"Papandreou wollte die Bevölkerung beruhigen"

Frank Frick im Gespräch mit Susanne Führer · 04.11.2011
Das vom griechischen Ministerpräsidenten Papandreou geplante Referendum sei kein "demokratisches Experiment" gewesen meint der Experte für Bürgerbeteiligung bei der Bertelsmann-Stiftung Frank Frick. Hinter dem Abstimmung-Projekt habe keine feste Überzeugung gestanden.
Susanne Führer: Im vergangenen Jahr waren es die Wutbürger in Stuttgart, in diesem Jahr sind es die Aktiven der Occupy-Bewegung. Sie alle bringen zum Ausdruck, dass es immer mehr Bürgern nicht mehr reicht, alle paar Jahre mal zur Wahl zu gehen. Sie wollen stärker und vor allem auch direkter an den politischen Entscheidungen beteiligt werden. Der Politikwissenschaftler Frank Frick ist Experte für Bürgerbeteiligung bei der Bertelsmann-Stiftung und nun bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Frick!

Frank Frick: Guten Morgen, Frau Führer!

Führer: Als der griechische Ministerpräsident Papandreou eine Volksabstimmung über das Hilfspaket der EU ankündigte, da konnte man ja zwei Reaktionen beobachten: Die Staats- und Regierungschefs der EU waren mächtig sauer auf ihn, viele Bürger in Europa aber waren fast neidisch auf die Griechen, gerade in Deutschland, die sagten immer so: Wir würden auch gerne mal befragt werden! Ist das eine verständliche Reaktion?

Frick: Ja, das ist sehr verständlich und gar nicht so selten derzeit, und zwar nicht nur in Deutschland, weil viele Bürger immer mehr das Gefühl haben, dass sie erst informiert werden, wenn die wichtigsten Entscheidungen eigentlich schon gefallen sind. Viele Bürger denken, ihre Fragen, Anregungen und Einwände stören eigentlich nur, und aus diesen Gründen werden dann gerne diese Störenfriede zu Wutbürgern, und wie gesagt, das ist nicht nur in Deutschland so.

Man muss dazu noch sehen, dass noch nie zuvor die Menschen so viel Zeit hatten, noch nie waren die Menschen so gebildet wie heute, und noch nie waren Parteien und Politiker mit so wenig Vertrauen ausgestattet. Und wenn Sie die drei Zutaten zusammennehmen, kommt natürlich zum Tragen, dass die Menschen dann sagen: Ach, dann wollen wir lieber selber ein bisschen mehr mitreden bei politischen Entscheidungen, und das sehen Sie in Chile, in Israel, in Kanada, und eigentlich überall in der Welt.

Führer: Sie haben gerade gesagt, Herr Frick, die Bürger sind sauer, weil sie sozusagen erst gefragt werden, wenn die Entscheidungen schon gefallen sind. Daraus schließe ich, würde dieses Referendum in Griechenland stattfinden – was es ja nun wohl nicht tun wird –, dann wäre das für Sie auch nicht wirklich eine ideale Bürgerbeteiligung gewesen, denn die Entscheidungen waren ja auch schon alle gefallen, und die Bürger konnten nur noch sagen ja oder nein.

Frick: Das ist eines der wichtigen Probleme hinter diesem griechischen Referendum. Ich glaube, zuerst müssen wir mal verstehen, dass es überhaupt nicht europapolitische Gründe hat, rein innenpolitisch. Papandreou wollte die Bevölkerung beruhigen, seine Partei befrieden und Neuwahlen verhindern. Das heißt, es ging überhaupt nicht um ein demokratisches Instrument. Er wollte nur seine Macht bewahren und er wollte aus diesen Gründen Dinge, die im Wesentlichen entschieden waren und wo man nicht mehr wirklich vernünftig diskutieren konnte, quasi zu einer Abstimmung bringen und sich damit selber Legitimation verschaffen, handelte also aus purer Not. Das war kein demokratisches Experiment, was er machen wollte, es war keine Überzeugung dahinter. Von daher habe ich eine gewisse Skepsis, wenn jemand aus solchen populistischen und Machterhaltungsgründen alleine plötzlich zum Referendum greift, der vorher so was noch nie gemacht hat.

Führer: Was ist denn für Sie ein Modell für die Bürgerbeteiligung? Häufige Referenden, wie sie zum Beispiel in der Schweiz stattfinden, oder demnächst in Baden-Württemberg zu Stuttgart 21?

Frick: Natürlich sind Referenden auch ein wichtiger Bestandteil von Bürgerbeteiligung. Wir haben nur leider das häufige Missverständnis, dass Bürgerbeteiligung häufig gleichgesetzt wird mit Volksentscheiden. Es gibt eine sogenannte Leiter der Partizipation, die beginnt – die hat fünf Stufen – die beginnt mit einer guten Information. Schon damit hapert es ja in Deutschland, dass viele Leute sagen, sie werden viel zu spät darüber informiert, was politisch geplant ist. Die zweite Ebene ist, zu konsultieren, die Leute mal zu fragen, was denn ihre Präferenzen sind, was sie denn lieber hätten.

Das Dritte wäre, sie richtig zu involvieren, das heißt, sie auch noch konkret nach Vor- und Nachteilen bestimmter Entscheidungen oder Maßnahmen zu fragen. In der vierten Stufe sollen die Bürger dann sogar oder können die Bürger dann sogar Programme mitgestalten, das nennt man dann kollaborieren, und über den gesamten Prozess beteiligt werden, und in der fünften Stufe erst geht es darum, dass die Bürger die Entscheidungen selber treffen. Mit jeder Stufe gewinnt der Bürger natürlich an Einfluss, aber mit jeder Stufe muss jeder Bürger, der sich beteiligt, natürlich viel, viel mehr Zeit investieren, um sich wirklich in die Themen rein zu arbeiten, damit am Schluss eine vernünftige Entscheidung, die einerseits auch wirkt und andererseits auch nicht irgendwie Geld verschwendet, rauskommt. Das heißt …

Führer: Wenn ich das jetzt richtig zusammenfassen darf, Herr Frick, diese Leiter der Partizipation von der Information also bis dann sozusagen zur Entscheidung, dann ist die EU, die Europäische Union, das ganze Gegenmodell dazu?

Frick: Die Europäische Union ist nicht allein das Gegenmodell dazu, wir haben derzeit eine …

Führer: Also ich meine jetzt die europäischen Institutionen, nicht?

Frick: Ja, das sind nicht nur die europäischen, das sind eigentlich internationale. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr das Gefühl haben, dass Entscheidungen getroffen sind auf Ebenen, die sie gar nicht kennen, gar nicht nachvollziehen können, und wir sind gleichzeitig in der Situation, wo aber jeder zustimmt, dass zum Beispiel unsere Umweltprobleme wir nicht mehr nationalstaatlich lösen. Also wenn wir die CO2-Belastung in Deutschland auf null treiben – im Weltmaßstab macht das überhaupt nichts aus, wir brauchen also internationale Vereinbarungen da drüber. Und die bekommen Sie eigentlich auch nur hin, wenn Sie nicht auf Konsens setzen.

Das heißt, dass im Zweifel die Staaten auch überstimmt werden können, und das heißt, dann werden Staaten gezwungen, auch wenn ihre Parlamente und Bürger eigentlich anderer Meinung sind. Wenn das passiert, fragen die Bürger natürlich in den Ländern zu Recht, ob es das nur in Deutschland oder derzeit in Griechenland ist: Warum wurden wir nicht gefragt beziehungsweise warum können wir nicht mehr selber entscheiden? Selbst wenn sie gefragt würden, international gibt es irgendwelche Gremien. Wie sind denn die legitimiert? Und diese Frage taucht immer häufiger auf, je globaler die Probleme werden und je notwendiger internationale Absprachen, desto mehr steht die Frage im Mittelpunkt: Wie stärken wir eigentlich die Legitimation dieser Institutionen und schaffen es, Bürger und Parlamente auf nationaler Ebene auch wieder mitzunehmen?

Führer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Frank Frick. Wir sprechen über Bürgerbeteiligung. Nehmen wir mal ein Ereignis, Herr Frick, was manche als vorbildhaft ansehen, nämlich die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, da hatten wir ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Roland Roth hier in unserem Programm, und der sagte, das sei prima gelaufen, weil dort die Bürger eben nicht nur gegen etwas waren, sondern selbst zu Experten wurden, also ein Alternativkonzept für den Bahnhof vorgelegt haben. Ich kann mir das nun wiederum aber für so etwas Kompliziertes wie die Euro-, Finanz-, Griechenlandkrise schwer vorstellen.

Frick: Das ist sicherlich, gerade bei dem Thema, was Sie ansprechen mit Griechenlandkrise und Finanzkrise, sehr schwer, und es gibt dafür, glaube ich, drei Gründe: Das Erste ist, das sehen wir ja in dem Fall, es gibt jede Woche neue Informationen. Das heißt, die Entscheidungsbasis ändert sich ständig. Wenn Sie also vor drei Monaten ein Referendum gemacht hätten zu der Griechenlandfrage und dann festgestellt hätten, ach, die Schulden sind ja doch noch mal höher, und die Entscheidungen der Griechen werden doch nicht umgesetzt zum Sparen oder dann doch wieder, dann haben Sie ständig eine andere Entscheidungsbasis, also sie müssten eigentlich jede Woche ein Referendum dazu machen. Das geht natürlich nicht.

Der zweite Grund, das haben wir in der Finanzkrise erlebt, manchmal muss man verdammt schnell entscheiden. Damals, Finanzkrise, die Große Koalition hat ganz schnell dafür gesorgt, dass Sparanlagen sicher waren, und haben dann den Arbeitsmarkt stabilisiert durch Kurzarbeitergeld und so weiter. Das hat unsere Situation unglaublich entdramatisiert. Hätten wir darüber ein halbes Jahr oder ein Jahr diskutieren müssen, bevor wir eine Entscheidung treffen, weiß Gott – also niemand weiß, was passiert wäre, aber mit Sicherheit wären wir nicht so stabil durch diese Krise gegangen.

Führer: Na ja, aber dann sind wir inzwischen in so einer Situation, dass man manchmal so schnell entscheiden muss, dass man nicht mal mehr das Parlament fragen kann, und dann könnte man in Variation eines Müntefering-Spruchs sagen: Demokratie ist Mist. Das kann es ja auch nicht sein!

Frick: Ich glaube, dass die Parlamente, gerade in den letzten Jahren, sowohl Europaparlament als auch das nationale Parlament jetzt in Deutschland, durch verfassungsgerichtliche und gerichtliche Entscheidung deutlich gestärkt worden ist. Das ist ein Trend, der sich überall durchsetzt, gerade weil immer mehr, bis halt zum Haushaltsrecht, was ja ein zentrales parlamentarisches Recht ist, immer weiter ausgehöhlt worden sind, und ich glaube, wir erleben jetzt gerade einen kleinen Rollback in der Richtung, dass diese Institutionen wieder mehr gestärkt werden.

Also jeder hat verstanden, dass es in die Richtung nicht geht, und dass man nicht alles so auf die Spitze treiben kann, dass man demokratische Institutionen aushebeln sollte. Das, glaube ich, findet auch keinen besonderen Rückhalt in unserer Bevölkerung, die ja zu 90, 95 Prozent voll hinter der Demokratie steht, das darf man nicht vergessen.

Führer: Aber Sie haben ja gerade selbst gesagt, die Bürgerbeteiligung stößt irgendwann an Grenzen, also jetzt Beispiel Griechenlandkrise. Wo wäre sie denn? Wo kann man sie denn mit ihren fünf Stufen, was ja Zeit braucht, Engagement braucht gebildete Menschen, wo ist sie denn sinnvoll einzusetzen? Nur auf kommunaler Ebene?

Frick: Nein, das ganz bestimmt nicht. Wir sind ja auch da in einer Situation, wo wir ständig feststellen, dass es neue und wirklich ganz tolle Instrumente und Experimente gibt. Wir haben gerade in Frankreich erlebt, dass die sozialistische Partei ihren Präsidentschaftskandidaten per Volksbefragung eigentlich gefunden hat. Da konnte jeder hin, der musste ja noch nicht mal Parteimitglied sein. Da sind Millionen Leute hingegangen, und das war so ein kleines Fanal dafür, dass es auch auf einer nationalen Ebene geht.

Wir haben ganz viele Jahrhunderte von Experimenten auf kommunaler Ebene, die zum Teil ausgezeichnet funktionieren, und wenn wir uns mal angucken, wie sich unsere Demokratie weiterentwickelt und wie sie lebt, dann ist das eigentlich unglaublich erstaunlich. Wir konnten in den 50er-Jahren die Zahl der Volksentscheide in ganz Deutschland, Kommunal- und Landesebene, an zwei Händen abzählen. Mittlerweile haben wir jede Woche mindestens einen, wenn nicht zwei oder drei Volksentscheide auf kommunaler oder Landesebene.

Es gibt kein Landesrecht mehr, was nicht den Volksentscheid und die Volksbefragung vorsieht. Das heißt, die Demokratie hat auch deswegen diese tollen Zustimmungsraten, weil sie sich ständig mit den Menschen weiterentwickelt und anpasst, dass sie vielleicht nicht immer den Bewegungen voranrennt, sondern etwas nachholt, was die Bürger einfordern, ist sicherlich manchmal anders wünschenswert, aber im Großen und Ganzen können wir echt zufrieden sein mit dem, was wir an Entwicklungsmöglichkeiten finden, und wir sind jetzt in einer Zeit, wo sich wieder mehr und schneller verändert.

Führer: Und Sie meinen jetzt, mit wir meinen Sie jetzt: wir in Deutschland?

Frick: Jetzt wir in Deutschland vor allen Dingen, genau. Auf europäischer Ebene passiert da auch einiges, die Kommission versucht immer wieder mit irgendwelchen Bürgerpaneln die Meinung der Bürger einzuholen. Interessant ist nur, es wird ja auch nur darüber berichtet und es wird auch nur wahrgenommen, wenn es in irgendeiner Form ein Problem oder eine große Krise gibt, oder die Emotionen aufwallen. Die ganzen konstruktiven Dialoge, die jeden Tag in vielen Kommunen oder auch bis auf europäische Ebene oder nationale Ebene stattfinden, nimmt ja keiner wahr.

Also bei allen Vorbehalten, die man haben kann dagegen, dass es noch nicht weit genug geht und auch nicht genug Erfahrung da ist und man ein bisschen mutiger sein könnte – vom Bundesinnenministerium bis zum Bundesumweltministerium gibt es solche Verfahren. Seit Jahren werden solche Dinge erprobt. Natürlich kann das mehr sein, natürlich wünschen sich die Menschen auch mehr Einflussnahme, aber das sind erste Schritte, und ich glaube, mit der Erfahrung, die man da sammelt – man darf ja nicht vergessen, die Politiker und Verwaltungsleute haben in den letzten 60 Jahren ein ganz anderes Politikmodell gefahren, die müssen sich auch ein bisschen erst daran gewöhnen –, wächst sicherlich auch die Möglichkeit und der Mut, sich da ein bisschen weiter vorzuwagen.

Führer: Ein optimistischer Frank Frick, er ist Politikwissenschaftler und Experte für Bürgerbeteiligung bei der Bertelsmann-Stiftung. Danke fürs Gespräch, Herr Frick!

Frick: Danke auch, tschüss!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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