Griechen "brauchen jetzt eine Regierung der nationalen Einheit"

Jo Leinen im Gespräch mit Hanns Ostermann |
Falls Griechenland seine Auflagen nicht erfüllt, "dann ist Ende der Fahnenstange", prophezeit der Europapolitiker Jo Leinen. Dafür müsse seine gesamte politische Klasse in die Pflicht genommen werden. Die EU benötige Regeln für den Ausschluss eines Landes.
Hanns Ostermann: Das Drama in Griechenland geht weiter, auch wenn Premierminister Giorgos Papandreou heute Nacht die Vertrauensfrage knapp überstanden hat. Hellas steckt nach wie vor in einer bodenlosen Krise, natürlich aus ökonomischen, aber auch aus politischen Gründen. Niemand weiß derzeit, wie eine neue Regierung aussehen könnte, die ist im Gespräch. Während uns aus Athen eine Hiobsbotschaft nach der anderen erreicht, bleibt die grundsätzliche Frage: Welche Konsequenzen sind aus der Eurokrise zu ziehen? Was muss getan werden, um die Eurozone zu stabilisieren? Das alte Motto – gemeinsam sind wir stärker – gerät mehr und mehr in Verruf.

Am Telefon ist Jo Leinen, er sitzt für die SPD im Europaparlament und war Vorsitzender des Verfassungsausschusses. Guten Morgen, Herr Leinen!

Jo Leinen: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Bevor wir über mittel- und langfristige Perspektiven reden: Wie bewerten Sie die jüngste Entwicklung in Athen?

Leinen: Papandreou hat noch mal gewonnen, aber Griechenland hat noch nicht gewonnen. Und ich glaube, die brauchen jetzt eine Regierung der nationalen Einheit, wenn man das so bezeichnen kann. Die Opposition muss einfach mitmachen bei dem Rettungspaket, das heißt, bei den Reformen und den Sparmaßnahmen, die das Land durchführen muss. Es geht nicht, dass sich ein Teil der politischen Klasse dort verweigert. Und man wird sehen, ob bis Montag – so war ja eine Frist genannt worden diese Nacht – eine neue Regierung zustande kommt.

Ostermann: Es gibt ja nicht wenige, die sagen, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wie viel Geduld müssen wir mit Griechenland noch haben?

Leinen: Nun, die Geduld war ja letzte Woche abgelaufen. Es ist ja das Undenkbare gesagt worden, dass sogar ein Land aus der Eurozone herausgeworfen werden kann, das war ja bisher ein Tabu. Und sowohl Frau Merkel wie Herr Sarkozy haben ja in Cannes deutlich gemacht: Wenn Griechenland jetzt nicht seine Verpflichtungen erfüllt, dann ist Ende der Fahnenstange, dann kann es wirklich passieren, dass ein Land aus diesem Verbund herausgezogen wird.

Ostermann: Sehen das die europäischen Verträge derzeit eigentlich vor?

Leinen: Nein. Europa ist ja ein Experiment ohne Blaupause. So was hat es ja noch nicht gegeben, dass jetzt 27 Länder und im Währungsgebiet 17 Länder gemeinsam Souveränität ausüben, gemeinsam Politik machen in dieser intensiven Form. Und wir betreten Neuland, brauchen aber Antworten auf eine Krise, die das Ganze gefährdet. Und von daher gibt es auch wirklich neue Dimensionen dessen, was man sich vorstellen kann.

Ostermann: Sie würden aber nicht so weit gehen und sagen, das war ein Konstruktionsfehler der Verfassung? Oder gehen Sie doch so weit?

Leinen: Ja, sicher. Es war schon 1991 beim Maastricht-Vertrag sichtbar, dass die Währungsunion eine politische Union braucht, also Instrumente, um auch Wirtschafts- und Finanzpolitik zu betreiben und nicht nur Geldpolitik. Das ist damals nicht möglich gewesen. Man hat dann gehofft, dass es gut geht. Jetzt weiß man, es geht nicht gut. Also, es braucht jetzt grundlegende Neuerungen, grundlegende Veränderungen, damit der Euro langfristig stabilisiert und gerettet wird.

Ostermann: Und wie schwer wird das sein, im Rahmen des Lissabon-Vertrages Strafen zu verhängen? Zum Beispiel, auch auszuschließen im schlimmsten Fall?

Leinen: Ja, wir haben im Lissabon-Vertrag jetzt eine Regelung für den freiwilligen Austritt eines Landes. Das war gemünzt auf Großbritannien, wo ja auch immer mit dem Feuer gespielt wird, gehört Großbritannien zu Europa oder nicht. Und die Europa-Gegner tun ja so, als ob das Land austreten wollte. Und dann hat man gesagt, gut, wir machen ein Verfahren: Wenn ihr raus wollt, könnt ihr raus.

Diese Krise, die hat wohl gezeigt, dass es auch Regeln für den Ausschluss eines Landes geben muss. Wenn also die Spielregeln nicht eingehalten werden, wenn die Geschäftsgrundlage verlassen wird, dann muss es auch möglich sein, ein Land auszuschließen. Das war bisher Tabu. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat man immer gesagt, es wachsen Länder zu, aber es kann auch sein, dass teilweise oder ganz ein Land ausgeschlossen wird.

Ostermann: Lassen Sie uns doch einen kleinen Schritt zurückgehen: Da ist ja im Gespräch, dass Währungskommissar Olli Rehn mehr Kompetenzen erhalten soll. Ist das aus Ihrer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung?

Leinen: Ja, die Wirtschaftsregierung in der Europäischen Union soll nicht ein neues Gremium sein, noch eine neue Bürokratie, sondern die vorhandenen Institutionen können das leisten. Und die Kommission ist die Exekutive, ist sozusagen die Regierung der EU und man sollte der Kommission dann auch diese Kompetenzen geben, das ist der Finanzkommissar Olli Rehn. Der braucht jetzt Handlungsmacht für Haushaltskontrolle, das ist eine Vorabkontrolle der Haushaltsentwürfe in den Ländern, die Hilfen beantragen, und dann auch eine Begleitkontrolle, indem blaue Briefe verschickt werden, bis eingegriffen wird, wenn ein Land seine Defizite noch weiter steigert.

Ostermann: Aber Parlamente lassen sich doch nicht ihr wichtigstes Recht, das Budgetrecht nehmen. Stößt da Brüssel nicht auf natürliche Grenzen?

Leinen: Gut, formal wird jedes nationale Parlament noch entscheiden. Aber es ist eingebettet in einen Rahmen der EU. Man ist Mitglied eines Clubs, man muss sich an die Regeln eines Clubs halten, und wie ich ja sagte: Wenn grob und dauerhaft gegen die Regeln verstoßen wird, dann muss es auch Sanktionen geben. Sonst funktioniert das Ganze nicht, wie man bisher gesehen hat. Man hat sich immer gut zugeredet, man hat auch ein bisschen gemahnt, aber es hat keine Folgen gehabt. Und das muss sich jetzt ändern.

Ostermann: Die EU steckt in der Krise, sitzt auf einem Pulverfass, denn neben den 17 Mitgliedern der Eurozone müssen auch die übrigen zehn Staaten ja in Entscheidungen mit einbezogen werden. Und da ist nicht nur – Sie haben es angedeutet – London skeptisch. Also, wie lange hält die Union das eigentlich noch aus?

Leinen: Wir haben schon ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Das wird sich jetzt noch vertiefen, die Wirtschafts- und Finanzunionen werden nicht alle mitmachen, Sie haben Großbritannien genannt. Ergo wird es eine Vertiefung insbesondere in der Eurozone geben. Die spannende Frage wird sein: Kann man das noch im Rahmen des Vertrages, der Verträge machen, die ja von allen ratifiziert wurden, oder braucht man jetzt Konstruktionen, die nur für die Eurozone, für die 17 – wenn es denn 17 bleiben – wirken? Das wird jetzt in den nächsten Monaten die spannende verfassungsmäßige Frage: Ist die Vertragsrevision noch mit allen zu machen oder beschränkt sie sich auf diese Währungsunion, die dringend die Ergänzung durch Wirtschafts- und Finanzunion brauchen?

Ostermann: Jo Leinen, er sitzt für die SPD im Europäischen Parlament und war Vorsitzender des Verfassungsausschusses. Herr Leinen, danke Ihnen für das Gespräch und ein schönes Wochenende!

Leinen: Auf Wiederhören!

Ostermann: Wiederhören!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jo Leinen, Sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament
Jo Leinen© joleinen.de
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