Naher Osten

"Die Christen werden immer weniger"

Moderation: Klaus Pokatzky · 27.12.2013
Die christliche Minderheit im Nahen Osten werde immer kleiner, warnt Ulrich Pick. Christen hätten nicht die gleichen Rechte wie die muslimische Mehrheitsgesellschaft. Dennoch spricht er nicht von einer Verfolgung.
Klaus Pokatzky: Papst Franziskus hat über Weihnachten beklagt, dass in vielen Ländern Gewalt gegen Christen geübt wird. Das ist eine der Meldungen der letzten Tage, und eine zweite lautet so: Bei zwei Anschlägen auf Christen in der irakischen Hauptstadt Bagdad sind am ersten Weihnachtsfeiertag mindestens 38 Menschen getötet und 70 Menschen verletzt worden. Der evangelische Landesbischof von Hannover, Ralf Meister, hat gesagt: "Die weltweite Christenverfolgung, die besonders in einigen muslimischen Ländern besorgniserregend ist, muss uns alle aufrütteln.“ Ulrich Pick ist katholischer Theologe und arbeitet in der Redaktion "Religion“ des Südwestrundfunk in Mainz, dort begrüße ich ihn nun im Studio. Guten Tag!
Ulrich Pick: Ich grüße Sie, Herr Pokatzky!
Pokatzky: Herr Pick, Sie waren auch fünf Jahre Nahost-Korrespondent der ARD, Sie kennen die Region. Herrscht dort wirklich eine Christenverfolgung?
Pick: Ich finde diesen Begriff sehr problematisch. Man müsste ihn im Einzelnen beleuchten, weil man nicht in jedem Land davon ausgehen kann, dass Christen um Leib und Leben fürchten müssen. Aber was, glaube ich, unstrittig ist: dass die christliche Minderheit erstens immer kleiner wird und dass sie oft nicht die gleichen Rechte hat wie die muslimische Mehrheitsgesellschaft. Und das macht schon sehr, sehr viel aus. Der Exodus hält an.
Pokatzky: Dann beleuchten wir mal mit Ihrer Hilfe die Region. Welche Länder haben Sie in Ihrer Zeit vor allem als Nahost-Korrespondent besonders intensiv bereist?
Pick: Ja, natürlich erst einmal die Türkei. In der Türkei war es so: Als das Land 1923 gegründet wurde, lebten dort noch – allein in Istanbul – 20 Prozent Christen, heute sind es nicht einmal mehr ein Prozent.
Pokatzky: Und das liegt jetzt aber nicht irgendwie an Bevölkerungswachstümern oder so, dass die Muslime zeugungsfreudiger sind, sondern auch wirklich daran, dass Christen weggezogen sind?
Pick: Nein, es gab durchaus Pogrome gegen Christen in den 50er- und 60er-Jahren, und die christlichen Kirchen haben dort einen sehr, sehr schweren Stand. Sie können beispielsweise, wenn Sie eine Kirchengemeinde sind, kein Konto eröffnen, Sie können auch kein Eigentum erwerben. Die christlichen Kirchen vor Ort – das ist die griechisch-orthodoxe, die syrisch-orthodoxe oder die armenisch-apostolische –, die können nicht einmal dort ihren eigenen Nachwuchs ausbilden. Und wenn jemand wirklich dort von den einheimischen Christen Priester werden will, geht er ins Ausland, ja, und dann passiert es halt häufig, dass er dort bleibt.
Gucken wir uns den Irak an. In Irak ist es auch so, dass bis vor dem Einmarsch der USA dort etwa zwei Millionen Christen lebten. Durch den Einmarsch sind sie natürlich gestützt worden. Aber das hat auch eine schwarze Kehrseite, denn Präsident Bush hat ja dieses sehr seltsame Wort von dem Kreuzzug gebraucht, und hinterher sind die Christen vor allen Dingen in der Mitte und im Süden, im kurdischen Norden weniger, ja, zwischen die Mühlsteine geraten, zwischen die Mühlsteine der rivalisierenden Muslime. Es gibt so gut wie keine Christen mehr südlich von Bagdad.
Kultur der Christen wird in Syrien immer dünner
Pokatzky: Ist denn wirklich zu befürchten, dass es vielleicht schon in naher Zukunft in gewissen Regionen keine Christen mehr geben könnte im Nahen Osten, also da, wo das Christentum einst gewachsen ist und sich zuerst ausgebreitet hat?
Pick: Also wenn Sie wirklich in den Süden vom Irak schauen: Da ist der Exodus so groß, der betrifft fast 75, 80 Prozent der Christen, da sind in Zukunft wohl keine Christen mehr zu erwarten, und ich habe vergangene Woche den Erzbischof von Homs und Hama in Syrien getroffen, und der hat mir Folgendes gesagt:
Selwanos Boutros Alnemeh: Insgesamt leben etwa zwei Millionen Christen in Syrien. Annähernd eine halbe Million von ihnen haben bereits das Land verlassen. Wenn europäische Länder wie Deutschland die Einreisebedingungen erleichtern, könnten es auch noch mehr werden.
Pick: Das war Selwanos Boutros Alnemeh, der hier zu Besuch in Deutschland war, und ich habe ihn auch gefragt, ob er wirklich damit rechnet, dass mehr Christen auswandern werden, und er sagt: Ja! Wenn der Druck größer wird und die Christen nach wie vor zwischen den Stühlen hängen, dann ist gerade in Syrien damit zu rechnen, dass die Zahl immer weiter abnimmt und vielleicht auch mal keine Christen in Syrien sein werden.
Pokatzky: Aber da hat dieser Erzbischof von Homs ja etwas ganz Zweischneidiges gesagt: Bei uns ist gerade über die Weihnachtstage von kirchlicher Seite, auch von unserem Bundespräsidenten Joachim Gauck, ganz stark gesagt worden: Wir müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Und bei diesem Erzbischof höre ich jetzt so ein bisschen raus: Ja, wenn wir so viele aufnehmen und ihnen eine Einreisegenehmigung geben, dann gibt es irgendwann überhaupt keine Christen mehr da. Also ist das so was ganz Zweischneidiges?
Pick: Es ist was Zweischneidiges, denn zum einen, das bestätigen alle, mit denen ich gesprochen habe in Syrien: Die Christen sitzen zwischen allen Stühlen, sie werden von Tag zu Tag weniger, also die islamistische Opposition, die ja immer dschihadistischer wird, bezeichnet sie als Ungläubige. Assad ist kein Anwalt für die Christen. Ja, und wenn sie auswandern, wenn hier Deutschland und die Nachbarländer mehr Christen aufnehmen, dann wird die Kultur der Christen in Syrien immer dünner.
Beispielsweise im Kloster Maalula bei Damaskus sind vor einigen Wochen zwölf Nonnen verschleppt worden. In Maalula spricht man noch Aramäisch, die Sprache, die man zur Zeit Christi gesprochen hat. Diese Kultur wird natürlich durch die, die auswandern, hierhin gebracht, aber dann werden natürlich wahrscheinlich, wenn hier christliche Syrer ansässig werden, in zwei, drei Generationen die Kinder und Enkelkinder natürlich kein Aramäisch mehr sprechen, und die Traditionen, also die syrisch-jakobitische Messtradition, die assyrische, ostsyrische Tradition, die wird dann immer weiter verschmelzen. Und das ist natürlich ein Verlust für das Christentum.
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Ulrich Pick von der Redaktion "Religion” des Südwestrundfunks, die Lage der Christen im Nahen Osten, ihr Exodus ist unser Thema. Herr Pick, wenn wir mal so Länder wie den Iran, Saudi-Arabien oder den Sudan ansehen: Wenn da Menschen vom Islam zum Christentum übertreten, dann gilt das als ein schweres Verbrechen und kann sogar mit der Todesstrafe geahndet werden. Das geschieht zwar kaum, aber es gibt immer wieder Lynchjustiz durch religiöse Fanatiker oder auch Verhaftungen. Jetzt sagt Artikel 18 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, dass der Mensch das Recht zum Wechsel der Religion hat. Was sagt die UNO denn zu dieser Drangsalierung von Christen?
Pick: Ja, die UNO geißelt das natürlich und sie weist stets darauf hin, dass Religion ein quasi freier Gegenstand, nenne ich das jetzt mal, ist, den man auch wechseln kann, und sie macht immer wieder darauf aufmerksam, dass es in einigen Ländern gerade des Nahen und Mittleren Ostens ausgesprochen schwierig ist für Muslime, zu wechseln und Christen zu werden. In Saudi-Arabien beispielsweise gibt es überhaupt gar keine Kirchen, da ist Gottesdienst auch verboten, da müssen beispielsweise die Pfarrer, die aus Deutschland kommen, in der Botschaft ihren Gottesdienst halten.
Das alles ist sehr, sehr schwierig. Viele Leute meinen ja auch, das müsse man damit verbinden, dass man entsprechend den Muslimen hier in Deutschland Auflagen macht beim Bau von Moscheen – das ist genauso zweischneidig wie das, Herr Pokatzky, was wir vorhin von syrischen Christen gesagt haben. Ich glaube nicht, dass es von Vorteil ist, hier Muslime damit zu konfrontieren, dass in den Ländern ihrer Eltern und Großeltern solch strenge Regeln herrschen. All das ist sehr, sehr zwiespältig.
Solidarität zwischen gemäßigten Muslimen und Christen
Pokatzky: Nun haben Sie eingangs ja davor gewarnt, den Begriff Christenverfolgung zu verwenden. Es gibt aber gerade auch in Deutschland immer viele, die diesen Begriff verwenden. Was sagen Sie denen?
Pick: Das ist sehr, sehr schwierig. Also für mich ist Christenverfolgung das, dass Menschen um Leib und Leben fürchten müssen. Beispielsweise der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder, der ja ziemliche Berührung hat zu evangelikalen Kreisen, der benutzt dieses Wort. Ich habe mit ihm gesprochen. Andere wiederum wie beispielsweise der UNO-Sonderbeauftragte für Religionsfreiheit Heiner Bielefeldt sieht das ein wenig anders.
Heiner Bielefeldt: Also wenn man sich das Bild anschaut, wie bei allen wichtigen Themen, dann merkt man viele Schattierungen. Ich würde ab und zu durchaus von Christenverfolgung sprechen, genauso wie ich es auch für angemessen halte, in Myanmar, wo gerade Muslime zu Zigtausenden vertrieben werden, dann auch von Verfolgung zu reden, also in diesem Fall Verfolgung von Muslimen, oder in Iran Bahai in einer Weise unter Druck geraten, dass da auch der Verfolgungsbegriff angemessen ist.
Pick: Also da muss man sich fragen, inwieweit der Begriff Verfolgung, was der Begriff Verfolgung genau sagt. Was definitiv klar ist, ist, dass beispielsweise in der Türkei, in Iran, in Syrien oder im Irak die Christen nicht die gleichen Rechte haben wie die Mehrheitsgesellschaft der Muslime. Das ist unbestritten. Und Christen, mit denen Sie sprechen, die sagen: Ja, die sehen doch an unserem Namen, dass wir Christen sind. Und wenn sie dann zur Arbeitsstelle kommen und sagen, hast du einen Job für mich, dann sagen die: Nein, tut mir leid. Aber ich habe alle Qualifikationen! Ja, komme doch nächste Woche noch mal wieder. Und dann begegnet er einem Nachbarn, minder qualifiziert, aber Muslim, und der hat einen Job – und das haben mir nicht nur zwei oder drei Muslime erzählt, sondern viele. Es ist eine latente Benachteiligung der Christen im Nahen Osten zu fühlen.
Pokatzky: Gibt es denn in bestimmten Ländern, wo Christen und Muslime verfolgt werden oder zumindest drangsaliert werden, da auch gelegentlich so einen Solidarisierungseffekt zwischen den beiden Gruppen?
Pick: Also ich denke, im Irak, so habe ich mitbekommen, gibt es eine Solidarität zwischen gemäßigten Muslimen, die diese Spielchen und Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten gerade in der Mitte und im Süden nicht mitmachen, dass natürlich auch Muslime Christen beherbergen, auch im Norden, im kurdischen Norden werden viele Christen von Kurden beherbergt, die keine Muslime sind. Mir geht es auch nicht darum, einen Keil dazwischen zu treiben, mir geht es auch nicht darum, zu sagen, die Christen im Nahen Osten sterben aus, sondern ich würde gerne daraufhin das Augenmerk legen, dass man sagt: Die Christen werden immer weniger – beispielsweise die Organisation Kirche in Not, eine katholische Organisation, spricht davon, dass 35 Millionen Christen Arabisch als Muttersprache haben, 20 davon sind im Exil, 15 Millionen davon nur noch im Nahen Osten, es waren mal 35 –, dass diese Tendenz doch hoffentlich zu stoppen ist, denn der Orient ist die Heimat der Juden, der Christen und der Muslime, und ich denke, das sollten wir so beibehalten.
Pokatzky: Danke, Ulrich Pick von der Redaktion "Religion“ des Südwestrundfunks und alles Gute nach Mainz! Tschüss!
Pick: Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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