Gustave Flaubert: "Lehrjahre der Männlichkeit"

Gesellschaft der Phrasen und Possen

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Cover des Buches "Lehrjahre der Männlichkeit" von Gustave Flaubert
"Lehrjahre der Männlichkeit": Flaubert litt am Leben, aber er wusste, wie er sich rächen konnte: mit der boshaft genauen Beschreibung. © Hanser / Deutschlandradio
Von Wolfgang Schneider · 28.10.2020
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Flauberts Klassiker "Lehrjahre der Männlichkeit" bietet einen grandiosen Einblick in die Zeit des 19. Jahrhunderts. Elisabeth Edls Neuübersetzung hat viele Stärken - aber auch ein paar kleinere Schwächen.
Konnte man das Unglück der Madame Bovary noch als bedauerlichen Einzelfall bagatellisieren, so lassen die "Lehrjahre der Männlichkeit" keine Ausflüchte mehr zu: Die ganze Gesellschaft ist verkorkst, und keine Revolution kann daran etwas ändern.
Flaubert leidet am Leben, und seine Rache ist die boshaft genaue Beschreibung. Deshalb ist es auch eine Mentalitätsfrage, wie man auf diesen Roman reagiert: Die einen werden ihn langatmig finden, die anderen jede Seite genießen. Wie Franz Kafka, der schrieb: "Die ‚Éducation sentimentale‘ aber ist ein Buch, das mir durch viele Jahre nahegestanden ist, wie kaum zwei oder drei Menschen."
Es ist ein Gesellschaftsroman, der geradezu mustergültig die Erkundung des Privatlebens mit großen historisch-politischen Linien verknüpft. Über ein Vierteljahrhundert folgen wir den Bemühungen und Erlebnissen Frédéric Moreaus in Paris und in der Provinz. Die Mittelmäßigkeit und Unschlüssigkeit dieser Figur fanden zeitgenössische Kritiker abstoßend. Gerade die Mittelmäßigkeit bietet den Lesern aber einen getreuen Spiegel, in den mancher freilich nicht gern hineinsieht.

Ton heruntergekühlt, Pathos ironisch

Ob Flaubert Frédérics streckenweise geradezu alberne, über viele Jahre verschleppte Liebe zur vergötterten, nur leider schon verheirateten Madame Arnoux beschreibt, ob er junge Männer über ihre hochfliegenden Pläne (Literatur, Kunst und Politik betreffend) debattieren lässt oder ob er die Revolution von 1848 schildert - wo Frédéric als Schlachtenbummler durch die umkämpften Pariser Straßen streift und Zeuge wird, wie der "Pöbel" einen verlassenen Palast stürmt und sich an den Möbeln dort schadlos hält – letztlich ist das alles eine einzige Farce, überall Phrasen und Posen, auch wenn sich die Beteiligten dabei noch so erhaben vorkommen. Selbst wo Flaubert Leidenschaften schildert, ist sein Ton heruntergekühlt und das Pathos ironisch.
Diese trockene, aber allgegenwärtige Ironie zu vermitteln ist eine große Herausforderung, die in den meisten der bisherigen Übersetzungen des Romans wenig geglückt ist. Elisabeth Edls Neuübersetzung ist nun dichter am Original als alle bisherigen. Sie hat sich Flauberts Ethos der Genauigkeit auf die Fahnen geschrieben. Und das ist ein Gewinn.
Auf der anderen Seite führt die Wörtlichkeit manchmal aber auch zu Umständlichkeiten oder ungelenken Formulierungen. Da wird zum Beispiel jemand beschrieben, der nachlässig angezogen ist: Es "schaute unter einer Weste mit Schalkragen ein kaffeefleckiges Kalikohemd hervor; Nadeln aus Chrysochalk steckten in zerschlissenen Halsbinden". Das klingt eher erlesen als schäbig.
In anderen Übersetzungen ist von einem "kaffeebefleckten Baumwollhemd" die Rede sowie von "unechten Goldnadeln" oder Nadeln aus "Talmigold". Das ist etwas freier, aber verständlicher übersetzt, während Edls exakte Formulierung eine Anmerkung erfordert. Wörtlich übersetzt Edl auch eine Interjektion wie "Saprelotte!" – was heute merkwürdig altmodisch klingt, erst recht, wenn es um Revolutionäre im Sturmlauf geht: "Ach! Sapperlot! Fast hätt ich’s vergessen! Die Forts sind besetzt. Ich muss da hin!"

Breitbeinig und effektheischend

Der renovierte Titel "Lehrjahre der Männlichkeit" wirkt zunächst etwas breitbeinig und effektheischend, als sollte der Roman an aktuelle Geschlechterdiskurse angeschlossen werden. Edl kann in ihrem vorzüglichen Nachwort jedoch gute Argumente für diesen Titel vorbringen, den schon Friedrich Schlegel in seinem Roman "Lucinde" als Formel für das Konzept der "Lehrjahre" ins Spiel brachte. Natürlich ist auch dieser Titel ironisch, weil außer ein paar sentimentalen Erinnerungen bei Frédérics "Lehrjahren" nichts herauskommt.
Flaubert hat einen ungeheuren Recherche- und Realien-Aufwand für dieses Buch getrieben. Umso schöner, dass diese bibliophile Ausgabe einen großen Anmerkungsteil enthält. So lässt sich der historische Detailreichtum des Romans besser erschließen, der ja auch ein grandioses Museum der Alltagsgeschichte des bürgerlichen 19. Jahrhunderts ist.

Gustave Flaubert: "Lehrjahre der Männlichkeit"
Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München 2020
800 Seiten, 42 Euro

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