Gräber indigener Kinder in Kanada

"Ein Ruck durch die kanadische Mehrheitsgesellschaft"

09:42 Minuten
Kinderschuhe liegen auf dem Boden in Sichtweite des Regierungsgebäudes im kanadischen Bundesstaat Ontario. Sie sollen an die toten indigenen Kinder erinnern, deren Gräber auf dem Gelände einer ehemalgen "Residential School" entdeckt wurden.
Gedenken vor dem Regierungsgebäude im kanadischen Bundesstaat Ontario: Auf dem Gelände einer ehemaligen "Residential School" wurden erneut Gräber von indigenen Schulkindern entdeckt.(Symbolbild) © picture alliance / The Canadian Press / Chris Young
Manuel Menrath im Gespräch mit Marietta Schwarz · 24.06.2021
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Erneut wurden in Kanada hunderte Gräber indigener Kinder auf Schulgrundstücken entdeckt. Sie zeugen vom einstigen Versuch, First-Nations-Kulturen auszulöschen, sagt der Historiker Manuel Menrath. Bis heute litten Indigene unter dieser Vergangenheit.
"Residential Schools" wurden die Schulen genannt, in die viele indigene Kinder in Kanada seit dem 17. Jahrhundert gezwungen wurden. Viele starben an Krankheiten oder an der schlechten Behandlung in den Einrichtungen. Dort wollte man diese Kinder "missionieren" und "zivilisieren". Erst 1997 wurden die letzten dieser Schulen geschlossen.
Dass jetzt, wie bereits Ende Mai, erneut hunderte Gräber von indigenen Kindern nah bei einem früheren katholischen Internat für Kinder von Ureinwohnern gefunden wurden, sei ein Zeichen für eine intensivere Aufklärungsarbeit, sagt der Historiker Manuel Menrath. Menrath hat in seinem Buch "Unter dem Nordlicht" das Leben der indigenen Völker Kanadas detailliert beschrieben.

Wichtige Aufklärung

"Man ist jetzt überall auf diesen Geländen von ehemaligen Residential Schools dran, die Böden zu untersuchen mit Radar und weiteren Messungen, um eben wirklich möglichst viele dieser Überreste dieser Kinder, die in diesen Schulen zwangsumerzogen wurden, zu finden."
Dies sei sehr wichtig für die indigene Gemeinschaft. Und jetzt würden auch die Behörden mit ihnen zusammenarbeiten, betont Menrath. Die Behörden hätten die nötigen Mittel, um etwa Radar-Technik zu finanzieren – Geld, das den indigenen Gemeinden fehle.
Ursprünglich seien die Schulen für die Nachfahren von europäischen Pelzhändlern und indigenen Frauen vorgesehen gewesen. Sie sollten nicht in die indigene Kultur hineinwachsen, sondern "zivilisiert" werden.

Missionare und Kolonisten in gemeinsamer Sache

Weil immer mehr Siedler ins Land strömten, habe man die Indigenen umerziehen wollen - sie zu Christen und zu Bauern machen, damit sie sesshaft würden "und schließlich nicht mehr im Weg sind".
Kolonialismus und Missionierung seien dabei Hand in Hand gegangen, so Menrath: Die Kolonisten hätten das Land für die Besiedelung gebraucht – "und die Missionare, die wollten eben Seelen retten".
In den Schulen sei es den Kindern sehr schlecht gegangen. Heimweh, fremde Sitten und die ungewohnte Nahrung, teils aus Konservendosen, hätten ihnen zu schaffen gemacht.
"Sie waren ja Wildfleisch und Fisch gewohnt und sie wurden aufs Härteste bestraft. Sie wurden geschlagen, wenn sie ihre Sprache benutzten." Wer das Schulgelände verließ, sei später dafür eingekerkert worden "Teilweise wurden sie sogar auf elektrische Stühle gesetzt und mit Elektroschockschlägen malträtiert", zählt der Historiker die Misshandlungen auf.

Kirche und Staat sind gleichermaßen verantwortlich

Die katholisch geleiteten Heime wurden von der Regierung verwaltet und finanziert. Grundlage sei der "Indian Act" von 1876, der noch immer geltendes Recht in Kanada ist. Das Gesetz regelt die rechtliche Situation der First Nations, wie ein Großteil der kanadischen Ureinwohner heute genannt wird.
Sowohl die Kirchen als auch die Regierung trügen also die Verantwortung. "Während sich die kanadische Regierung 2008 für das Leid, das den Indigenen widerfahren ist - diesen kulturellen Völkermord - entschuldigt hat, wie auch die presbyterianische, die methodistische Kirche und die Union Church, hat sich die katholische Kirche nie offiziell dafür entschuldigt", berichtet Menrath.
Zur Aufklärung könnten die Gräberfunde sehr viel beitragen, denn jetzt werde klar, dass das Unrecht an den Indigenen bis in die Gegenwart reiche. Der Historiker ist überzeugt: "Ich glaube, jetzt geht wirklich ein Ruck durch die kanadische Mehrheitsgesellschaft."

Neues Leid durch Identitätsverlust

Rund 70.000 der ehemaligen "Residential School"-Kinder seien noch am Leben, und viele litten noch heute psychisch unter den Folgen der Schulzeit, seien teils alkoholkrank und nicht in der Lage, sich um ihre eigenen Kinder zu kümmern.
Daraus habe sich neues Unrecht ergeben. Denn der kanadische Staat habe diesen Überlebenden der "Residential Schools" die Kinder weggenommen, sie in Pflegefamilien untergebracht oder zur Adoption freigegeben.
(mle)
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