Graben in verschütteten Erinnerungen
Die einzigartigen Betrachtungen eines Mannes über die wiederkehrenden Erinnerungen an seine Kindheit in Auschwitz: Als Kind wird Otto Dov Kulka zusammen mit seiner Mutter erst in das Ghetto Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert. Lange Zeit hat er über seine Erlebnisse geschwiegen, nun erkundet der Historiker sein Gedächtnis.
Mit "Landschaften der Metropole des Todes" legt Otto Dov Kulka ein erschütterndes Buch vor. Aber das Wort "erschütternd", sagt nicht genug. Kulka, geboren 1933, kam als Zehnjähriger zusammen mit seiner Mutter ins Lager Theresienstadt. Wenige Monate später, im September 1943, wurden beide nach Auschwitz deportiert, wo Kulkas Vater, der seit 1942 dort Häftling war, seine Frau und seinen Sohn fand.
"Ich bin ausgezogen", so heißt es in dem Buch, "mein Gedächtnis zu erforschen, ich schreibe keine Erinnerung." In der Formulierung schwingt der Titel von Grimms Märchen "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen" mit. Für Kulka wird das "unabänderliche Gesetz des Großen Todes" zu einer Urerfahrung. Er macht diese Erfahrung als Kind. Auschwitz kannte nur ein Gesetz, und das galt für jeden: "Der einzige Weg hier raus war das Gas". Wenn Kulka davon spricht, dass er sein Gedächtnis erforschen musste, dann drückt sich darin das Bemühen aus, sich Auschwitz als seine "Kindheitslandschaft" in Erinnerung zu rufen. Unweigerlich musste er dazu zurück ins Lager. Der Überlebende bleibt ein Gefangener von Auschwitz, das er nicht los wird, nicht loswerden kann.
Kulka, der bis zu seiner Emeritierung als Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem gelehrt hat, will dieses reflektierende Erinnern von seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Shoa beschäftigen, unterschieden wissen. In den 90er-Jahren hat er damit begonnen, Erinnerungsbilder zu beschreiben und seine Gedanken auf ein Tonband aufzunehmen. Das nun vorliegende Buch umfasst diese Tonbandaufzeichnungen sowie Tagebuchnotizen und den wissenschaftlichen Aufsatz "Ghetto im Vernichtungslager", der erklärt, wie es möglich war, dass er als Zehnjähriger Auschwitz überleben konnte.
Zusammen mit seiner Mutter kam Kulka in das "Familienlager" von Auschwitz-Birkenau, das im September 1943 mit 5000 aus Theresienstadt deportierten Juden errichtet worden war, und das bis 1944 aufrechterhalten wurde. Mit Staunen lernte Kulka als Kind eine Welt kennen, die nach den Ordnungsprinzipien Selektion und Tod funktionierte. Umgeben vom Grauen und angesichts der täglichen Furcht klammert sich der Elfjährige an die Schönheit des azurblauen Sommerhimmels, der sich wie ein Versprechen über das Lager spannt. Der Himmel, ein Gegenentwurf zu den "schwarzen Menschenkolonnen, die in den Krematoriumsanlagen verschwinden und in Rauchwolken aufgehen".
Im Familienlager gab es einen Kinderchor, dem Kulka angehörte. Der jüdische Chorleiter studierte mit den Kindern Schillers "Ode an die Freude" ein. Nachträglich sucht Kulka eine Antwort auf die Frage, ob es unerschütterlicher Humanismus oder Sarkasmus war, der den Chorleiter dazu veranlasste, gerade dieses Lied nur wenige hundert Meter entfernt vom größten Hinrichtungsort der Menschheitsgeschichte singen zu lassen.
Kulkas tastendes Suchen gleicht einem vorsichtigen Graben im Erdreich Erinnerung. Er gräbt nach den verschütteten Bildern seiner Kindheit. Dabei geht er äußerst behutsam vor. Die Arbeit muss ein Martyrium gewesen sein, denn da er herausfinden wollte, was er im Lager gesehen hat, musste er sich jeden dieser Augenblicke vergegenwärtigen. Dieses Buch ist ein außerordentliches Ereignis.
Besprochen von Michael Opitz
"Ich bin ausgezogen", so heißt es in dem Buch, "mein Gedächtnis zu erforschen, ich schreibe keine Erinnerung." In der Formulierung schwingt der Titel von Grimms Märchen "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen" mit. Für Kulka wird das "unabänderliche Gesetz des Großen Todes" zu einer Urerfahrung. Er macht diese Erfahrung als Kind. Auschwitz kannte nur ein Gesetz, und das galt für jeden: "Der einzige Weg hier raus war das Gas". Wenn Kulka davon spricht, dass er sein Gedächtnis erforschen musste, dann drückt sich darin das Bemühen aus, sich Auschwitz als seine "Kindheitslandschaft" in Erinnerung zu rufen. Unweigerlich musste er dazu zurück ins Lager. Der Überlebende bleibt ein Gefangener von Auschwitz, das er nicht los wird, nicht loswerden kann.
Kulka, der bis zu seiner Emeritierung als Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem gelehrt hat, will dieses reflektierende Erinnern von seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Shoa beschäftigen, unterschieden wissen. In den 90er-Jahren hat er damit begonnen, Erinnerungsbilder zu beschreiben und seine Gedanken auf ein Tonband aufzunehmen. Das nun vorliegende Buch umfasst diese Tonbandaufzeichnungen sowie Tagebuchnotizen und den wissenschaftlichen Aufsatz "Ghetto im Vernichtungslager", der erklärt, wie es möglich war, dass er als Zehnjähriger Auschwitz überleben konnte.
Zusammen mit seiner Mutter kam Kulka in das "Familienlager" von Auschwitz-Birkenau, das im September 1943 mit 5000 aus Theresienstadt deportierten Juden errichtet worden war, und das bis 1944 aufrechterhalten wurde. Mit Staunen lernte Kulka als Kind eine Welt kennen, die nach den Ordnungsprinzipien Selektion und Tod funktionierte. Umgeben vom Grauen und angesichts der täglichen Furcht klammert sich der Elfjährige an die Schönheit des azurblauen Sommerhimmels, der sich wie ein Versprechen über das Lager spannt. Der Himmel, ein Gegenentwurf zu den "schwarzen Menschenkolonnen, die in den Krematoriumsanlagen verschwinden und in Rauchwolken aufgehen".
Im Familienlager gab es einen Kinderchor, dem Kulka angehörte. Der jüdische Chorleiter studierte mit den Kindern Schillers "Ode an die Freude" ein. Nachträglich sucht Kulka eine Antwort auf die Frage, ob es unerschütterlicher Humanismus oder Sarkasmus war, der den Chorleiter dazu veranlasste, gerade dieses Lied nur wenige hundert Meter entfernt vom größten Hinrichtungsort der Menschheitsgeschichte singen zu lassen.
Kulkas tastendes Suchen gleicht einem vorsichtigen Graben im Erdreich Erinnerung. Er gräbt nach den verschütteten Bildern seiner Kindheit. Dabei geht er äußerst behutsam vor. Die Arbeit muss ein Martyrium gewesen sein, denn da er herausfinden wollte, was er im Lager gesehen hat, musste er sich jeden dieser Augenblicke vergegenwärtigen. Dieses Buch ist ein außerordentliches Ereignis.
Besprochen von Michael Opitz
Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes, Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft
Aus dem Hebräischen übersetzt von Inka Arroyo Antezana sowie Anne Birkenhauer und Noa Mkayton
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013
188 Seiten, 19,99 Euro.
Aus dem Hebräischen übersetzt von Inka Arroyo Antezana sowie Anne Birkenhauer und Noa Mkayton
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013
188 Seiten, 19,99 Euro.