Großbaustellen in Baden-Württemberg

Problemkinder Stuttgart 21 und Karlsruher Kombilösung

11:03 Minuten
Die Baustelle Stuttgart 21: Hier entsteht der neue Durchgangsbahnhof.
Stuttgart 21 wird immer teurer: Hier entsteht der neue Durchgangsbahnhof der Hauptstadt Baden-Württembergs. © imago images / Arnulf Hettrich
Von Uschi Götz · 03.06.2019
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Große Bauprojekte werden immer teurer und nicht fertig – zumindest nicht pünktlich. Dass dieses Vorurteil allzu oft zutrifft, zeigen zwei Beispiele aus Baden-Württemberg: Besonders eklatant ist das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21.
Tagesschau-Sprecher: "Das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 wird nochmals teurer und später fertig als geplant. Was Kritiker schon lange befürchtet hatten, bestätigte jetzt der Aufsichtsrat der Bahn. Er erhöhte den Finanzierungsrahmen auf 8,2 Milliarden Euro. Der Termin für die Eröffnung wurde um vier Jahre verschoben, auf 2025."

Böses Erwachen in Stuttgart

Noch vor der Planung, und lange vor dem ersten Spatenstich eines Großprojekts, wurde ein entscheidender Fehler gemacht. Das beobachtet der Bund der Steuerzahler bei nahezu allen Großprojekten in Deutschland. Eike Möller, stellvertretender Landesgeschäftsführer in Baden-Württemberg:
"Es ist halt oft so, dass die Chancen eines Projektes gesehen werden, und dass auch mit einer gewissen Begeisterung dann dieses Projekt angegangen wird. Die Risiken aber ausgeblendet werden. Und dann auch die Kosten, sagen wir mal, künstlich runtergerechnet werden. Da gibt es vielleicht so eine Planungseuphorie. Wenn dann die Risiken systematisch ausgeblendet werden, dann erfolgt oft später das böse Erwachen."
"Wir waren damals bei der Pressekonferenz vor 25 Jahren, waren wir alle der Meinung, das ist eine tolle Idee. Der Teufel hat sich geradezu überschlagen. Und der Rommel meinte auch: Da ist alles günstig", erinnert sich der frühere Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Heinz Dürr in einer SWR Dokumentation.

S21 - ein 25 Jahre alter Traum

Im April 1994 wurde das "Projekt Stuttgart 21" erstmals bei einer Pressekonferenz öffentlich vorgestellt. Mit dem Bauvorhaben waren die Neuordnung des gesamten Bahnknotens Stuttgart sowie ein Durchgangsbahnhof unter der Erde mitten in der Landeshauptstadt gemeint.
Damals ging man von Baukosten in Höhe von etwa fünf Milliarden Mark aus, das sind heute rund zweieinhalb Milliarden Euro. Was ist passiert?

"Am Anfang gab es schlicht keine Finanzierung", erinnert sich Jörg Hamann, viele Jahre Lokalchef der Stuttgarter Nachrichten, heute Sprecher der Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm. "Unter den künftigen Projektpartnern ging es teilweise zu wie auf einem orientalischen Basar."

Verhandlungen hinter den Kulissen

Die Projektpartner sind Land, Region, Stadt Stuttgart und die Bahn. Während die Planungen laufen, wird hinter den Kulissen verhandelt. Fünf Jahre vergehen, im Bund lässt die neugewählte rot-grüne Regierung vor der Jahrtausendwende alle Großprojekte prüfen. 1999 kommt es dabei zu einem Planungsstopp bei Stuttgart 21:

"Planungsstopp bedeute hier in Stuttgart, dass ein Büro, das man bis dahin aufgebaut hatte mit etwa 120 Leuten, geschrumpft hat, auf etwa noch ein Dutzend."
2005 kommt es zur Bildung einer Großen Koalition, Angela Merkel wird Bundeskanzlerin. In Baden-Württemberg unterschreiben 2009 alle Projektpartner einen Finanzierungsvertrag für das Bahnprojekt Stuttgart 21 in Höhe von gut drei Milliarden Euro.

"Während der Basar-Phase hatte man zwar die Finanzierung des Projekts ermöglicht, es aber versäumt, die Bürger von dessen Nutzen zu überzeugen."
Demonstration an der Staatsgalerie von Gegnern des Bauprojekts Stuttgart 21 im Jahr 2010.
Die Bevölkerung wurde im Planungsprozess nicht mitgenommen: Demonstration gegen S21 an der Staatsgalerie im Jahr 2010.© imago / Horst Rudel
Kaum ein paar Monate im Amt legt Ende 2009 der damalige Bahnchef Rüdiger Grube, die "Sollbruchstelle" für Stuttgart mit rund 4,5 Milliarden Euro fest. Von Anfang an waren die Grünen gegen das Bahnprojekt. Noch als Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Bundestagsverkehrsausschusses warnte Winfried Hermann vor nicht kalkulierbaren Mehrkosten und berief sich auf entsprechende Gutachten.
Heute ist Hermann Verkehrsminister in Baden-Württemberg und sagt, allen voran Grube habe das Projekt schön gerechnet:
"Grube war ein schönes Beispiel, wie man für die Öffentlichkeit versucht hat, phasenweise das ohnehin schon teure Projekt schlank und preiswert zu rechnen. Und am Ende holt einen das alles ein, was eben nicht der Realität entsprochen hat."
Auch Unternehmen sind bisweilen mitverantwortlich, dass von Anfang mit falschen Zahlen gerechnet wird. Ihre Angebote sind oft unrealistisch niedrig, wie man beim Bund der Steuerzahler:
"Eigentlich ist man gehalten, nicht das billigste, sondern das wirtschaftlichste Angebot zu wählen. Wirtschaftlich heißt nicht immer billig. Es gibt Vorschläge, dass man bei einer größeren Ausschreibung, wenn mehrere Angebote auf dem Tisch liegen, dass man dann zunächst einmal das billigste, aber auch das teuerste rausschmeißt."

Proteste gegen das Bahnprojekt

2010 beginnen in Stuttgart die Bauarbeiten. Zeitgleich gehen Tausende Projektgegner bei sogenannten Montagsdemonstrationen auf die Straße. Ein Argument der Gegner: Bahn und Politik haben die Kosten des Großprojekts nicht im Griff. Am 30. September 2010 eskaliert im Stuttgarter Schlossgarten ein Polizeieinsatz, die Folge: viele Verletzte. In einem Schlichtungsverfahren versucht man sich zu nähern. Wieder vergeht viel Zeit.

2011 wird mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grüner Ministerpräsident, die Bahn stoppt die Bauarbeiten, schließlich waren nun erklärte Projektgegner in Regierungsverantwortung. Eine Volksabstimmung ergab, dass knapp 60 Prozent der Baden-Württemberger gegen den Ausstieg des Landes aus der Projektfinanzierung sind. Projektsprecher Jörg Hamann:
"Mit dem Ergebnis der Volksabstimmung begann dann endlich die eigentliche Bauphase."
Drei Polizisten tragen einen Mann weg.
Am 30.9.2010 eskaliert die Situation zwischen Polizei und Stuttgart 21-Gegnern. Viele Demonstranten werden verletzt.© imago images / Pressefoto Kraufmann&Kraufmann

Die Kosten steigen immer weiter

Die Bahn hatte mittlerweile ein neues Prüfverfahren für die Kosten entwickelt, die Gesamtkosten wurden ab 2013 auf bis zu 6,5 Milliarden Euro festgelegt. Sich verändernde politische Verhältnisse sowie zahlreiche aufbegehrende Bürger haben den Projektverlauf bei Stuttgart 21 maßgeblich bestimmt. Auch neue Gesetze und Vorschriften, etwa beim Brand- und Artenschutz, hatten laut Bahn wesentlich Einfluss auf das Projekt genommen.
Mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen, sagt der aktuelle Bahn-Vorstandschef Richard Lutz. Es sei jedoch wirtschaftlicher das Projekt fortzuführen als abzubrechen: "Mich greift das persönlich wirklich an, dass wir offensichtlich nicht in der Lage sein wollen, ehrlich zu rechnen, vernünftig zu rechnen, transparent zu sein."
Hermann Hütter ist Professor für Baumanagement und lehrt an der Hochschule in Karlsruhe. Hier bekommen künftige Projektleiter alles an die Hand, was sie später auf den Großbaustellen brauchen. Es findet auch eine kritische Auseinandersetzung darüber statt, was politisch gewollt sein mag, was aber vor Ort oft nicht der Realität entspricht. Das gilt vor allem für Kostenprognosen:
"Wenn ich jetzt ein Projekt beginne, das einen 10-15-jährigen Planungsvorlauf hat, dann noch mal eine Bauzeit von zehn Jahren hat, ist doch schon zu überlegen, ob man jetzt in den ersten zwei Jahren Kosten nennen muss, was das jemals kosten wird."

Neue Projektkultur nötig

Eine neue Projektkultur wünscht sich Hütter, und mehr Wertschätzung gegenüber den Ingenieuren und Planern. Jahrzehntelang waren sie das Synonym für gute Qualität, für das Label "Made in Germany". Der Ruf ist dahin, was nicht an den Bauexperten liege:
"Wenn die Fachleute sagen, das und das funktioniert, oder der und der Weg funktioniert nicht, dass dann das auch was gilt. Und dass man nicht versucht, dann wieder auf der fachlichen Expertise einfach Entscheidungen zu treffen, oder mit denen einfach anders umzugehen, als es die Sachlichkeit erfordert."
Mit Blick auf die Großprojekte in Deutschland beobachte man eine Art Politikverdrossenheit, sagt Eike Möller vom Bund der Steuerzahler in Baden-Württemberg: "(Da) entsteht so der Eindruck, na ja, da sind halt so ein paar Deppen am Werk, die kriegen das einfach nicht hin. Das höhlt natürlich das Vertrauen in die Demokratie aus."

Jahrhundertprojekt "Kombilösung" in Karlsruhe

Kombilösung. Die Kombilösung, das sind vor allem drei Tunnel in der Innenstadt mit einer Länge von rund 6,5 Kilometer. Künftig werden dort Stadt- und Straßenbahnen fahren, auch ein Autotunnel gehört dazu. Baubeginn war im Jahr 2010, seit der Planung haben sich die Kosten verdoppelt, mittlerweile auf rund 1,3 Milliarden Euro. Auch der Eröffnungstermin musste bereits mehrfach verschoben werden.
Zunächst wollte man 2016 fertig sein, jetzt wird es wohl 2021. Das gab im Mai der Karlsruher SPD Oberbürgermeister Frank Mentrup bekannt:
"Das sind schon allein wieder sechs Jahre zusätzliche Baukostensteigerung, sechs Jahre zusätzliche Inflation, und dann kamen während des Bauverlaufs auch noch so Dinge dazu, wie die Feuerschutzbestimmungen haben sich geändert, die Sicherheitsarchitektur hat sich geändert. Die Tunnelvortriebsmaschine in zweimal stecken geblieben. Wir hatten den Streik einer Baufirma über zwei Wochen, wir hatten die Insolvenz von vier Firmen, die in der Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen waren und, und, und."

Transparenz bei Großprojekten ist wichtig

Auch mit Blick auf dieses Großprojekt in der Stadt hat OB Mentrup bei seinem Amtsantritt 2013 einen transparenteren Umgang mit Zahlen versprochen. Mentrup will für einen neuen Politikstil stehen: Offen und ehrlich. Bei dem aktuellen Projekt kann er außer Transparenz nicht viel mehr bieten, bei künftigen Projekten würde er mit anderen Zahlen an die Öffentlichkeit gehen:
"Das würde ich heute alles am Anfang den Bürgern erklären. Aber das würde natürlich zu einer sehr hypothetischen Gesamtkostenentwicklung führen, die ich dann ankündigen würde."
Der Steuerzahler halte die Wahrheit besser aus, als scheibchenweise Kostensteigerungen präsentiert zu bekommen, ist Eike Möller vom Bund der Steuerzahler überzeugt:

"Da ist es besser, wenn man von Anfang an mit ehrlichen Zahlen arbeitet. Und man kann dann auch realistisch entscheiden, ob man sich das Projekt wirklich leisten kann oder ob man an dem Projekt Abstriche vornehmen muss, in der Qualität, in der Bauausführung, da kann man vernünftig entscheiden. Das ist heute eben oft nicht der Fall."
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