Händel-Renaissance 1920

Wie Händel zum deutschen Helden gemacht wurde

28:58 Minuten
Silhouetten des Händeldenkmals, der Türme der Marktkirche und des Roten Turms vor Abendhimmel.
170 Jahre lang waren in Deutschland keine Händel-Opern aufgeführt worden - bis es 1920 zu einer Renaissance kam. © picture alliance / akg / Schütze / Rodemann
Von Tobias Barth und Lorenz Hoffmann · 27.05.2020
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Nach dem Ersten Weltkrieg suchte das deutsche Bürgertum sein Heil im kulturellen Nationalismus. Der Komponist Georg Friedrich Händel wurde dabei zum Symbol deutscher Kraft und Größe erklärt - obwohl er 50 Jahre seines Lebens in England verbracht hatte.
Fast hundert Jahre alt – eine Schellack-Platte, die Abtastnadel des Grammofons, und wir hören: Emmi Leisner in den 1920er Jahren – eine damals legendäre Altistin vom Deutschen Opernhaus Berlin. Sie singt die Händel-Arie "Eitler Glanz, wo weilst Du…" aus der Oper Rodelinde.
Im Original heißt die Oper Rodelinda, das Libretto aus der Barockzeit war ganz selbstverständlich in italienischer Sprache verfasst. Nun also ein deutscher Text und ein eingedeutschter Titel – erstmals wurde diese Fassung 1920 in Göttingen gegeben und sie war der Beginn einer erstaunlichen Wiederentdeckung. Denn Händels Opernwerk – heute fast unvorstellbar – war mehr als 170 Jahre lang nicht mehr auf den Musiktheaterbühnen präsent gewesen, ja, geradezu vergessen. Im Juni 1920 ändert sich das. Jahrzehnte später schreibt der langjährige Vorsitzende der Göttinger Händelgesellschaft, Walter Meyerhoff:
"Man wird sagen dürfen, dass die seelische Lage in Deutschland nach dem verlorenen Weltkriege für die Wiedererweckung Händels einen besonders günstigen Boden abgab. Seine Einfachheit, seine Kraft und Größe hatten in dieser Zeit der Zerfahrenheit und Maßlosigkeit vielen etwas zu geben, und nach dem Verlust von äußerer Macht und Größe flüchtete man in die inneren seelischen Bereiche und suchte Trost und Mut in den meisterhaften Schilderungen menschlicher Affekte in Händels Opern."

Im Stadtmuseum Göttingen findet anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Händel-Renaissance 1920 eine Ausstellung "Händel Göttingen 1920" statt. Wegen der coronabedingten Einschränkungen ist sie auch als digitale Ausstellung im Internet zu sehen unter https://haendelgoe1920.de/. Seit dem 26. Mai ist die Ausstellung auch wieder für Besucher vor Ort zugänglich.

"1920 ist ja ein sehr interessantes Jahr eigentlich, es ist die Weimarer Republik, aber der Erste Weltkrieg ist auch noch nicht so lange vorbei und vor allem das Ende des Ersten Weltkrieges. Es wurden die Versailler Verträge beschlossen, wo den Deutschen die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg zugesprochen wurde. Das hat in vielen Kreisen, vor allem bürgerlichen Kreisen in Deutschland dazu geführt, das als ungerecht und demütigend zu empfinden", sagt Andrea Rechenberg, Kuratorin einer Ausstellung zu 100 Jahre Händelfestspiele im Stadtmuseum Göttingen.
"Das wiederum hat im Umkehrschluss dazu geführt, dass in diesen bürgerlichen Kreisen sehr stark ein Nationalismus zum Vorschein tritt. Der wird auch versucht, auf Kunst und Kultur zu übertragen. Sodass überall gesucht wurde, wo stecken denn ursprungsdeutsche, wenn nicht sogar germanische Wurzeln drin, also Dinge, die sozusagen von diesen Menschen nur der deutschen Nation zugeschrieben wurden", so die Kuratorin.
"Und da passte die Wiederentdeckung von Händels Opern und die Aufführung der Rodelinde in Deutsch eigentlich sehr gut dazu. Und daher ist es eben eigentlich auch ein Ausdruck dieser Zeit, denn auch Händel wurde als deutscher Komponist wiederentdeckt. Er war ja in Halle an der Saale geboren, hatte allerdings 49 Jahre in England gelebt und war auch 30 Jahre britischer Staatsangehöriger, aber das war egal. Händel wurde eben als Deutscher reklamiert."

Ein Kunsthistoriker treibt die Händel-Renaissance voran

Vorangetrieben wurde die Händel-Renaissance durch den Kunsthistoriker Oskar Hagen. 1888 in Wiesbaden geboren, hatte er 1914 in Halle promoviert. Dort, in Händels Geburtsstadt, hörte Hagen als leidenschaftlicher Musikliebhaber und Laienmusiker auch die Vorlesungen von Hermann Abert, dem Begründer des musikwissenschaftlichen Institutes in Halle. Der sprach von den etwa 40 vergessenen Opern Händels und regte eine szenische Aufführung an.
"Dass Hagen ausgerechnet Händelopern wiederbelebte, hatte damit zu tun, dass es schon die erste Gesamtausgabe der Werke gab, von Friedrich Chrysander im Alleingang sozusagen durchgezogen in einer phänomenalen Einzelleistung eines Forschers, und dadurch lag der Notentext schon vor", erklärt der Händelforscher Lars Klingberg.
"Hagen konnte sich dessen bedienen, aber auch Chrysander ist natürlich davon ausgegangen, dass das nie wieder aufgeführt wird. Er hat z. B. bei seinen Oratorien immer auch deutsche Texte mit hinzu geliefert, nicht so bei den Opern. Nicht etwa, weil er der Meinung war, dass dann italienisch aufgeführt werden würde, das war vollkommen untypisch in der Zeit, sondern es wurde an so etwas wie Aufführungen erst gar nicht gedacht."
Oskar Hagen hatte als Kunsthistoriker über die Zeichnungen Albrecht Dürers gearbeitet, auch über den Bildhauer Matthias Grünewald. 1920 bringt er eine Monografie mit dem Titel "Deutsches Sehen" heraus. Seine These: Der Charakter von Kunstwerken werde bestimmt von einem spezifischen Blick der Künstler. Die wiederum seien unentrinnbar vom Volkscharakter geprägt, von einer "im Blute liegenden psychischen Einstellung".
"Die deutsche Musik ist, obwohl der Einfluss des Südens während ganzer Epochen beträchtlich auf sie wirkte, in ihren wesentlichen Vertretern unverwechselbar deutsch. Selbst in Zeiten der stärksten Vorherrschaft italienischer Formen. So sehr deutsch, dass man beim Anhören eines Händelschen Oratoriums, einer Symphonie Mozarts oder eines Schubertschen Liedes gar nicht auf den Gedanken verfallen wird, das könne ebenso von einem Italiener sein."

Germanische Seele gegen französischen Geist

Die Kunstwissenschaftlerin Uta Engel lehrt an der Martin-Luther-Universität Halle. In ihrem Buch "Stil und Nation" geht sie einer im frühen 20. Jahrhundert sehr wirkmächtigen Idee nach: nationaltypische Konstanten in der Kunstgeschichte zu finden und zu erfinden:
"Die germanisch-deutsch germanische Seele wird, kontrastiert gegen den französisch-westlichen Geist. Das Ganze ist Gefühl versus Rationalität, könnte man auch sagen, und man sucht nach dem Wesen. Nach dem Wesentlichen könnte man auch sagen im Anblick der Zerstörungen und des Leids nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bestreben, sozusagen die Nation wieder aufzubauen. Das hat man 1918/19 sehr stark als Aufgabe empfunden, dass die Nation vor allen Dingen innerlich wieder aufgerichtet werden müsste, dass sie sozusagen ihr Selbstbewusstsein verloren hat, das spricht Oskar Hagen in seinem Vorwort ja auch ganz klar an."
Der Kunsthistoriker Oskar Hagen trifft mit seinen Theorien auf fruchtbaren Boden. Noch mehr Erfolg hat er mit seiner Musikpraxis. Göttingen war damals eine konservativ-bürgerliche Stadt: viel Militär, viele Pensionäre, viele korporierte Studenten. Man ist erschüttert über den verlorenen Weltkrieg und wütend auf die neue Zeit, in der nun auch Frauen wählen und studieren dürfen, Arbeiter Mitbestimmungsrechte bekommen und die Reichswehr die Sozialdemokratie gegen Putschisten schützen soll, mit denen man sympathisiert, mindestens heimlich.
Schwarzweißaufnahme von 1920: Darsteller der Händel-Oper "Rodelinde" stehen in Kostümen zum Schlussbild auf der Bühne versammelt.
Expressionistische Avantgarde und konservativer Impetus - diese beiden Zeitgeistströmungen zeigen sich auch in der Göttinger "Rodelinde"-Aufführung.© Stadtmuseum Göttingen
Ein Zentrum der städtischen Kultur und gleichzeitig Bühne und Veranstaltungsort ist die Universität, an deren kunsthistorischem Institut Oskar Hagen lehrt. Zugleich dirigiert Hagen die Akademische Orchestervereinigung und probt mit diesem Laienorchester immer mal Händel-Arien, wobei seine Frau Thyra Leisner-Hagen als Sängerin auftritt.
Und auch die anderen Musikerinnen und Musiker waren aus dem Bereich zum Teil, den man heute als semiprofessionellen Musikbereich bezeichnen würde. Aber natürlich waren noch einige Profis dabei", sagt Tobias Wolf, Intendant der Göttinger Händelfestspiele.
"Oskar Hagen hat dieses Orchester geleitet und hat eben auch mit diesem Orchester zusammen die ersten Händel-Festspiele begleitet, also das erste Festspielorchester war die akademische Orchestervereinigung."
Große Teile der bürgerlichen Stadtgesellschaft tragen das Projekt. Die auswärtigen Sänger kommen privat unter. Der Universitätsbund fördert die Initiative. Oskar Hagen versteht es, reichsweit Aufmerksamkeit zu erregen. Wie ein moderner Kulturmanager lässt er Anzeigen schalten und gewinnt Multiplikatoren für freundlich gesinntes Weitersagen. Sein Freund und Kunsthistoriker-Kollege Wolfgang Stechow – von seinem Schicksal wird noch die Rede sein – schreibt eine euphorische Rezension, die geschickt an mehrere Zeitungen lanciert wird.
"Und diese Rodelinde hatte einen so großen Erfolg, dass sie in der Folgezeit über 100 Mal in über 20 verschiedenen Bühnen aufgeführt wurde. Das hatte natürlich einmal den Grund, dass man von dieser Bearbeitung fasziniert war, auch von der deutschen Textfassung", erklärt Wolf. "Es hat aber auch damit zu tun, dass nach dem Ersten Weltkrieg natürlich die Ensembles der Opernhäuser sehr stark reduziert waren, und man war auf der Suche nach einem neuen Repertoire, was mit wenig Solisten auskam, mit einem kleinen Orchester und kleinen Bühnen, weil die natürlich durch die Verluste des Ersten Weltkriegs sehr stark beeinträchtigt waren."

Händel-Oper mit expressionistischem Bühnenbild

Die Göttinger Händelfestspiele 1920 fallen in eine Zeit des kulturellen Aufbruchs. In Weimar das Bauhaus mit Gropius und Kandinsky. In Berlin der erste Internationale DADA-Kongress. Die erste Jazz-Platte wird in Deutschland in Schellack gepresst. Auf den Brettl-Bühnen feiern Programme von Wedekind, Claire Waldoff oder Ringelnatz Erfolge. Tucholsky schreibt für die Weltbühne, George Grosz karikiert die bornierten Vertreter des Alten. Die UFA bringt "Das Cabinet des Dr. Caligari" auf die Leinwände – ein Meisterwerk des Stummfilms in expressionistischer Ästhetik. Expressionistisch ist auch das Bühnenbild der Händelfestspiele in Göttingen:
Mehr als die Entwürfe und Fotos haben wir zu dieser ersten Aufführung nicht, es gibt auch keine Tonaufzeichnung der ersten Aufführung, sodass wir hier zurückgreifen auch eine Tonaufnahmen aus dem Jahr 1926, und zwar eingesungen von der Schwester von Thyra Hagen", sagt Andrea Rechenberg, die durch die Ausstellung führt, die sie im Göttinger Stadtmuseum zu 100 Jahren Händelfestspielen kuratiert hat. An den Wänden hängen kleine Originalfotos und Skizzen des Bühnenbildners Paul Thiersch, damals Rektor der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle.
"Wenn Sie schauen, das sind alles Reproduktionen der Bühnenbilder, wie sie sich weiterentwickeln, dann sehen Sie, was eben mit diesem expressionistischen Bühnenbild gemeint ist, es wird umgesetzt, es wird sehr klare strukturierte Linien... man versucht große Gesten darzustellen, gibt immer lange Treppen, es werden dann mit Stoffbahnen sehr dramatische Effekte erzielt und mit Licht, hier ist der Entwurf, hier ist die Umsetzung. Und das ist es eben, dass Oskar Hagen und Paul Thiersch sich da einig waren, es gibt einen interessanten Briefwechsel, dass eben der Expressionismus die geeignete Form ist, das Seelendrama der Händel-Opern umzusetzen, auf die Bühne zu bringen. Ganz anders als es eben eine verrüschte Barockkulisse tun könnte."

Deutsche Kunst, deutscher Stil, deutsches Schicksal

Was gewagt klingt, passte durchaus in den Geist der Zeit. Die Verbindung von avantgardistischer Kunst und konservativem Impetus. 1920 ist auch das Jahr, in dem Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" erscheint – ein Text, der in expressiver Wortgewalt das Soldatentum und die Kriegserfahrung verherrlicht. Es ist das Jahr des Kapp-Putsches, das Jahr, in dem sich die Hitlerpartei NSDAP gründet. Vor allem aber ist 1920 ein Jahr großer Wahlerfolge für die Deutschnationalen und die Nationalkonservativen.
"Die Händel-Aufführung trifft auf eine Zeitgenossenschaft, die mit der Frage beschäftigt ist, was Deutschland sei, was deutsche Kultur sei, was deutscher Stil sei, was deutsches Schicksal sei, was deutsche Zukunft sei, wie diese Zukunft zu gestalten sei, mit welchen Mitteln, mit kriegerischen, aggressiven Mitteln oder mit Aussöhnung mit dem Nachbarn, pazifistischen, mit internationalistischen, mit europäischen Mitteln", sagt Helmut Kiesel, Autor einer Literaturgeschichte der Weimarer Zeit.
"Über diese Frage haben die Zeitgenossen eine außerordentlich intensive Debatte geführt, in der die Positionen und Haltungen in einer Schärfe ausformuliert und gegeneinander gestellt wurden, die für uns heute nahezu unvorstellbar ist. Trotz all der Verschärfung der politischen Debatten, die wir in den letzten Jahren beobachtet haben."
Der kulturelle Nationalismus der 1920er-Jahre ist für Helmut Kiesel eine Folge der Kriegsniederlage – gleichwohl keine neue Erfindung. Die Schriftsteller und Denker greifen zurück auf Muster des 19. Jahrhunderts:
"Es gibt viele Bücher und Romane in dieser Zeit über die Freiheitskriege, über die Erhebung des deutschen Volkes gegen die napoleonische Fremdherrschaft in Deutschland. 1920 gab es nicht gerade eine Fremdherrschaft, mit Ausnahme des besetzten Rheinlandes, aber doch steht man unter den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages, den ja viele als Diktatfrieden empfunden haben, eines Friedensvertrags, der die deutsche Souveränität weitergehend einschränkte. Beispielsweise im Bereich der Rüstung: Deutschland wurde entmilitarisiert bis auf ein Heer von 100.000 Mann. Es durfte keine schweren Waffen, keine Luftwaffe, keine Kriegsmarine haben, und alles das sind Dinge, die für das Souveränitätsgefühl eines Staates oder einer Staatsbevölkerung von großer Bedeutung sind."

Immer wieder wird Händel für die "nationale Sache" vereinnahmt

Die Sehnsucht nach der Größe deutscher Nationalkultur war dann besonders ausgeprägt, wenn Kriege oder politische Wirren das Land bedrohten. Schon im Dreißigjährigen Krieg tauchte dieses Phänomen auf. Eine Adelsvereinigung namens "Fruchtbringende Gesellschaft" mühte sich um den Wortschatz der deutschen Sprache, deutschte französische und lateinische Begriffe ein und machte sich – damals schon – für deutsche Opernlibretti stark. Händel ließ im 18. Jahrhundert seine Opern mit italienischen Texten ausstatten – er hatte seine Heimatstadt Halle mit 18 verlassen und war über Rom nach London gelangt, wo er mit den besten italienischen Stimmen der Zeit zum gefeierten "Royal Composer of Music" aufstieg, als inzwischen britischer Staatsbürger.
"O Händel, stolzer Britten Ruhm,
Doch unser, unser Eigenthum!"
Das dichtet Johann Arnold Ebert im Revolutionsjahr 1789. Bald folgen die napoleonischen Kriege, Napoleons Siegeszug durch die deutschen Lande und die Reaktion: nationaler Aufbruch verbunden mit der Deutschtümelei à la Turnvater Jahn, Theodor Körner oder Ernst Moritz Arndt. Etwas später, in den 1850er-Jahren, ist es wieder Händel, der in den Dienst der nationalen Sache genommen wird. Der vielgelesene Schriftsteller Georg Gottfried Gervinus bescheinigt dem Komponisten einen "Drang nach einem Wirken in der großen Gemeinsamkeit des Volkes... und vor allem den Willen, auf der 'Weltbühne' zu wirken".
Eine kulturell verbrämte Sehnsucht nach politischer Größe, die im Deutschland der Kleinstaaterei nach der gescheiterten 1848er-Revolution nicht zu haben ist. Als Bismarck dann das Reich eint, steigert sich das Nationalgefühl vieler Deutscher. Bisweilen ins Mythische. Der Erste Weltkrieg ist auch ein Ergebnis und Katalysator des Nationalismus. Die Niederlage: eine nationale Katastrophe. Eine traumatische Erfahrung. Das konservative Bürgertum stillt seinen Schmerz, indem es versucht, den Traum neu zu träumen. Die Händelfestspiele der frühen 1920er-Jahre bedienen genau diese Sehnsucht – und sind deshalb sehr erfolgreich.
Kopf des Händel-Denkmals in Halle/Saale.
Halle ist die Geburtsstadt Georg Friedrich Händels. Bis heute erinnert ein Denkmal auf dem Marktplatz an den Komponisten. © imago / Steffen Schellhorn
Nach Göttingen 1920 etablieren sich zwei Jahre später auch in Halle Festspiele mit der Musik Händels, der nun zum deutschen Heroen stilisiert wird.
"Im Herbst 1922 drängte sich Deutschland immer näher an die Katastrophe heran. Das deutsche Bürgertum, das sich gegenüber den politischen Tendenzen einer revolutionären Demokratie vor vier Jahren so wenig anfällig gezeigt hatte, wurde plötzlich höchst anfällig gegenüber einem simplen ökonomischen Prozess, gegenüber der Inflation."
Das schreibt rückblickend Arnolt Bronnen, neben Bertolt Brecht einer der prononciertesten Vertreter der Theater-Avantgarde der frühen 1920er-Jahre.
"In diesen Monaten, das fühlte ich deutlich, entschied sich das deutsche Bürgertum, an den Urquell seiner Saga zurückkehrend, dafür, dem Zeiten-Rad in die Speichen zu fallen. Um neue Kräfte zu gewinnen, suchte sich der geschwächte Teutone seine Rekonvaleszenz beim Himmel zu erborgen."
Es gibt die Vernunftrepublikaner, die sich mit der Sozialdemokratie für den Aufbau des Verfassungsstaates engagieren. Die Weimar wagen. Aber zu großen Teilen sind die bürgerlichen Eliten der Weimarer Republik nicht bereit, jenseits der Monarchie ein demokratisches Gemeinwesen aufzubauen. Sie weigern sich zunehmend, die Republik als Faktum anzuerkennen.
"Was in der Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dazugekommen ist, in dieser unglaublich tiefen Verunsicherung dieses verlorenen Krieges ist das Bestreben, dieses deutsche Volk, also das Volk mit der Volksgemeinschaft, versus die westliche Gesellschaft also, das war wieder so ein anderer Antagonismus Gemeinschaft versus Gesellschaft. Also da geht es auch natürlich in die Auffassung von Politik. Was ist ein Staatsgebilde?"
So skizziert Uta Engel, Kunsthistorikerin an der Uni Halle das geistige Umfeld der Händel-Renaissance.
"Das westliche, demokratische Modell ist die Gesellschaft, die einen Gesellschaftsvertrag miteinander schließt. Und das deutsche Modell, das germanische Modell, ist die Gemeinschaft, die organisch miteinander verwachsen ist und die nach dem monarchischen Prinzip sozusagen regiert werden sollte mit dem König als Kopf des Volkskörpers. Und da fügt sich die Kunstgeschichte mit rein und versucht, in diesem Erklärungsmodell ihre Rolle zu behaupten."

Gemengelage aus verschiedenen nationalistischen Strömungen

Harry Graf Kessler, liberaler Kulturpolitiker, beschreibt im November 1922 in seinem Tagebuch eine sprechende Szene. Es geht um einen Festakt an der Universität Berlin zum 60. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann. Eingeladen waren auch Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichstagspräsident Paul Löbe.
"Das Denkwürdigste an der Veranstaltung ist das grotesk-bornierte Verhalten der Studenten und Professoren gewesen. Die Berliner Studentenschaft hat mit Mehrheit beschlossen, an der Hauptmann-Feier nicht teilzunehmen, weil Gerhart Hauptmann, nachdem er sich als Republikaner bekannt hat, nicht mehr als charakterfester Deutscher zu betrachten sei. Und von Samuel Fischer höre ich, dass der Festredner vor zwei Tagen bei ihm war, um ihn zu bitten, Ebert wieder auszuladen, da es der Universität nicht angenehm sein werde, wenn das republikanische Staatsoberhaupt bei ihr erscheine. Und als Fischer das ablehnte, hat er ihn gebeten, dann doch wenigstens Löbe auszuladen, denn zwei Sozialdemokraten auf einmal seien doch etwas zuviel.
Zum Schluss der Feier spielte D’Albert prachtvoll die Appassionata, wonach einer der Professoren seinem Nachbarn missvergnügt zuflüsterte: 'Das war natürlich eine eigene Komposition des Klavierspielers, nicht?' Beethoven scheint in der Universität Berlin ebenso wenig zu Hause zu sein wie Ebert."
"Es gab so eine Gemengelage aus verschiedenen nationalistischen Strömungen, aber der harte Nationalismus war eigentlich bei den Protagonisten in der Göttinger Händelbewegung, die das alles unterstützt haben, eigentlich nicht dabei", sagt Lars Klingberg. "Bei Hagen ist es auch schwierig, er war mit einer Engländerin verheiratet, ist dann in die USA gegangen. Er war eigentlich kein klassischer deutscher Patriot oder wie man das nennen will, aber es war natürlich immer schon eine gewisse patriotische Grundstimmung da, die er auch bedient hat."
Klingberg war als Musikwissenschaftler an dem großen Forschungsprojekt "Händel in den Diktaturen" der Stiftung Händelhaus Halle beteiligt, das die Händel-Rezeption in der NS-Zeit mit der in der DDR vergleicht. Viele Zuschreibungen und Interpretationen dieser Epochen haben ihre Basis schon in den 1920er-Jahren. Die Renaissance der Opern Händels war zunächst ein geradezu explosiver Erfolg. Bis Mitte der 1920er-Jahre gab es mehr als 500 Aufführungen der inzwischen drei von Oskar Hagen neu eingerichteten Opern.

Mitte der 1920er wechselt der Zeitgeist

1925 erlebt die deutsche Händel-Pflege einen tiefen Knick. Oskar Hagen hat einen Ruf nach Wisconsin bekommen, zeitgleich wandelt sich auch das kulturelle Klima in Deutschland, und zwar fundamental.
"Die goldenen Zwanziger, die 1924 nach der Währungsreform und der wirtschaftlichen Konsolidierung aufgrund der einfließenden amerikanischen Kredite einsetzen, die werden ja oft auch als Roaring Twenties bezeichnet. Die goldenen Zwanziger, da ist hier die wirtschaftliche Seite gemeint, die Roaring Twenties die kulturelle Seite", sagt der Germanist und Historiker Helmut Kiesel.
"Also da spielt die modernistische Ausrichtung der Kunst und der Literatur eine große Rolle. Nicht nur, dass Jazz und dergleichen aufkommt, sondern es werden auch in Berlin und den anderen Großstädten die großen Revuen gezeigt. Das führt also alles weg von dem, was die traditionalistische deutsche Kultur und Kunst bevorzugt hat."
Stimmt unser Bild der "Roaring Twenties"? Wenn man sich zum Beispiel anschaut, welche Literatur gelesen wird, dann ist es sehr ausgeprägt die völkische. Den Bestseller des Jahres 1924 schreibt Rudolf Herzog, Titel: "Kameraden", erschienen in der der Cotta‘schen Buchhandlung, dem Verlag Goethes und Schillers. Die Romanhelden sind Gutsbesitzersöhne, Offiziere, "Edelmenschen", in ihrem Innenleben geht der Krieg von 1914 weiter. Zehn Millionen Leser findet das Buch. 1925 erscheint Hitlers "Mein Kampf". 1926 Hanns Grimms "Volk ohne Raum". Neben diesen politisch aufgeladenen Schriften dominiert die Unterhaltungslektüre, die ein Bedürfnis nach Ablenkung und Zerstreuung bedient:
"In der Tat kommt in dieser Zeit die sogenannte Kulturindustrie auf mit den Möglichkeiten, Unterhaltung für Massen zu bieten, sei das nun Kino, Radio oder eben auch populäre Literatur, die nicht nur in kleineren Formen dargeboten wird, sondern auch in einer Weise, die einer schnell zu konsumierende Lektüre entgegentritt. Die Literatur dieser Zeit wird entlastet um all das, was geistige, weltanschauliche, philosophische Schwere hat, hin zur Darstellung des modernen Lebens in der großstädtischen Welt."
In Göttingen fallen die Festspiel-Jahrgänge 1925 und 1929 aus. 1930 reagieren die Händelfestspiele auf das veränderte Kulturklima mit einer Weitung des Programms. Das Fest wandelt sich zu einem Theaterfest mit Shakespeare "Sommernachtstraum" und Goethes "Urfaust", Händel ist nur noch Randerscheinung, das Fest wird ein – auch finanzieller - Misserfolg. 1931 gründet sich die Göttinger Händelgesellschaft, mit dem Juristen Walter Meyerhoff als Vorsitzendem. Sie versucht einerseits, Schulden abzutragen, andererseits, mit Kammermusik, szenischen Kantatenaufführungen und Sommerkonzerten die Tradition der Festspiele aufrecht zu erhalten.

1933 folgt die Selbstgleichschaltung

Dirigent dieser Konzerte ist der Kunsthistoriker Wolfgang Stechow. Er hatte schon 1920 Oskar Hagen tatkräftig unterstützt und auch die vielbeachtete euphorische Besprechung der "Rodelinde" verfasst. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, wird der Privatdozent Wolfgang Stechow aus dem Universitätsdienst entfernt – er gilt im Nazideutsch als "Halbjude". Nun steht die Frage, ob Stechow weiter im Vorstand der Händelgesellschaft tätig sein kann. Deren Vorsitzender Walter Meyerhoff entscheidet sich für eine Selbstgleichschaltung. So nennt es der Musikwissenschaftler Lars Klingberg.
"Es gab es keinen direkten Druck auf die Gesellschaft am Anfang. Am Anfang 1933 gab es einen vergleichbaren Druck nicht. Man hat sich da schon sehr kompromissbereit gezeigt, 1933 hat er dafür gesorgt, dass die Göttinger Händelgesellschaft Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur wurde, also dieser NS-Organisation, die später dann die Kulturgemeinde wurde. Man muss sich schon fragen, ist er nicht zu weit gegangen. Also im Fall Stechow auf jeden Fall."
Der verdiente Händelenthusiast Wolfgang Stechow wird aus dem Vorstand geworfen – er emigriert in die Vereinigten Staaten. Oskar Hagen vermittelt ihm eine Stelle in Wisconsin. Dort wird Stechow ein einflussreicher Kunstwissenschaftler.
"Es gibt einen sehr interessanten Aufsatz, den er 1946 dann in den USA schon publiziert hat. 'Definitions of the Baroque and the visual arts', wo er also sozusagen zu diesen Definitionsfragen Stellung nimmt", so die Kunstwissenschaftlerin Uta Engel. "Und er sagt da ganz klar, dass die Kunstgeschichte große Fehler gemacht hat in dem Runterbrechen dieses Barocks auf solche nationalen Prinzipien. Der englische Begriff, den er verwendet, ist 'we were the first to make a mess of it', also er sagt, wir haben es wirklich vermasselt. Das ist eine sehr interessante Position, die zeigt, dass es eben auch die Möglichkeit gab, dass Kunsthistoriker gerade im angelsächsischen Exil angefangen haben, aus der Distanz sehr kritisch über das zu reflektieren, was diese Forschungstradition in Deutschland bis 1933 gebracht hat."

Für die Nazis ist Händel der "Wikinger der Musik"

In Nazi-Deutschland übernehmen völkische Mythologen die Händel-Interpretation. Alfred Rosenberg, der führende Ideologe der NSDAP, spricht von Händel als dem "Wikinger der Musik", erstmals erhalten die Händelfestspiele finanzielle Unterstützung des Staates – aus Goebbels´ Propagandaministerium. Händels Opern werden in der Nazi-Zeit mit chorischen Massenszenen inszeniert, die teils jüdischen Stoffe und Namen der Heldenfiguren werden arisiert. Vielen mag heute aufgrund der historischen Erfahrung der Aufstieg der Nazi-Ideologie auf der Basis völkischer Kultur als unausweichlich erscheinen, ob er zwingend war, ist fraglich.
Was man aber feststellen muss: Oskar Hagen und einige entscheidende Mentoren der Händel-Renaissance wurden zu ideellen Steigbügelhaltern. Wie es dazu kam, dass am Ende Hitler aufsatteln konnte, hat 1934 der deutsche Historiker Arthur Rosenberg im englischen Exil so beschrieben:
"Dass man einen Staat in Goethes Stadt gründete, gab keine Gewähr für einen Staat im Geiste Goethes. Es garantierte nicht einmal seinen Bestand. Die Republik wurde in der Niederlage geboren, lebte im Aufruhr und starb in der Katastrophe, und von Anfang an gab es viele, die ihrer Plackerei mit völliger Gleichgültigkeit oder mit jenem ruchlosen Entzücken am Leiden anderer zusahen, für das die deutschen das vielsagende Wort Schadenfreude geprägt haben. Ich möchte hinzufügen, dass eben dieser bequeme Pessimismus, der die Republik für von Anfang an zum Untergang verurteilt ansah, dazu beigetragen hat, die eigenen Prophezeiungen zu erfüllen. Das Ende der Republik war nicht unvermeidlich, denn es gab Republikaner, die Weimar als Symbol ernst nahmen und zäh und mutig bemüht waren, dem Ideal konkreten Inhalt zu verleihen."

Autoren, Regie und technische Realisierung: Tobias Barth und Lorenz Hoffmann
Es sprachen: Tobias Barth und Henrik Wöhler
Redaktion: Winfried Sträter

Im Feature wurden Tonauszüge eines Ausstellungsfilmes verwendet, erstellt von Oliver Becker und Fabian Fess - wetellmedia.de, Göttingen
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