Gottfried Benn/Gertrud Zenzes: "Briefwechsel 1921-1956"
© Wallstein Verlag Briefwechsel 1921-1956Wallstein, Göttingen 2021
Carepakete und deutliche Worte
07:13 Minuten

481 Seiten
34,00 Euro
Er hatte viele Geliebte. Aber mit ihr hielt er lange Kontakt. In Gottfried Benns Briefen an Gertrud Zenze zeigt sich, wie nachhaltig seine Dichteraura wirkte. Aber auch: was für eine eigensinnige Frau sein Leben begleitete.
Zum Mysteriösesten an dem undurchdringlichen, geheimnisvollen Dichter Gottfried Benn gehören seine diversen Frauenbeziehungen. Man scheint das mit seinem preußisch-militärischen Habitus, den man auf den verschiedensten Fotografien sofort bemerkt, kaum in Einklang bringen zu können. Zu den zahlreichen Briefwechseln, in denen seine Affären überliefert sind, gesellt sich jetzt derjenige mit Gertrud Zenzes, herausgegeben von Holger Hof und Stephan Kraft.
Keine gewöhnliche Kurzzeit-Geliebte
Auf den ersten Blick entspricht diese Liaison dem bei Benn üblichen Schema: Sie spielte sich in einem überschaubaren Zeitraum ab, zwischen Dezember 1921 und September 1922, bis Benn die Beziehung mit Hinweis auf sein Einsamkeitsbedürfnis und seine poetische Unnahbarkeit abrupt beendete. Gertrud Cassel, wie sie mit Geburtsnamen hieß, war acht Jahre jünger und 1921 27 Jahre alt.
Aber das Erstaunliche ist, dass der Kontakt nie vollständig abriss und nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal intensiviert wurde, und zwar ohne offenkundige sexuelle Implikationen. Benns Briefwechsel mit ihr zählt zu den umfangreichsten und umfasst einen vergleichsweise langen Zeitraum.
Gertrud Zenzes aufregender Lebensweg
Eine große Leistung dieser Edition ist, die ziemlich aufregende Biografie dieser Frau vor Augen zu führen. Gertrud Cassel stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie im schlesischen Hirschberg und gehörte zur ersten Generation von Frauen, die im deutschen Kaiserreich gegen viele Widerstände das Abitur ablegen konnten.
1918 wurde sie im Fach Nationalökonomie promoviert, und ihre anschließenden Arbeitsstellen zeugen von den Problemen, als berufstätige Frau Karriere machen zu können. Sie arbeitete, affiziert, aber auch überfordert von den emanzipatorischen Freiräumen, in Archiven und privaten Bibliotheken.
1926 folgte sie ihrem etwas flamboyanten Geliebten Alexander Zenzes, der in die USA ausgewandert war – ein Abenteurer, Kampfpilot im Ersten Weltkrieg und Erfinder. In San Francisco gründete sie eine deutsche Buchhandlung, die bis 1936 existierte, und schlug sich anschließend in New York durch, trennte sich von ihrem Mann und liierte sich einige Jahre später wieder mit ihm – ein unstetes, bohemienhaftes Leben, ohne Absicherung. Für einige Dutzend Carepakete an Gottfried Benn reichten ihre finanziellen Mittel aber immer.
Sie weist ihn auf Barbarei der Nazis hin
Aus der Zeit der Affäre mit Benn bis 1922 sind nur Briefe von ihm überliefert, und manche seiner Sätze scheinen ihre Eigenart zu treffen: „Du bist sehr lieb, viel zu lieb.“ Nach der Trennung scheint er sich, trotz seiner bekannten rhetorischen Posen, ihr in untypischer Weise auch ein bisschen zu öffnen: so nach dem erschütternden Selbstmord einer seiner Geliebten. Dass Gertrud Zenses aus den USA den Kontakt zu ihm hält, zeigt, wie sehr seine dichterische Aura bei ihr nachwirkt.
Dennoch ist der Höhepunkt ihres Briefwechsels zweifellos der Moment, als sie 1933 auf ein Nazibekenntnis von ihm reagiert. Dieser Brief ist ein kulturgeschichtlich aufschlussreiches Dokument. Sie ist zwar auch von der deutschen Kultur durchdrungen und bekennt sich offensiv dazu, hadert dabei durchaus mit ihrer jüdischen Herkunft, aber sie weist Benn unmissverständlich und klar auf die Barbarei der Nazis hin.
Benns monomanischer Charakter wird gerade auch in diesem Briefwechsel überaus deutlich, aber gleichzeitig das ominöse Charisma, das er entfalten konnte.