Gutmenschen auf den Schlips getreten

Rezensiert von Paul Stänner |
Der in New York lebende Rabbi-Sohn Tuvia Tenenbom war als Reisereporter in Deutschland unterwegs. Und was passierte? Wo immer er auf Deutsche traf, redeten die bald über den Nahost-Konflikt und entpuppten sich als Antisemiten. Die Deutschen sind irgendwie besessen vom jüdischen Thema, findet der Autor.
"Was ich bisher weiß, ist folgendes …"

Ungefähr auf der Hälfte seines Buches zieht Tuvia Tenenbom eine Art Zwischenresümee:

"Fordere freies Wohnen und freie Bildung, trinke kistenweise Bier, sei Mitglied in irgendeinem Verein, sei politisch korrekt, verurteile Israel, iss bio, sei pünktlich, brülle 'Deutschland' oder sei für Nordkorea, kümmere dich entweder nicht darum, was deine Familie während des Kriegs gemacht hat, oder bezeichne dich als jüdisch, sei sehr sauber oder sehr verdreckt, nimm an der einen oder anderen Demonstration teil, diskutiere jedes Detail jeder Frage, bis deinem Gegenüber der Schädel brummt – und du bist ein Deutscher."

Sind wir wirklich so? Gehen wir also mit auf die Reise durch Deutschland. Und sie beginnt so: Der dicke Herr Tenenbom im weißen Hemd mit Hosenträgern ist in Hamburg auf einer Demo der Autonomen. Dort wird sehr viel getrunken, kaum einer kann erklären, gegen wen oder was sich die Demonstration eigentlich richtet. Hauptsache mitlaufen. Irgendwohin.

Die Situation ist schon sehr witzig, wenn er einen Autonomen, der wütend auf die "Bullen" schimpft, weil die nie nachdenken, sondern nur gehorchen, wenn er den Autonomen fragt, wohin die Demo eigentlich geht. Weiß er nicht, sagt der.

"'Du folgst den anderen?'
'Ja'.
'Wie die Polizisten ihren Befehlen?'
Er grinst. 'Ja', sagt er, 'so kann man es sehen.'"


Zum Ausgleich besucht Tenenbom wenig später in Neumünster einen Neonazi-Treff. Er gibt sich als amerikanischer Arier aus, die Leute sind nett, erzählen ihm alles über die Juden, zum Beispiel, dass die Juden von Natur aus Hörner haben, woran sie leicht zu erkennen seien. Wäre es nicht so traurig, könnte es lustig sein, wie kreuzdämlich unsere Extremisten sind. Und er führt sie uns vor.

Tuvia Tenenbom, Sohn eines Rabbi, wurde in Jerusalem geboren. Als Jugendlichen schloss man ihn wegen ungehöriger Fragen aus der Gemeinde aus. Er ging nach New York und machte "Ungehörige Fragen und Ansichten" zu seinem Kernprodukt als Journalist und Theatermacher.

Worunter auch seine Gesprächspartner in Deutschland zu leiden haben – er ist brillant darin, rechten, linken, gutmenschlichen oder rechthaberischen Gesprächspartnern immer die eine, entlarvende Frage zuviel zu stellen, die dann dafür sorgt, dass die Befragten urplötzlich zu einem Termin müssen. Oder dass wichtige Unterlagen, die die eigene Position unwiderlegbar bekräftigen würden, zu Hause liegen. Morgen könne man dann das Gespräch gern fortsetzen. Aber die Verabredung am nächsten Tag findet nie statt.

Tenenbom scheut keine Begegnung und keine fremde Meinung. Er streitet mit Muslimen über den Koran, den er besser kennt, und macht sich über einen orthodoxen Rabbi lustig, der listenreich die Verbote seiner Religion austrickst. Eigentlich scheint er nur jene Gruppe von Schülern zu mögen, die immer mehr über die Verbrechen der Nazis an den Juden wissen wollen, als ihre Lehrer ihnen sagen.

Auch mit Prominenten hat er sich auf seiner Reise durch Deutschland verabredet – Helmut Schmidt gehört dazu. Von ihm lässt er sich bestätigen, dass dieser einen jüdischen Großvater hatte, und nennt den Ex-Bundeskanzler fürderhin "Rabbi Schmidt", was nicht viel über den protestantischen Kettenraucher, aber einiges über Tenenbom aussagt.

Er interviewt Medienmenschen, die aber blass und vage bleiben, was darauf hindeutet, dass er keinen richtigen Zugang zu ihnen gefunden hat. An Kai Diekmann von der Bildzeitung wundert ihn immerhin, wie reflexartig verbissen sich der Nicht-Jude Diekmann für Israel einsetzt.

"Ich glaube nicht, dass ich jemals einem so engagierten Juden begegnet bin."

Der rote Faden des Buches ist das Verhältnis der Deutschen zu den Juden, den lebenden und den toten, zu denen in Deutschland und in Israel. Die Deutschen seien besessen vom jüdischen Thema. Allerdings wenn sie nicht von allein darauf kommen, stellt er die richtigen Fragen – und schwupps! sprechen sie davon, wovon sie so besessen sind.

Oft genug macht er dies fest an dem Verhältnis seiner Gesprächspartner zu den Feinden des jüdischen Staates, den Palästinensern und Iranern. Sein Problem ist es, dass er Kritik am Staat Israel schnell gleichsetzt mit Antisemitismus.

Und was ist gut an Deutschland? Das Essen, die Autos, die Architektur. Ansonsten:

"Die Deutschen, die ich traf, teilen Eigenschaften, die ich als deutsch bezeichnen würde: Technikbegeisterung, Selbstgerechtigkeit, eingefleischten Antisemitismus, kulturelle Neugier, Sturheit, visuelles Genie, Amerikanachäfferei, Gesetzesfetischismus, blitzgescheite Dummheit und, am schlimmsten von allem, kindischen Extremismus."

Wirklich Bedenkenswertes über die Deutschen steckt nicht in Tuvia Tenenboms Erkenntnissen, sondern in einem Zitat des Sylter Sternekochs Johannes King:

"Lebensfreude ist nicht unbedingt das, was einem Deutschen ins Gesicht geschrieben steht. Das Auto darf keinen Kratzer haben, der Nachbar keine bessere Uhr, und eine Platinkarte muss es schon sein. Wie soll man angesichts dieser drei Grundvoraussetzungen noch Spaß am Leben haben?"

Dieser Mann hat Recht. Wir haben Grund, uns Sorgen zu machen.

Tuvia Tenenbom: Allein unter Deutschen – Eine Entdeckungsreise
Aus dem Amerikanischen von Michael Adrian
Suhrkamp Verlag Berlin 2012
431 Seiten, 16,99 Euro
Cover: "Allein unter Deutschen" von Tuvia Tenenbom
Cover: "Allein unter Deutschen" von Tuvia Tenenbom© Suhrkamp