Bruttoinlandsprodukt und Wohlstand

Schluss mit dem Wachstumsmantra

Illustration eines Geschäftsmannes der versucht, einen nach oben strebenden Pfeil gegen eine auf ihn zufallende Reihe von Balken zu stützen.
"Wissenschaftliche Studien zeigen: Unendliches Wachstum ist auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen nicht möglich", sagt Kristin Langen. © Getty Images / iStockphoto / Vectorian
Ein Kommentar von Kristin Langen · 15.11.2022
Nur wenn die Wirtschaft wächst, ist auch der Wohlstand gesichert. Seit Jahrzehnten hören das die Menschen. Damit muss Schluss sein, sagt die Ökonomin Kristin Langen. Denn dem BIP ist es völlig egal, ob Wälder gerodet oder Solaranlagen gebaut werden.
Wenn die Wirtschaft brummt, die Auftragsbücher voll sind und die Umsätze wie eine Linie steigen, die immer weiter in die Höhe schnellt, dann klingt das gut, nach Fortschritt und Wohlstand. Was man sich bildlich gut vorstellen kann – das lässt sich allerdings gar nicht leicht bemessen und beziffern.
Es gibt eine Zahl, die genau das versucht. Eine Zahl, die angibt, wie viel in einem Land an Gütern und Dienstleistungen produziert und konsumiert wird: das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP. Steigt das BIP, spricht man von Wirtschaftswachstum. Doch Wirtschaftswachstum mit Wohlstand gleichzusetzen, das ist zu kurz gedacht.

Bruttoinlandsprodukt als Wachstumsmesser 

Bei jedem Autounfall steigt das BIP. Warum? Der Krankenwagen muss anreisen, das medizinische Personal im Krankenhaus eingesetzt werden, der Abschleppdienst kommen, das Auto repariert werden. Zeigen Autounfälle also Wohlstand an? Fraglich! Oder das Thema: Hausarbeit. Wenn der Ehemann jeden Tag zu Hause kocht, dann fließt das nicht ins BIP ein. Wenn Ehen aber scheitern, Menschen sich trennen und der Mann statt zu Hause im Restaurant isst, dann plötzlich steigt das BIP.
Und: Dem BIP ist es völlig egal, ob Kohlekraftwerke oder Solaranlagen gebaut werden, ob Wälder abgeholzt oder aufgeforstet werden, es steigt, solange Menschen für ihre Arbeit bezahlt werden. Das BIP ist also kein angemessener Indikator für Wohlstand und Lebensqualität, sondern nur ein guter Indikator dafür, wie viel produziert und konsumiert wird – ganz unabhängig davon, was, von wem und unter welchen Bedingungen geschaffen wird.

BIP hat noch riesigen Einfluss

Trotzdem ist das BIP die mächtigste Zahl der Welt: Nicht nur die Politik richtet sich danach, das gesamte Wirtschaftssystem basiert auf Wachstum. Erhöht sich die Produktion, werden Arbeitsplätze geschaffen, mehr Menschen zahlen Steuern und in die Sozialversicherungssysteme ein. Öffentliche Ausgaben können steigen.
Und: Stetiges Wachstum verhindert Verteilungskämpfe. Solange der Kuchen immer weiterwächst, Löhne steigen, alle ein bisschen mehr haben, bleibt die Ungleichheit zwischen arm und reich zwar bestehen, es fällt aber weniger auf. Außerdem dürfen Länder, die ein hohes BIP-Wachstum nachweisen, Teil des begehrten Clubs der G20 oder sogar der G7 sein, sich eine starke Volkswirtschaft nennen und haben internationalen Einfluss.

BIP befeuert die Klimakrise 

Dennoch: Die Fixierung auf das BIP-Wachstum ist ein Problem. Das BIP ist nämlich nicht nur ein schlechter Indikator für Wohlstand, anhaltend hohes BIP-Wachstum der Industrieländer verhindert sogar Wohlstand, weil es die Klimakrise anheizt. In einer Welt, die 1 oder sogar 2 Grad heißer ist als jetzt, übernehmen nicht mehr beherrschbare Naturkatastrophen das Ruder; in einer solchen Welt kann es keinen Wohlstand mehr für die breite Gesellschaft geben.
Wissenschaftliche Studien zeigen: Unendliches Wachstum ist auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen nicht möglich. Das gilt vor allem für Industrieländer. Sie sind es, die ihren Ressourcenverbrauch radikal reduzieren müssen – damit der Globale Süden ein Mindestmaß an Gütern produzieren und konsumieren kann.

Wirtschaft muss unabhängig vom Wachstum funktionieren

Außerdem geht in einer Wirtschaft, die allein auf Wachstum fixiert ist, eine Rezession oft mit Arbeitslosigkeit, Leid und Armut einher. Um Wohlstand zu sichern und die Klimaziele zu erreichen, braucht es also ein generelles Umdenken: Es braucht eine Wirtschaft, die unabhängig von Wachstum funktioniert.
Ein erster wichtiger Schritt hierfür ist es, Wohlstand neu zu definieren – Wohlstand unabhängig von Produktion, Konsum und Wachstum zu begreifen. Lebensqualität für alle in den Mittelpunkt der Politik zu stellen. Und damit könnte auch das BIP schnell zu einem Relikt der Vergangenheit werden.

Kristin Langen, geboren 1993 in Berlin, studiert im Master Global Political Economy and Development an der Universität Kassel und beschäftigt sich als freie Journalistin mit Themen an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Klima und Umwelt. Sie ist Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik und Teil des Netzwerks Klimajournalismus. 

Kristin Langen. Eine junge Frau mit langen dunkelblonden Haaren.
© Barbara Knöll
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