Olga Gromowa: „Zuckerkind"

Überleben in Stalins „Großer Säuberung"

06:35 Minuten
Schwarzweißporträt einer jungen Frau
© Aufbau Verlag

Olga Gromowa

Ganna-Maria Braungardt

Zuckerkind. Von Stalin nach Kirgisien verbanntAufbau Verlag, Berlin 2021

205 Seiten

22,00 Euro

Von Jörg Plath · 18.11.2021
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Die vierjährige Stella überlebt mit ihrer Mutter den stalinistischen Terror. Fremde helfen ihnen durch Lager, Verbannung, Hunger und Krankheit. Olga Gromowas Roman „Zuckerkind“ ist ein realistisches Märchen: mal anrührend, mal aufdringlich süß.
Das Leben schreibe die besten Geschichten, heißt es oft, die Realität übertreffe die Fantasie. Nur schreibt das Leben die Geschichten nicht auf, und erst durchs Aufschreiben werden aus Erlebnissen Geschichten.
Die russische Schriftstellerin Olga Gromowa hat die abenteuerliche Kindheit und Jugend von Stella Nudolskaja aufgeschrieben und vermerkt im Nachwort von „Zuckerkind“, dass sie einige Figuren der zweiten Reihe erfunden habe. Auch ein böser Mensch habe sich aufgedrängt, obwohl sich Stella nicht mal an einen erinnerte: „Kinder behielten nur das Gute in Erinnerung.“

Aufgeschlitzte Plüschtiere

Dabei geraten Stella und ihre Eltern wie Hunderttausende Russen in die Fänge des Bösen. Im Februar 1936 durchsucht der Geheimdienst NKWD ihre Moskauer Wohnung und verhaftet den Vater Natan Lichtmacher. Die Vierjährige schläft fest und sieht am nächsten Morgen, wie ihre Mutter und das Kindermädchen Plüschtieren den Bauch zunähen, die der NKWD aufgeschlitzt hatte.
Lichtmacher wird in die Todeslager der Kolyma deportiert, von denen Jahrzehnte später der russische Schriftsteller Warlam Schalamow erzählen wird. 1937, die Stalinschen Säuberungen nehmen an Intensität zu, werden Mutter und Tochter als Angehörige eines „Volksfeindes“ nach Kirgisien verbannt.

Rettung vor dem Hungertod

Auf die beschützte Kindheit folgen Jahre voller Todesgefahr. Stella und ihre Mutter Julia finden sich in einem Lager wieder, das die Häftlinge erst erbauen müssen. Die Baracken haben nur drei Wände. Sie heben eine Erdgrube aus, um nachts vor dem Wind geschützt zu sein.
Nach Monaten fällt dem NKWD auf, dass Verbannte keine Lagerhäftlinge sind. Doch die Freigelassenen finden keine Arbeit, versetzen ihre letzten Habseligkeiten und werden schließlich von barmherzigen Bauern vor dem sicheren Hungertod gerettet.

Rehabilitation in kargen Worten

Um die Familie nicht zu gefährden, brechen Tochter und Mutter bald wieder auf. Nun finden sie Arbeit, verlieren sie und finden neue. 1946 dürfen sie in die Nähe von Moskau zurückkehren.
Jahre später erzählt die Mutter Stella, dass die Erlaubnis zur Rückkehr unter erheblicher Gefahr von ihren ehemaligen Kollegen gefälscht wurde. 1958 rehabilitiert der Staat die Mutter in kargen Worten. Viel später erfährt sie, dass ihr Ehemann bereits 1940 starb.

Solidarität gegen Terror

Dem unmenschlichen Staat stehen viele hilfreiche Menschen gegenüber, ohne die die Verbannten nicht überlebt hätten. Auch die Mutter ist ein leuchtendes Vorbild: Sie erzieht Julia, die die Kirgisen wegen der hellen Haut weißes Kind oder Zuckerkind nennen, mit humanistischen Liedern und Gedichten, bringt den Nachbarn Lesen und Schreiben bei und liest allabendlich in einer Sowchose Kirgisen und Russen Gogol vor.
„Zuckerkind“ ist ein realistisches Märchen aus stalinistischen Zeiten, anrührend manchmal, manchmal aufdringlich süß. Olga Gromowa ist unterschiedlich erfolgreich im Erfinden und Ausschmücken.

Stella verkörpert Moral

Manche Stellen fallen aus der Kinderperspektive heraus. Dennoch wurde das erst als Jugendbuch erschienene „Zuckerkind“ in Russland mehrfach ausgezeichnet: Die Erinnerung an die Gräuel Stalins ist wichtig.
Stella Nudolskaja verkörperte, berichtet Gromowa, auch im hohen Alter moralische Überzeugungen: Sie arbeitete für die Nichtregierungsorganisation Memorial, demonstrierte am Tag des politischen Häftlings und sammelte Spenden für Erdbebenopfer.

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