Guy Stern und die Ritchie Boys

Wie Deutsche in der US-Armee die Nazis bekämpften

29:31 Minuten
Die Ritchie Boys sowie Familienmitglieder und Freunde machen 2012 eine Bustour über das ehemalige Gelände. Die Veteranen des Zweiten Weltkriegs besuchen Camp Ritchie, ihr ehemaliges Ausbildungszentrum für den militärischen Geheimdienst.
Besuch im ehemaligen Ausbildungscamp: die Ritchie Boys, Veteranen des Zweiten Weltkriegs, sowie Familienmitglieder und Freunde. © The Washington Post / Getty Images / Katherine Frey
Von Michael Reitz · 16.02.2022
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Sie waren Emigranten und kämpften in der US-Armee gegen die Nationalsozialisten: die Ritchie Boys. Unter ihnen war der deutsche Guy Stern, der 1937 in die USA geflohen war. Für manche ging der Einsatz nach 1945 noch weiter.
Franklin Delano Roosevelt, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, verkündet am 8. Dezember 1941 den Kriegseintritt seines Landes gegen Japan. Einen Tag zuvor hat das Kaiserreich mit einem Überraschungsschlag den US-Stützpunkt Pearl Harbour angegriffen.
Wenige Tage später erklärt Hitler den USA den Krieg. Die USA reagieren schnell – mit einer gewaltigen Aufrüstung ihrer Streitkräfte. Und der Gründung eines militärischen Geheimdienstes. An der Ostküste, im US-Bundesstaat Maryland, befindet sich ein altes Ausbildungslager der Nationalgarde, benannt nach dem ehemaligen Gouverneur Albert C. Ritchie. Als es nun der Militärgeheimdienst „Military Intelligence Service“, kurz MIS, übernimmt, heißt es nur noch Camp Ritchie.

Idyllisch mitten in den Wäldern an einem See gelegen werden dort im Eiltempo beheizbare Zelte als Kasernen errichtet, die später festen Holzhäusern weichen. Zeitweise sind hier bis zu 5000 Rekruten gleichzeitig untergebracht. Während des Krieges durchlaufen insgesamt 15.000 Soldaten das Ausbildungscamp.    

Nachrichtendienstliche Ausbildung

„Hier ging es darum, dass man entsprechend deutschstämmige, vor allem Deutsche, Österreicher, die natürlich kulturell erfahren waren, die aus dem Heimatland kamen, die Sprache sprachen, die Kultur kannten und so weiter, nachrichtendienstlich ausgebildet wurden. Das war das Besondere und Neue“, erklärt der Historiker Bodo Hechelhammer.
„Das heißt, es ging ja nicht primär um einen militärischen Einsatz, sondern um die Fortführung des Kampfes mit nachrichtendienstlichen und psychologischen Mitteln – und in der Intensität und Professionalität war das bestimmt eine neue Stufe.“

Geheimdienstliche Tätigkeit, verdeckte Operationen und den Feind mit nahezu unsichtbarer Kriegsführung in Bedrängnis zu bringen – diese Fähigkeiten sind 1941 in den USA nicht besonders hoch entwickelt. In dieser Hinsicht lernt man jedoch schnell.

„Es war learning by doing, weil, man hatte ja keine Erfahrungswerte. Man hatte ja keine Erfahrung. Der letzte Krieg war lange her – 20 Jahre, wenn man so will. Es war nicht mehr viel Personal vorhanden, das in diesem Bereich tätig gewesen ist, im Ersten Weltkrieg“, sagt der Historiker Robert Lackner von der Universität Graz.

Wichtigkeit "psychologischer Kriegsführung"

Die US-Militärs sind überzeugt: mindestens ebenso wichtig wie militärische Siege ist die „psychologische Kriegsführung“, die Bekämpfung des Feindes mit nichtmilitärischen Mitteln. Eine Disziplin, die im gesamten Zweiten Weltkrieg auf allen Seiten eminent wichtig ist und ständig perfektioniert wird.

„Propaganda, Gegenpropaganda, das war dann ja auch wichtig für die Leute von Camp Ritchie“, sagt Hechelhammer. „Das heißt auch, professionelle Demotivation des deutschen Kampfgeistes, indem man natürlich, weil man Deutscher war, viel zielgerichteter ansprechen konnte, dass eine Weiterführung des Krieges, des Kampfes, sinnlos ist. Und das kam durchaus überzeugender von denjenigen, die aus Deutschland selbst kamen, als wenn es irgendwelche GIs einem vorgesprochen haben.“
Bei den US-Streitkräften erkennt man schnell das Potenzial, das in den zahlreichen vor allem deutschsprachigen Emigranten liegt. Die Historikerin Rebekka Göpfert hat mit dem Filmemacher Christian Bauer eine kurze Geschichte der deutschen Emigranten beim US-Geheimdienst geschrieben. Unter dem Titel „Die Ritchie Boys“.

„Die wussten, wie die Deutschen tickten, die kannten diese Autoritätshörigkeit. Die wussten, wie man die Deutschen ansprechen konnte, um sie zu überzeugen. Ich glaube, das war der entscheidende Vorteil gegenüber allen anderen Geheimdiensten, die eben nicht mit Native Speakern, nicht mit Muttersprachlern, gearbeitet haben, die die deutsche Kultur nicht kannten.“

Abseits des normalen Rekrutierungsbetriebs

Rekruten, die Deutsch sprechen, aber auch andere Sprachen wie Französisch oder Italienisch, werden aus dem normalen Rekrutierungsbetrieb herausgefiltert und nach Camp Ritchie geschickt. Der Schriftsteller Andreas Pflüger hat unter dem Titel „Ritchie Girl“ 2021 einen Kriminalroman veröffentlicht, in dem er sich unter anderem mit der Rolle der wenigen Frauen im Camp Ritchie auseinandersetzt. Das Buch basiert auf einer jahrelangen minutiösen Recherchearbeit des Autors. Was die Rekrutierungspraxis bei Camp Ritchie angeht, beschreibt er ein Kuriosum.
„Darunter waren auch Männer, die hatten noch gar nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft. Man sollte das gar nicht vermuten, dass die US Army Männer eingezogen hat, die noch nicht mal Amerikaner waren vor dem Gesetz. Noch in Camp Ritchie wurden Einbürgerungszeremonien durchgeführt.“ 
Einer von ihnen ist der 1922 in Hildesheim geborene Günther Stern. Er ist das einzige von fünf Familienmitgliedern, das 1937 aus Deutschland fliehen konnte. 1942 meldet sich Guy freiwillig zur US-Armee.

Auch Stefan Heym war ein Ritchie Boy

„Seine Aufgabe war es, gefangene deutsche Soldaten zu verhören und ihnen wichtige Informationen zu entlocken“, sagt Historiker Robert Lackner.
„Das heißt, er wollte zum Beispiel wissen, wo befindet sich im Kriegsgebiet ein Maschinengewehr-Nest, wo gibt es ein Minenfeld. Das sind Informationen taktischer Natur. Aber dann gibt es auch Informationen strategischer Natur. Das heißt, man wollte zum Beispiel wissen, wie steht es um die Moral des Feindes, wie sieht es um die Nachschubwege aus?“
Guy Stern spricht 2019 als Gast im Landtag zu den Abgeordneten.
Guy Stern meldete sich 1942 freiwillig zur US-Armee.© picture alliance/dpa
Zu Guy Sterns Kameraden gehört der Schriftsteller Hans Habe, der nach dem Krieg das Pressewesen in der amerikanischen Besatzungszone und der Bundesrepublik aufbaut. Guy Stern lebt heute in Michigan, im Januar ist er hundert Jahre alt geworden. An einen Kameraden erinnert er sich besonders.

„Stefan Heym, den ich nach dem Krieg, also nach dem Waffenstillstand besser gesagt, kennenlernte und ihm auf mehreren Konferenzen über Exilliteratur und verwandte Themen dann immer wieder begegnete. Ich wurde sogar von der Zeitung ‚Aufbau‘ beauftragt, seinen Nachruf zu schreiben, als Stefan Heym starb.“

Vorbehalte gegen die Deutschen

Stern erinnert sich, dass manche US-Amerikaner Vorbehalte gegen die Deutschen in dem Spezial-Camp in Maryland hatten.

„Wir hatten eine ganze Kompanie von Wachposten, die waren zum Teil aus den Südstaaten, und die hatten kein großes Verständnis für uns. Und unser Dienstältester in unserer Mannschaft verschaffte uns dieses Verständnis. Er kam aus einer ziemlich wohlhabenden Familie, ging in den nächsten Liquor Shop – also Alkohol verkaufenden Laden - und kaufte für jeden Diensthabenden in unserem Rang eine Flasche. Und das lockerte das Verhältnis, und wir hatten ein gutes Verhältnis zu dieser Mannschaft.“

Die Ausbildung in Maryland dauert zwar nur wenige Wochen, doch sie ist ausgesprochen intensiv und kräftezehrend, zumal die meisten der Ritchie Boys – wie sie sich nach dem Krieg selber nannten – Intellektuelle sind, Musiker, Künstler, Schriftsteller. Von militärischem Drill, Gehorsam und Fahnenappellen halten sie nicht viel, so der Geschichtswissenschaftler Bodo Hechelhammer.

„Aber ihre Stärken waren etwas anderes. Das war natürlich ihr Geist, ihr Verstand, ihr Intellekt, und den zielgerichtet einzusetzen, das ist dann schon was Besonderes.“ 

Ausbildung in Morsen und Verhörmethoden

Deshalb unterscheidet sich ihre Ausbildung von der der herkömmlichen Soldaten. Zwar lernen Stefan Heym oder Hans Habe, wie man eine Waffe durchlädt und damit schießt. Aber hauptsächlich werden den Ritchies Funken, Morsen, Fragetechniken, Propaganda- und Desinformationstricks sowie Verhörmethoden beigebracht.

„In den Erinnerungen von den Ritchie Boys wird das zum Teil ziemlich klamaukhaft geschildert. Die hatten offensichtlich auch eine Menge Spaß im Unterricht. Es war wie einen Sack Flöhe hüten“, sagt die Historikerin Rebekka Göpfert.

Das bedeutet nicht, dass die Ritchie Boys - und nicht zu vergessen einige Dutzend Ritchie Girls - ihre Ausbildung nicht ernst genommen hätten, so Robert Lackner.

„Natürlich hat man es nicht geschafft, aus den Ritchie Boys eine Kämpfertruppe zu machen. Aber das war auch nicht die Aufgabe. Aber man hat es bis zum Ende des Krieges hinbekommen, dass diese Einheiten auch für sich allein sorgen konnten. Sie hatten einen gewissen Autonomiegrad. Das heißt, sie waren mit ihren Einheiten im Feld, im Einsatz, durften sich aber dort eigentlich recht frei bewegen.“

Bewährung in der Praxis

Die offizielle Bezeichnung der Absolventen ist Interrogators of Prisoners of War, kurz IPW – Verhörleiter für Kriegsgefangene. Wenn etwa eine Einheit der US-Armee Soldaten der Wehrmacht oder SS gefangengenommen hat, fordert sie ein IPW-Team an, die die Befragungen durchführen.
Als im Juli 1943 alliierte Truppen auf Sizilien landen und im Juni 1944 in Frankreich, müssen sich die Ritchie Boys nach der theoretischen Schulung in der Praxis bewähren. Einen Grundsatz gibt es, der nicht gebrochen werden darf, so Guy Stern.

„Die allererste Unterrichtsstunde, die wir im Ausbildungslager Camp Ritchie hatten, war eine Erinnerung daran, dass die Vereinigten Staaten das sogenannte Genfer Abkommen unterschrieben hatten, in dem unter anderem ausgehandelt wurde, dass wir uns an einem Gefangenen nicht vergreifen würden. Es verpflichtete uns auch, einer Warnung entgegenzukommen, die uns der damalige Ausbildungsoffizier sagte, nämlich, ein Angriff auf einen Gefangenen verfälscht seine Aussage.“

Die Nerven zu behalten: das ist eine Herausforderung für einen jüdischen Offizier, der einem SS-Schlächter gegenübersitzt. Guy Stern erinnert sich, „dass uns auch gesagt wurde, wenn Ihr Euch an einem Gefangenen vergeht, dann kommt Ihr bei uns vor ein Kriegsgericht, denn Ihr habt unsere Anordnungen dann missachtet. Und das ist auch geschehen.“

Psychotricks statt Gewaltanwendung

Der Historiker Robert Lackner hat sich ebenfalls mit der Frage beschäftigt, ob es zu Übergriffen während der Verhöre gekommen ist. Sein Resümee:

„Das scheint, wenn es gelegentlich vorgekommen ist, die Ausnahme gewesen zu sein, denn man war sich schon bewusst darüber, dass man mit Gewaltanwendung nicht immer die Informationen bekommt, die man haben will. Man muss sich das vielleicht auch so vorstellen: da gab es gar nicht die Zeit, um jemanden so zu foltern, sondern da ging es darum, in sehr kurzer Zeit relevante Informationen herauszuholen aus dem betreffenden Soldaten. Und da hat man sich eher auf Psychotricks verlegt als auf Gewaltanwendung.“

In den Nachbesprechungen der Verhöre läuft die Fantasie der Ritchie Boys auf Hochtouren. Wie kann man den Kriegsgefangenen noch mehr Informationen entlocken, wie setzt man sie unter Druck, ohne direkte Gewalt anzuwenden? Wie sorgt man dafür, dass die kämpfenden Kameraden möglichst effektiv von den Informationen profitieren?
Robert Lackner nennt ein Beispiel.

„Da gab es eine sehr interessante Methode, die auch Leo Handel angewandt hat. Leo Handel, ein Wiener, der in Italien stationiert war mit der 10. US-Division. Und er hat sich eine Kunstfigur überlegt, nämlich einen italienischen Partisanen. Das heißt, Leo Handel oder ein Kollege von ihm hat sich als Partisane verkleidet, und wenn ein deutscher Soldat nicht sprechen wollte, dann wurde diesem Soldaten gedroht, ihn an die Partisanen zu übergeben. Und da kam dann um die Ecke gerannt ein US-Soldat in Verkleidung, mit großem Säbel, mit einem Patronengurt umgehängt, mit Pistolen vielleicht, und hat vehement die Übergabe dieses deutschen Gefangenen gefordert.“

Angst vor den Sowjets ausgenutzt

Berühmt wurde das sogenannte „Russenspiel“, eine Erfindung von Guy Stern. Das Kalkül: Jeder deutsche Soldat hat panische Angst, in sowjetische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Jeder deutsche Soldat oder SS-Mann weiß, dass erstens der Krieg der Nazis in der Sowjetunion durch besondere Grausamkeit gekennzeichnet ist. Und dass sich zweitens die Sowjets nicht an den Verhörstandards der Amerikaner orientieren. Das heißt: Der deutsche Soldat muss in sowjetische Haft mit Schlägen und Folter rechnen.

„Da kamen wir auf den Einfall, dass einer von uns die Rolle eines russischen Kommissars übernehmen sollte. Die Wahl fiel auf mich, und als Attrappen für diese Ausfragung kam zunächst, dass ich einigen befreiten russischen Gefangenen, die in deutscher Gefangenschaft waren, habe ich kommen lassen und mit ihnen Kleidungsstücke ausgetauscht, sodass ich halbwegs wie ein russischer Kommissar aussah.“

Guy Stern nennt sich Kommissar Kruckow. Und er besorgt sich sowjetische Militärorden, die deutsche Gefangene als Souvenir von der Ostfront mitgebracht haben.

„Ich schmückte mich damit, sah metallbehangener aus wie ein gewisser Hermann Göring und trat so vor die Gefangenen hin, hatte mir auch inzwischen einen russischen Akzent angewöhnt. Den entnahm ich von einer Radioserie, in der ein sogenannter Bad Russian, also ein etwas temperamentvoller Russe, spielte. Und diese Attrappen halfen und außerdem die Drohung, dass sie von amerikanischer Gefangenschaft in sowjetische überführt würden. Und das wirkte, obwohl es eine sehr unglaubwürdige Drohung war.“

Informationen durch Bestechung

Selbst hartgesottene SS-Offiziere werden mitteilsam, was Truppenstärke, Munitionierung und Moral der Truppe angeht. Ein weiteres Mittel der Auskunftsermittlung, so Robert Lackner, ist Bestechung. Sie wirkt vor allem bei einfachen Soldaten und niedrigen Dienstgraden. 

„Man hat natürlich versucht, Soldaten mit kleinen Vergünstigungen zum Sprechen zu bringen, mit Zigaretten, mit Schokolade. Und dann hat man mit ihnen auch über gemeinsame Interessen gesprochen. Das heißt, man hat versucht, eine Gemeinsamkeit zu finden und dadurch ein Gespräch zu entwickeln, um den Soldaten so aus der Reserve zu locken.“

Aktionen wie diese verändern das Hallodri-Image der Ritchie Boys in der US-Armee, so Robert Lackner.

„Mit der Zeit, als die ersten Erfolge kamen, als auch die Kommandeure der Feldeinheiten gemerkt haben, das sind Leute, die können mir einen Vorteil verschaffen in meinem Einsatz, da wuchs auch ihr Standing und ihre Reputation. Am Ende des Krieges findet man eigentlich nur noch positive Bewertungen der Ritchie Boys.“

Waghalsige Aktionen

Doch nicht nur List und Tücke bringen den Ritchie Boys Respekt in der kämpfenden Truppe. Es sind vor allem Aktionen, die einem Himmelfahrtskommando gleichen. „Ritchie Girl“-Autor Andreas Pflüger beschreibt eines dieser Husarenstücke.

„Die sind einfach irgendwo in einem Waldstück plötzlich aufgetaucht, bei einer deutschen MG-Stellung, haben angegeben, sie seien von der Einheit Sowieso und seien versprengt worden, haben mit denen eine Zigarette geraucht und bei der Gelegenheit nebenbei herausgefunden, wie die Truppenstärke ist dieser Einheit, wie die nächsten Pläne sind. Dann haben sie denen noch solche Aussagen mitgegeben, wie, hier rücken zwei Millionen amerikanische Soldaten auf Euch zu, seid schlau, macht es wie ich und verdrückt Euch.“

Eine Frage treibt die Ritchies besonders um: Wie schafft man es, dass sich deutsche Soldaten und Offiziere in großer Zahl ergeben und überlaufen? Eine der Maßnahmen sind Lautsprecherwagen, mit denen die Nachrichtenoffiziere in unmittelbarer Nähe der Front hin und herfahren und den Deutschen zum Beispiel den Speiseplan der US-Truppenversorgung mitteilen. Ein lebensgefährliches Unternehmen, denn sehr schnell eröffnen Scharfschützen das Feuer. Nicht wenige der Ritchies kommen dabei ums Leben.
Schwarz-Weiß-Porträt von Stefan Heym aus dem Jahr 1959
Verfasste Flugblätter, die hinter den feindlichen Linien abgeworfen wurden: der Schriftsteller Stefan Heym, hier im Jahr 1959.© picture-alliance / dpa / ADN
Eine andere Maßnahme sind Flugblätter, die sie verfassen und massenhaft hinter den feindlichen Linien abwerfen lassen. Sie sind oft von Stefan Heym verfasst, dem Schriftsteller:

„Ihr Deutschen! Wofür kämpft Ihr? Um einen bereits verlorenen Krieg zu verlängern. Einen Krieg, wenn er noch länger dauert, Euch vernichten wird. Fünf lange Jahre habt Ihr gekämpft, Millionen von Euch sind in Russland gefallen und täglich kommen die Russen der deutschen Grenze näher.“

Wichtig ist bei den Texten, dass den deutschen Soldaten keine Lügengeschichten aufgetischt werden. Es geht eher darum, sie auf das aufmerksam zu machen, was sie entweder schon wissen oder sich zumindest denken können.

„Eure Städte zerfallen mehr und mehr zu Schutt unter den Schlägen der alliierten Luftwaffe. Wenn Ihr Euch noch retten wollt, wenn Ihr Deutschland noch retten wollt, gibt es nur einen Ausweg. Schluss machen!“

Legende um das Radio Luxemburg

Im Winter 1944/45 gelingt der US-Armee und damit den Ritchie Boys ein ganz besonderer Coup. Sie können den vollkommen intakten Radiosender Luxemburg unter ihre Kontrolle bringen, der eine enorme Reichweite hat.

„Da gab es eine ganze Reihe von verschiedenen Unternehmungen, die nicht nur von der US-Armee und deren Propagandaeinheiten betrieben wurden, sondern auch vom Office of Strategic Services, dem Vorgänger der heutigen CIA“, erklärt Robert Lackner. „Und auch hier kamen Ritchie Boys zum Einsatz, die vom OSS sozusagen ausgeborgt wurden für ganz spezielle Propagandaunternehmungen.“

Denn von hier aus werden nicht einfach nur Nachrichten oder Propagandameldungen verschickt, sondern der Geheimdienst hat sich mit Hilfe der Ritchie Boys eine Legende einfallen lassen: Es sei einer Gruppe von Wehrmachtsoffizieren gelungen zu desertieren und einen Sender in ihren Besitz zu bringen. Sie würden, so die Legende, nicht mit den Alliierten zusammenarbeiten, sondern wollten den Sturz des Nazi-Regimes. Zu diesem Zweck würden sie ihre Kameraden mit ungeschönten Informationen über das Frontgeschehen versorgen.

Radio Luxemburg ist eine der letzten großen Aktionen der Ritchie Boys während des Krieges.

Wichtige Aufgabe bei Entnazifizierung

Doch auch nach der deutschen Kapitulation 1945 erfüllen sie eine wichtige Aufgabe: bei der Entnazifizierung und Demokratisierung Deutschlands, betont die Historikerin Rebekka Göpfert.

„Dass die Reeducation in Deutschland so gut funktioniert hat, ist, finde ich, auch zu einem großen Teil das Verdienst der Ritchie Boys, die nach dem Krieg ja auch ganz maßgeblich beteiligt waren an der Vergabe von Zeitungslizenzen, am Aufbau eines Medienwesens.“

Mehr als ein Dutzend Zeitungen werden auf Initiative des US-Majors Hans Habe für den Aufbau eines demokratischen Pressewesens gegründet. Doch bald nach Kriegsende beginnt die Konfrontation der Westmächte mit der Sowjetunion.

Vor diesem Hintergrund ändert sich die Haltung der amerikanischen Besatzungsmacht. Im Kalten Krieg beginnen die US-Militärs, mit ehemaligen Nazi-Offizieren zusammenzuarbeiten. Vor allem der militärische Geheimdienst des NS-Regimes ist mit seinen Informationen über die Sowjets von unschätzbarem Wert für die Amerikaner, allen voran die 1946 gegründete Organisation Gehlen, aus der später der Bundesnachrichtendienst in Pullach hervorgeht.
Generalmajor Reinhard Gehlen war unter Hitler Chef der Geheimdienstabteilung „Fremde Heere Ost“. Zu seinen Aufgaben hatte unter anderem die Massenbefragung sowjetischer Gefangener gehört, bei denen die Anwendung von Folter ausdrücklich erlaubt war.
Der spätere Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Reinhard Gehlen, in einer Aufnahme aus dem Jahr 1944.
Auch bei der Rekrutierung Reinhard Gehlens – hier 1944 – für die Amerikaner spielten die Ritchie Boys eine entscheidende Rolle.© picture-alliance / dpa / Ullstein
Der Historiker Bodo Hechelhammer hat dazu geforscht, welche Rolle die Ritchie Boys bei der Rekrutierung Gehlens für die Amerikaner spielten.

„Eigentlich gibt es keine offensichtliche Beziehung zu Camp Ritchie und den Ritchie Boys zu der Organisation Gehlen. Aber mir ist aufgefallen, dass es mindestens zwei Protagonisten gab von amerikanischer Seite, die maßgeblich überhaupt dafür verantwortlich waren, dass es die Organisation Gehlen und später den Bundesnachrichtendienst denn überhaupt gegeben hat, und die alle einen klaren Bezug zu Camp Ritchie haben“, sagt Hechelhammer.
„Der eine war John Boker. Der war Instructor in Camp Ritchie, ist dann nach Europa gekommen und war derjenige, der dann `45 Reinhard Gehlen quasi ausfindig gemacht hat oder auf ihn aufmerksam geworden ist und verstanden hat, wer sich ihm da anbietet.“

Geheimdienstmitarbeiter Gehlen läuft über

Dieser Reinhard Gehlen kennt wie kaum jemand in der Wehrmacht die Stärken und Schwächen der Roten Armee, des neuen Gegners der USA und des Westens. Zudem ist relativ schnell nach Kriegsende klar, worauf die Konfrontation zwischen Ost und West hinausläuft: auf die Gründung zweier deutscher Staaten mitsamt ihren neuen Geheimdiensten. Einer der ersten, die das voraussehen, ist Reinhard Gehlen, so Bodo Hechelhammer.

„Hat sich ja denn `45 im April abgesetzt mit Vertrauten und hat sein ganzes Wissen, Karteikartensysteme für ‚Fremde Heere Ost‘ kopiert und man hat sich und dieses Wissen in dem Alpenraum versteckt und nach Kriegsende hat man sich dann kontrolliert den Amerikanern übergeben, weil man richtigerweise spekuliert hat, dass man das Wissen und das Personal nach Ende des Krieges sehr schnell braucht, weil dann als neuer Feind Moskau und die Sowjets wohl auf der Tagesordnung stehen würden.“

Es dauert eine Zeitlang, bis den Amerikanern, voran John Boker, klar wird, wer sich ihnen da anbietet.

„Man kann also sagen, dass er aus seiner Erfahrung mit Camp Ritchie möglicherweise da schon etwas verstanden hat, dass er dieses Momentum, dieses historische Moment, dass einem hier so Intelligence-Mitarbeiter, Geheimdienstmitarbeiter, mit diesem Wissen, angeboten werden, nicht einfach verstreichen lassen darf. Und Boker hat dafür gesorgt, dass Gehlen weiteres Personal zusammenziehen konnte, und es wurde nach Camp Ritchie eigentlich geschickt, um es dort weiter auszuwerten und zu bearbeiten. Und Boker hat dafür gesorgt, dass auch Gehlen mit einer Handvoll Leuten mit nach Amerika geschickt wurde.“
Dort war Reinhard Gehlen mit seinen Dokumenten und einigen wenigen Vertrauten in Fort Hunt stationiert – einem Militärstützpunkt, knapp anderthalb Autostunden von Camp Ritchie entfernt.

Rekrutierung von Ex-Wehrmachtsoffizieren

„Die zweite Persönlichkeit, die einen Bezug zu Camp Ritchie hat und zu der Organisation Gehlen, das war Eric Waldman. Im zehnten Kurs in Camp Ritchie wurde der ausgebildet. Und Waldman war dann für die Gruppe Gehlen verantwortlich und hat also da auch sehr schnell gemerkt, was das für ein Potenzial ist und ist dann mit Gehlen und seinen Leuten wieder zurück nach Deutschland, das war der Verbindungsmann, zu dieser ersten Gruppe dann in Oberursel, und ist dann auch mit nach Pullach gegangen, als man von Oberursel nach Pullach gezogen ist im Dezember `47 und hat dort auf dem Gelände gewohnt.“

Ritchie Boy Guy Stern war an dieser Rekrutierung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere nicht beteiligt. Der heute 100 Jahre alte Stern erinnert sich noch gut an den Moment, als er das erste Mal nach seiner Flucht vor den Nazis deutschen Boden betrat.

„Als ich Deutschland zum ersten Mal wieder besuchte, da hatte ich keine besonderen Gefühle, dass ich Neuland betrat oder Altland oder Zugehörigkeit. Nein, ich kam, genau wie meine amerikanischen Kameraden, die in Amerika geboren waren, ich war amerikanischer Soldat und nichts weiter.“

Zunächst kühler Empfang in der Heimat

Unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands gehört Guy Stern noch zu den Besatzungstruppen und fasst eines Tages einen Entschluss. Er weiß nun, dass die Nazis seine gesamte Familie ermordet haben, trotzdem will er in seine Heimatstadt Hildesheim:

„Dieser erste Ausflug hatte einige sehr unangenehme Folgen. Als ich eingeladen wurde, zu einer Party mitzukommen, da fand ich den Empfang von deutschen Teilnehmern an dieser Party recht, recht kühl. Ich könnte mehr erzählen. Und ich sagte, dies ist nicht mein Land und dies wird mein letzter Ausflug in Deutschland sein.“

Doch es kommt anders. Denn als Guy Stern in die USA zurückkehrt, beendet er sein Germanistikstudium und wird Professor an der Columbia University in New York. In dieser Eigenschaft hat er mehrere Gastprofessuren an deutschen Universitäten und hält Vorträge. Auch in Hildesheim, wo er während der NS-Herrschaft als Jude aus dem Turnverein ausgeschlossen worden war.  

„Der Vorstand von Eintracht Hildesheim besuchte meine Frau und mich am Frühstückstisch im Hotel eines Tages und sagte, der gesamte Ausschuss ist hier und möchte Sie bitten, uns zu vergeben, dass unsere Vorgänger Sie aus dem Turnverein ausgeschlossen hatten. Und das war etwas nach meiner Dienstzeit auch, dass mir immer wieder Leute aus Hildesheim entgegenkamen.“

Guy Stern - vielfach geehrt

Die Stadt Hildesheim verleiht ihm die Ehrenbürgerwürde. Außerdem erhält er mehrere Auszeichnungen der Universitäten, an denen er gelehrt hat, sowie den Großen Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland und die Goethe-Medaille. Von Ruhestand will Guy Stern, der am 14. Januar 2022 hundert Jahre alt wurde, nichts wissen.

„Als ich mich von meiner Uni habe pensionieren lassen, bot mir der Gründer unseres hiesigen Museums zum Andenken an die Opfer des Holocaust eine Stellung an. Innerhalb dieses Museums gibt es einen Kreis oder eine Institution, die heißt, Institute for Altruism, und diese Verwaltung habe ich übernommen.“

Die meisten der rund 15.000 Ritchie Boys arbeiteten nach dem Krieg in zivilen Berufen. Knapp 200 leben noch. Guy Stern ist einer der ältesten von ihnen.

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