Griechisch-orthodoxe Christen auf Imbros

Früher vertrieben, jetzt willkommen

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Die Rückansicht eines Griechisch-orthodoxen Priesters in der Türkei. Er breitet die Hände zu einem Segen aus und trägt eine bestickte weisse Robe und eine reich verzierte Bischofskrone.
Griechisch-orthodoxe Christen hatten es unter der kemalistischen Regierung schwer in der Türkei – heute hat sich die Lage verändert, auch auf Imbros. © picture alliance / Mustafa Yilmaz
Von Susanne Güsten · 08.09.2019
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Lange hatten Christen in der Türkei einen schweren Stand. Doch Erdogan und seine AKP zeigen sich ihnen gegenüber toleranter als die früher regierenden Kemalisten. So können griechisch-orthodoxe Christen auf die Ägäis-Insel Imbros zurückkehren.
Im Garten seines Großvaters gibt es für Dimitri Asanaki noch viel zu tun. Ein halbes Jahrhundert lang hat der Obstgarten im Dorf Agridia auf Imbros brach gelegen – seit Dimitris Eltern die Ägäis-Insel in den 1960er-Jahren verlassen mussten. Nun ist das Grundstück mit Gestrüpp und hohem Gras zugewachsen, Bäume und Sträucher sind verwildert. Auch sonst hat sich auf Imbros viel verändert, seit die griechisch-orthodoxe Bevölkerung vor 50 Jahren vertrieben wurde.

Früher lebten knapp zehntausend Christen auf der Insel

Dimitri zeigt auf eine Bergspitze, die von einem kugelförmigen Gebilde gekrönt ist – eine Radarstation des türkischen Militärs. Früher habe da eine Kirche gestanden, erzählt Dimitri: die Elias-Kirche. Zum Namenstag des heiligen Elias zogen die Dorfbewohner jeden Sommer auf den Berg zum Gottesdienst. Mehr als 300 Kirchen gab es damals auf Imbros. Knapp zehntausend griechische Christen lebten auf der Insel, so wie die Eltern und Großeltern von Dimitri.
Hier vorne an der Ecke, das sei sein Elternhaus, zeigt Dimitris Vater Antonio Asanaki, dahinter das Elternhaus seiner Frau, dort die Häuser der Onkel und Tanten und der Großeltern – praktisch das ganze Viertel habe seine Familie bewohnt, erzählt der 85-Jährige mit einem Lachen.
Antonio zog mit seiner Frau in den 1960er-Jahren fort nach Griechenland und holte wenige Jahre später auch seine Mutter und Schwiegermutter nach Athen. "Hier konnten sie nicht bleiben, denn die Lage war schlimm", erinnert er sich. "Wir haben ihnen versprochen, dass sie wiederkommen würden, weil wir dachten, dass es irgendwann besser wird, aber es kam anders. Sie sind beide in Athen gestorben, ohne die Insel wiedergesehen zu haben."
Christen bei einer Griechisch-orthodoxen Oster-Zeremonie in Istanbul zünden Kerzen an. Ein Mädchen hält ihre Kerze gerade ins Feuer.
50 Jahre lang blieben die griechischen Christen Imbros fern, um ihre Glauben frei ausüben zu können, wie hier bei einer Oster-Zeremonie in Istanbul. © picture alliance / EPA

Die Selbstverwaltung galt nicht lange

Das hatte sich die Völkergemeinschaft anders vorgestellt, als sie Imbros und die benachbarte Insel Tenedos mit dem Vertrag von Lausanne 1923 der Türkei zuschlug. Weil die beiden Inseln direkt vor dem Eingang zu den Dardanellen liegen, sollten damit die Sicherheitsinteressen der Türkei berücksichtigt werden. Die griechische Bevölkerung sollte aber bleiben dürfen und erhielt im Vertrag das Recht auf Selbstverwaltung als religiöse Minderheit – ein Recht, das die junge Türkische Republik ihr wenige Jahre später entzog. Mit der Vertreibung ging es aber erst im Jahr 1964 richtig los:
"Da wurden erst die griechischen Schulen geschlossen, dann wurde uns verboten, Griechisch zu sprechen", erinnert sich Antonio. "Deshalb sind alle Familien mit Kindern fort – nach Istanbul, nach Athen, bis nach Amerika und Australien. Ein paar Griechen sind noch geblieben, aber am Ende mussten sie auch gehen. Denn der Staat hat eine Strafkolonie auf der Insel eröffnet und ließ die Sträflinge frei herumlaufen – da sind furchtbare Dinge geschehen, entsetzliche Sachen."

Schrittweise Türkifizierung

Planmäßig und berechnend ging der türkische Staat damals vor, um die christliche Bevölkerung der Ägäis-Insel zu vertreiben – das belegt ein Dokument des Nationalen Sicherheitsrates, das erst viele Jahre später publik wurde. "Auflösungsplan" hieß der Beschluss Nummer 35 vom 27. März 1964, und er zählte die Maßnahmen auf, die zur "Auflösung" der griechischen Bevölkerung von Imbros getroffen werden sollten: Schließung der Schulen, Sprachverbot, Enteignung des Bodens, Flutung durch einen Stausee, Errichtung von Strafkolonie und Militärstützpunkt, und schließlich die Türkifizierung der Insel durch gezielte Ansiedlung von muslimischen Zuwanderern.
Die Vertreibungspolitik war Ausdruck der kemalistischen Staatsideologie, die den Islam als gesellschaftliches Ordnungsinstrument einsetzte und nicht-muslimische Bürger als Sicherheitsrisiko betrachtete. Wie beschlossen, so wurde es umgesetzt: Von den fast 10 000 griechischen Christen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Imbros lebten, waren im Jahr 2000 nur noch 250 Seelen übrig.
Dafür lebten inzwischen 8 500 muslimische Türken auf der Insel, wo es vorher weniger als einhundert gewesen waren. Als Krönung wurde die Insel offiziell umbenannt und erhielt den türkischen Namen Gökceada – das bedeutet "himmlische Insel". Für die Griechen von Imbros schien ihre Insel verloren.

Viele kehren zurück, zu Besuch oder auf Dauer

Nie hätte sie gedacht, dass sie je zurückkehren könnte, sagt Katerina, die Ehefrau von Antonio und Mutter von Dimitri. Und doch sitzt sie jetzt auf der Terrasse ihres Hauses in Agridia. Seit fünf Jahren betreibt die Familie hier eine kleine Pension für die vielen früheren Inselbewohner, die über den Sommer aus Athen, Amerika oder Australien kommen oder ebenfalls eine dauerhafte Rückkehr vorbereiten, erzählt Antonio.
Die Vertreibungspolitik ist zwar schon länger vorbei, sagt Antonio, doch trauten die vertriebenen Griechen der Türkei zunächst nicht und blieben der Insel fern. Das änderte sich erst 2013: Da wurde erstmals seit einem halben Jahrhundert eine griechische Schule auf Imbros eröffnet – ein Signal, dass griechisches Leben wieder möglich ist auf der Insel.

Offene Ohren bei der AKP

Durchgesetzt hatte das Laki Vingas, ein griechisch-stämmiger Geschäftsmann, der dafür in Ankara Klinken putzte. "Ich habe das bewusst in Ankara getan, nicht in Brüssel oder Athen oder Berlin", erklärt er. "Ich habe mich nicht an das Ausland gewandt, um unser Recht auf Schulen einzufordern, sondern ich bin in Ankara von Tür zu Tür gegangen und habe die Behörden zu überzeugen versucht. Sind wir nun Staatsbürger dieses Landes oder nicht, habe ich gesagt."
Vingas fand in Ankara offene Ohren, denn die AKP hat wegen ihres eigenen religiösen Hintergrundes weniger Vorbehalte gegen die christliche Minderheit als ihre kemalistischen Vorgänger. Die griechische Grundschule von Imbros eröffnete 2013 mit vier Kindern, deren Familien eigens dafür auf die Insel zogen. Inzwischen sind Kindergarten, Mittelschule und Gymnasium hinzugekommen, und heute gehen fast 50 Kinder griechischer Rückkehrer auf Imbros in die Schule – Tendenz weiter steigend.

Die Rückkehrer werden willkommen geheißen

Der Familienvater Dimitris Yorgiu zählte mit Frau und vier Kindern zu den ersten Rückkehrern und betreibt heute ein Lokal in Panagia, der größten Ortschaft auf Imbros. "Die türkischen Behörden waren sehr hilfreich und haben uns unterstützt", sagt er. "Der Bürgermeister hat uns willkommen geheißen und gesagt, dass die Insel uns und unsere Kultur braucht."
Inzwischen hat seine älteste Tochter auf der Insel das Abitur gemacht und studiert in Griechenland, um später als Lehrerin auf Imbros unterrichten zu können. Die Familie hat Wurzeln geschlagen und will auf der Insel bleiben – und sie ist nicht alleine. Mehr als 500 Griechen leben heute wieder fest auf Imbros. Um die 15 griechische Kinder sind auf der Insel geboren worden, seit die Rückkehr begonnen hat.
In den Dörfern läuten wieder Kirchenglocken, und zweimal im Jahr kommt der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel vorbei, der selbst auf Imbros geboren ist. Die Rückkehr der Griechen nach Imbros sei ein Funken Hoffnung in schwerer Zeit, sagt Laki Vingas, der Initiator der Bewegung:
"In einer Zeit, da so viele Menschen auf der Flucht sind oder auswandern, da gibt es hier Menschen, die zurückkehren – die Schulen eröffnen, Vereine gründen und etwas aufbauen. Die Türkei kann stolz darauf sein."
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