Guillermo Martínez: "Der Fall Alice im Wunderland"

Logik und Moral stehen nicht auf der gleichen Seite

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Zu sehen ist das Cover des Buches "Der Fall Alice im Wunderland" von Guillermo Martínez.
Alle haben in "Der Fall Alice im Wunderland" von Guillermo Martínez irgendwie auch Dreck am Stecken. © Eichborn Verlag / Deutschlandradio
Von Tobias Gohlis · 19.06.2020
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Eine ehrwürdige Oxforder Bruderschaft in Aufregung: "Der Fall Alice im Wunderland" von Guillermo Martínez ist eine kunstvolle Wiederbelebung des Rätselkrimis – und zugleich eine nachdrückliche Warnung vor zu viel Wissenschaftsgläubigkeit.
Lewis Carroll, der Schöpfer derart fantastischer und verspielter Kinderbücher wie "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" hatte ein sehr irritierendes Hobby: Der leidenschaftliche Fotograf lichtete mit Vorliebe kleine Mädchen ab.

Leidenschaft für Mädchenfotografie

Von der elfjährigen Alice Liddell, dem Vorbild seiner Alice, sind beispielsweise zwei Fotografien überliefert. Das eine zeigt sie als lasziv ins Objektiv lächelndes Bettlermädchen, das andere hochanständig bekleidet als Tochter des Dekans des Colleges Christ Church in Oxford, an dem Charles Dodgson, so Lewis Carrolls bürgerlicher Name, als Tutor Mathematik unterrichtete.
Carrolls Leidenschaft für Mädchenfotos mag in der Mitte des 19. Jahrhunderts einen Hauch von Unschuld besessen haben, heute gilt das ganz gewiss nicht mehr. Und damit – mit versteckter und offener Pädophilie – spielt der bravouröse Kriminalroman des Argentiniers Guillermo Martínez: "Der Fall Alice im Wunderland".
Martínez, 1962 in Argentinien geboren, ist Mathematiker und hat sein deutsches Publikum 2005 mit dem Krimi "Die Pythagorasmorde" fasziniert, in dem er seine Ermittler etabliert hat: den superschlauen Logiker Arthur Seldom und seinen Sidekick Guillermo Martínez.

Mit Skepsis zum Ziel

Im aktuellen "Fall Alice im Wunderland" ist die in Oxford residierende äußerst ehrwürdige Lewis-Carroll-Brüderschaft mit der Tatsache konfrontiert, dass eine junge Doktorandin im Nachlass des Schriftstellers eine Notiz gefunden hat, die ihr zufolge eine sensationelle Neuinterpretation des Verhältnisses zwischen Carroll, Alice und ihren Eltern erzwingt.
Doch kaum ist diese Nachricht im aller engsten Kreis bekannt geworden, ereignet sich eine Reihe von Mordanschlägen und Morden – Gelegenheit für Seldom und seinen Adlatus, ihre Kunst als Spurenleser, Kryptologen und Logiker zu zeigen.
Wie bereits die "Pythagorasmorde" ist auch "Der Fall Alice im Wunderland" eine kunstvolle Wiederbelebung des Rätselkrimis – aber auf der Höhe unserer Zeit. Die Enträtselungskunst der Detektive führt keinen Triumph des detektorischen Denkens vor, sondern seine skeptische Relativierung: Alle Logik führt nicht nur zum wissenschaftlichen Zweifel – eine nachdrückliche Warnung vor Wissenschaftsgläubigkeit, sondern zum Zweifel an der Wissenschaft selbst.

Alte Idee wiederbelebt

Jedes Mitglied der ehrwürdigen Carroll-Bruderschaft, auch Seldom, hat Dreck am Stecken. Wichtiger noch: Alles, was nach planvoll rationalem Mord roch, entpuppt sich als Ergebnis von Zufall und dem Bestreben, das moralisch Beste zu tun. Damit ist dem Schriftsteller Martínez etwas gelungen, was dem Mathematiker wohl schwerfallen würde: eine spannende Widerlegung der altverwurzelten Krimiidee, dass Logik und Moral gemeinsam auf der guten Seite stehen.

Guillermo Martínez: "Der Fall Alice im Wunderland"
Aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar
Eichborn Verlag, Köln 2020
320 Seiten, 16 Euro

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