gewalt alltäglich sei, beschäftigt sich auch die 15-jährige Manon Missioux mit dem Thema.
"Es ist sehr schwierig, darüber zu reden, dass man Opfer solcher Gewalt ist – selbst der besten Freundin gegenüber. Schließlich ist das sehr intim, man will ja nicht aufdecken, dass die eigene Familie dysfunktional ist. Teils denkt die Freundin auch, ihre Geschichte würde eh keinen interessieren. Ich bin ihr dankbar, dass sie sich mir anvertraut und unterstütze sie dabei, die richtigen Schritte zu tun, Anzeige zu erstatten. Ich bin für sie da, denn allein kommt da kaum jemand heil heraus."


Vorne auf der Bühne ergreift Bildungsminister Jean-Michel Blanquer das Mikrophon. Die Veranstaltung im Lycée Montaigne findet auf seinen Wunsch statt – er will den Jugendlichen neue Maßnahmen für den Kampf gegen häusliche Gewalt vorstellen.
Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und Femizide am 23. November 2019 in Paris. Tausende Menschen gehen mit Plakaten und Spruchbändern eine Straße entlang.
Zehntausende Menschen waren am 23. November gegen sexualisierte Gewalt in Paris auf die Straße gegangen.© imago images/Hans Lucas/Mathieu Menard
Jean-Michel Blanquer: "Wenn ein Kind mit blauen Flecken zur Schule kommt, kann das auf intrafamiliäre Gewalt verweisen. Das müssen wir der Justiz melden. Da können wir nicht tatenlos zusehen."
Marlène Schiappa, die neben Blanquer steht, nickt bekräftigend. Die Staatssekretärin für Gleichstellungspolitik hat bei ihrem Einsatz gegen Partnerschaftsgewalt die gesamte Regierung hinter sich gebracht. Im vergangenen Herbst, zweieinhalb Monate lang, liefen zum Thema landauf, landab öffentliche Konsultationen.
Den Auftakt dazu gab Premierminister Edouard Philippe am 3. September. Er zitierte Hilferufe, Posts von Frauen auf der Online-Plattform der Regierung.
Edouard Philippe: "'Ich habe bei der Polizei Anzeige erstattet', hat uns Christine per Email mitgeteilt. Sie führt aus: 'Geplatztes Trommelfell, Kreuzbeinbruch, ich war 30 Tage krank geschrieben. Die Justiz brauchte zwei Jahre, um meinen Ex zu verurteilen.' Aurèlie erklärt, ihr alkoholkranker und gewalttätiger Partner habe sie aus der Wohnung geworfen. Sie schreibt: 'Ich habe Angst, dass ich, ginge ich je heim, als Femizidfall ende. Meine beiden Töchter beschwören mich, mich nicht erneut in Lebensgefahr zu begeben. Gibt es eine Chance, dass mein Leid erhört wird und ich einen Ort finde, wo ich mich nicht mehr bedroht fühle?'"
Sichtlich erschüttert las der Premierminister die Emails vor.
"Ich hätte nicht gedacht, dass ich in unserer Demokratie, im Land der Aufklärung, eines Tages gezwungen sein würde, festzuhalten: Mancher Mann erträgt es noch immer nicht, dass seine Frau nicht ausschließlich für ihn da ist."
Lange Tradition von Kleireden und Verharmlosen

Lange Tradition des Kleinredens

Philippes vielzitierte Worte markieren einen neuen Blick auf Partnerschafts-Gewalt in Frankreich. Schlagzeilen machte das Thema etwa im August 2003, als Rockstar Bertrand Cantat die Schauspielerin Marie Trintignant im Suff ins Koma geprügelt hatte, die 41-Jährige starb nach stundenlangem Siechtum. Ein Eifersuchtsdrama, hieß es damals. Durch die Medien ging es, weil Täter und Opfer prominent waren.
Im Mai 2011 sorgte die sogenannte DSK-Affäre nicht nur in Frankreich für einen Skandal: Naffisatou Diallo, ein New Yorker Zimmermädchen, beschuldigte Dominique Strauss-Kahn, damals Chef des Internationalen Währungsfonds und potentieller Kandidat der französischen Sozialisten im Präsidentschafts-Wahlkampf, sie vergewaltigt zu haben. In Paris rief die Frauenbewegung zu Protestaktionen auf. Doch lauter zu hören waren die Stimmen mancher Künstler und Politiker, die die Gewalttat von Strauss-Kahn kleinredeten – sexuelle Ausschweifungen gehörten halt zur französischen Tradition der Libertinage.
Solche Sprüche wage heute niemand mehr zu klopfen, sagt die feministische Aktivistin Florence Montreynaud.
"Wir haben es endlich geschafft, klar zu stellen, dass die Libertinage, also all die Anspielungen auf Frankreichs Aristokratie im 18. Jahrhundert, rein gar nichts mit sexueller und insbesondere Partnerschaftsgewalt zu tun haben. Bei der Libertinage handelte es sich um ein intellektuelles und philosophisches Konzept, es ging zum Beispiel darum, mehr Freigeist-Denken betreffs Gott und Religion zu entwickeln."

Umdenken durch die MeToo-Bewegung

Zum Umdenken beigetragen hat auch die MeToo-Bewegung. Nach Frankreich kam sie vor zwei Jahren dank der von Journalistin Sandra Muller gestarteten Initiative 'Balance ton porc', 'Verpfeif Dein Schwein'. Unter dem Hashtag machen seither Tausende Frauen ihre Erlebnisse mit sexistischer und sexueller Gewalt publik. Der allgemeine Bewusstseinswandel wird aber auch von der Politik mit angetrieben: Schon die vormalige sozialistische Regierung nahm Genderstereotype aufs Korn. Und Staatspräsident Emmanuel Macron arbeitet auf die reale Gleichstellung der Geschlechter hin.
Frauenhäuser, eine landesweite Notrufnummer, Aufklärungskampagnen, Hilfsvereine – Frankreich verfügt bereits über viele Maßnahmen im Bereich Partnerschafts-Gewalt. Wirklich sichtbar wird deren Ausmaß aber dank einiger feministischer Initiativen. Vor fünf Jahren gab ein Kollektiv von Journalistinnen einen Ratgeber für Medienredaktionen heraus. Der fordert, tödliche Partnerschaftsgewalt nicht mehr als Familiendrama zu betiteln. Aus der Perspektive des Opfers zu berichten – statt aus der des Täters. Seit 2016 führen Feministinnen auf Facebook akribisch Buch über jeden einzelnen Fall, in dem eine Frau von ihrem Mann oder Ex umgebracht wurde. Sie geben jedem Opfer Namen, Gesicht, seine Geschichte zurück. Die Medien ziehen regelmäßig mit.
Demonstration gegen Femizide am 23. November in Pairs mit Gedenken an die getötete Ghylaine Boutait. Ihr Mörder muss sich Mitte Januar vor Gericht verantworten.
Am 23. November wurde auch an die getötete Ghylaine Boutait erinnert. Ihr Mörder muss sich Mitte Januar vor Gericht verantworten.© Deutschlandradio / Suzanne Krause
Bei der Demonstration gegen Gewalt an Frauen, am 23. November, wogt eine lilafarben gekleidete Menschenmenge stundenlang durch Paris. In der ersten Reihe werden 137 Schilder hochgereckt. Pro Schild ein Vorname, ein Foto – Hommage für jedes Femizidopfer in Frankreich seit Jahresbeginn. Nie zuvor versammelte eine Frauenkundgebung im Land so viele Mitstreiter. So viele Jugendliche. So viele Männer. Zum Beispiel Steve Didier-Lazaro.
"Die Gewalt an Frauen ist systemisch. Die Politik ignoriert das schon viel zu lang. Die Gewalt zerstört Millionen von Leben und tötet Tausende. Grund genug, dass ich heute hier bin."
Zwei Tage nach der Demo zieht der Premierminister Bilanz. Nach zwei Monaten öffentlicher Debatten zu Partnerschaftsgewalt sind gewisse staatliche Mängel da schon publik. So enthüllt ein neuer Bericht des Justizministeriums eine gewisse juristische Blindheit im Bereich sexuelle oder auch Partnerschaftsgewalt, sagt Ernestine Ronai.
"Das staatliche Statistik-Institut INSEE führt alljährlich eine repräsentative Erhebung zum Thema Sicherheit der Bevölkerung durch. Da wird auch gefragt, ob eine Frau im vergangenen Jahr sexualisierte oder Partnerschaftsgewalt erlebt hat. Laut INSEE ist das bei 220.000 Frauen der Fall. Doch laut Polizeistatistik erstatten nur 70.000 Opfer Anzeige. Und lediglich in 15.000 Fällen kommt es zur Verurteilung des Täters."

Per Knopfdruck um Hilfe rufen

Ernestine Ronai leitet das 'Observatoire des violences envers les femmes', eine Beobachtungsstelle für Gewalt an Frauen. Die wegbereitende Einrichtung wurde 2002 vom Regionalrat des Départements Seine-Saint-Denis nördlich von Paris ins Leben gerufen. Das Observatoire dient als Plattform für Polizei, Justiz, Sozialbehörden, Vereine.
Ernestine Ronai: "Die Netzwerkarbeit der Institutionen und Vereine sorgt dafür, dass alle Partner sich besser kennen, verstehen und eng zusammenarbeiten. Heute zählt unsere Einrichtung landesweit 22 Ableger, eine weitere entsteht gerade in Korsika."


Das Observatoire bei Paris organisierte als erste Institution Schweigemärsche für regionale Femizidopfer. Führte, inspiriert vom spanischen Vorbild, das sogenannte "Telefon für große Bedrohung" ein. Per Knopfdruck können Frauen, die von einem gerichtlichen Gewaltschutzprogramm profitieren, im Notfall Hilfe herbeirufen. Innerhalb von drei Minuten, so der Schnitt, ist die Polizei vor Ort. Ebenso sensibilisiert das Observatoire Polizisten, Richter, Staatsanwälte für die Belange der Opfer häuslicher Gewalt.
Das Büro vom Observatoire bei Paris mit Plakaten gegen häusliche Gewalt.
Das Büro vom Observatoire bei Paris mit Plakaten gegen häusliche Gewalt.© Deutschlandradio / Suzanne Krause
Maßnahmen, die die Regierung nun auch landesweit umsetzen will. Zudem hat das Innenministerium kürzlich einen Leitfaden für Polizeibeamte aufgelegt, zur leichteren Bestimmung von sexualisierter oder auch Partnerschaftsgewalt. Das Justizministerium plant etwa die automatische Aussetzung des Sorgerechts für das Elternteil, das Partnerin oder Partner ermordet hat. Und als gewalttätig bekannten Männern kann schon vor ihrer Verurteilung eine elektronische Fußfessel verpasst werden. Dies sind nur einige Punkte zweier Gesetzesprojekte, die in Kürze verabschiedet werden.
Ernestine Ronai und ihr Team arbeiten derweil an einem neuen Programm.
"Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob es uns je gelingen wird, die Gewalt wirklich zurückzudrängen. Sicher bin ich mir allerdings darin, dass unsere Arbeit es den Frauen ermöglicht, Gewalt an ihnen besser aufzudecken. Und ihnen und ihren Kindern mehr Schutz zu bieten."

Tod nach 15-jährigem Martyrium

Schutz hat Hélène de Ponsay für ihre Schwester vergeblich erhofft. Marie-Alice Dibon lebte fünfzehn Jahre mit einem Mann zusammen, der sie ständig erniedrigte, ihr das Leben zur Hölle machte. Die Pharmakologin betrieb eine Consulting-Firma im Kosmetiksektor. Fünf Mal hatte sie versucht, ihren Freund, einen Taxifahrer, zu verlassen, jedes Mal erpresste er ihre Rückkehr. Bis sie im letzten April urplötzlich verschwand. Drei Tage später wurde ihre Leiche gefunden: in einem Koffer, der auf einem Fluss nahe Paris trieb, berichtet Hélène de Ponsay.
"Ich habe mit anderen Familien von Femizidopfern kürzlich ein Kollektiv gegründet. Denn ein solches Drama ist für eine Familie so gewalttätig, so schrecklich, dass man sich gar nicht traut, davon zu erzählen. Man fühlt sich sehr allein. Auch die Polizei hat keinen Rat, wo man psychologische Unterstützung finden kann. Und dazu rennen einem die Medien die Tür ein."
Kaum gegründet, zählt die "Nationale Union der Familien von Femizid-Opfern" schon 80 Mitglieder. Es dürften mehr werden. Alle drei Tage, so die Statistik, wird in Frankreich eine Frau von ihrem Mann oder Ex-Gefährten umgebracht. Heute allerdings finden die Stimmen der Opfer dank der feministischen Ameisenarbeit bei der Bevölkerung mehr und mehr Gehör. Ein Bewusstseinswandel ist im Gang: Häusliche Gewalt gilt nicht mehr rein als Familiendrama – sondern als gesellschaftliches Problem.
Die 16-jährige Prune Richard verspricht, ihr Lied bei jeder Gelegenheit anzustimmen.
"Wir sind stark, wir sind gut – Radikale Feministen in Wut!"

Dass häusliche Gewalt kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem ist, hat man in Spanien, das Frankreich öfter als Vorbild in der Sache zitiert wurde, schon länger erkannt. Schon 2004 verabschiedete das spanische Parlament ein "Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt". Ob die Maßnahmen, die daraufhin beschlossen wurden, etwas gebracht haben, darüber haben wir mit unserem Korrespondenten in Madrid Marc Dugge gesprochen.
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