Sorgen einer polnischen Großmutter

Stettin in der Euroregion Pomerania wächst und wächst. In das deutsche Umland zieht es immer mehr Polen. Autor Andreas Zecher erzählt von der Familie Przybecki, deren Großmutter den Verlust der polnischen Identität fürchtet.
Maria Przybecka ist besorgt. Was soll nur aus ihren Enkelkindern werden? Die Zwillinge Jan und Marek wachsen in Deutschland auf, gehen in einen deutschen Kindergarten und vermutlich bald auch in eine deutsche Schule! Was sich ihr Sohn Krzysztof und seine Frau Anna nur dabei gedacht haben, fragt sich die Großmutter im fernen Warschau.
Sie hatte von Anfang an kein gutes Gefühl, als das junge Paar von Stettin aus über die Grenze zog. Sie schimpfte und appellierte an deren nationales Gewissen. Genützt hat es nicht. Nun telefoniert die Oma fast jeden Tag mit den Zwillingen, will wissen, wie sie den Tag verbracht haben und erzählt viel von Opa, ihrem verstorbenen Mann.
Ihr Sohn ist sich sicher, dass sie das vor allem deshalb macht, weil sie überzeugt ist, die Jungs würden ohne ihr Zutun kein Gefühl für gutes Polnisch bekommen. Und diese Katastrophe müsse verhindert werden.
Ausgewogen deutsch-polnische Bevölkerung
Der junge Mann ahmt den Tonfall seiner Mutter nach, die zudem befürchtet, ihren Enkelkindern könnte in Deutschland die polnische Identität abhandenkommen. Deutscher Kindergarten, deutsches Essen - regelmäßig ermahnt sie Anna wenigstens am Wochenende etwas Ordentliches zu kochen und zu backen. Krysztof Przybecki lacht. Er arbeitet in Stettin für eine touristische PR-Agentur.
Mit Freunden ist er vor einiger Zeit in das deutsche Umland der polnischen Großstadt gezogen. In der Nähe von Ueckermünde haben sich die Familien ein verwahrlostes Gutshaus gekauft und wollen es nach und nach sanieren. Ein Haus in dieser Größe inmitten von viel Grün wäre auf polnischer Seite für sie unbezahlbar. Hier sind sie von den Behörden bei ihrem Vorhaben sogar unterstützt worden.
Der nordöstliche Zipfel Deutschlands erlebt einen beispiellosen Rückgang der ursprünglichen Bevölkerung. Stettin dagegen platzt aus allen Nähten. Auch, weil der Zuzug von Polen in die attraktive Metropole an der Odermündung ungebrochen ist. Das Interesse, auf deutscher Seite zu günstigen Bedingungen eine Immobilie zu kaufen oder zu mieten wächst damit stetig. In zwei oder drei Jahrzehnten, glaubt manch einer, wird es zwischen Ueckermünde, Pasewalk und Stettin eine ausgewogen durchmischte, deutsch-polnische Bevölkerung geben.
Regionales Selbstverständnis bildet sich aus
Die Vermutung liegt nah, dass in diesem Gebiet die nationalen Identitäten allmählich in den Hintergrund rücken. Stattdessen wird sich ein starkes regionales Selbstverständnis ausbilden. Dessen Grundlage eine vielgestaltige Verbundenheit mit dem neuartigen heimatlichen Umfeld ist. Krysztof Przybecki setzt zudem darauf, dass sich aus dieser Verbundenheit auch eine gemeinsame Verantwortung für dessen gedeihliche Entwicklung ableitet.
Seiner Mutter kann er das nicht plausibel machen. Die deutsch-polnische Euroregion an der Odermündung ist für sie unfassbar und unglaublich zugleich, sagt er. Da die Jahre, die sie noch allein in Warschau leben kann, gezählt sind, wird sie deren Realität über kurz oder lang aber kennenlernen. Denn, wenn die Zeit gekommen ist, will ihr Sohn sie zu sich holen. In dem alten Gutshaus wird er dann ein schönes Plätzchen für sie hergerichtet haben. Krysztof Przybecki stellt sich vor, dass es von seiner Mutter nach einigem Murren angenommen wird. Und wenn ihre Gesundheit es zulässt, wird sie mit seiner Familie in der Ueckermünder Heide nach Pilzen suchen.
Dr. Andreas Zecher, Jahrgang 1953, ist Journalist und Autor. Er lebt in der Nähe von Rostock. Mehr als 20 Jahre berichtete er für den in Neubrandenburg erscheinenden "Nordkurier" aus der nordöstlichen Küstenregion. Zuletzt erschienen: "Heute ein Frosch-Morgen ein König, Verrückte Geschichten aus Mecklenburg-Vorpommern" (Magma Verlag).

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