Gorki Theater mit Aufruf "Desintegriert euch!"

"Wir müssen tatsächlich noch ein wenig streiten"

Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim Gorki Theaters in Berlin
Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim Gorki Theaters in Berlin: Angesichts neofaschistischer Bewegungen sei es notwendig, sich zu desintegrieren, sagt sie. © imago/Jürgen Heinrich
Shermin Langhoff im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 10.11.2017
"Nation" und "Religion" seien sehr einfache und sehr alte Narrative, nach denen sich derzeit Regierungen auf der ganzen Welt ausrichteten, sagt Shermin Langhoff. Die Intendantin des Berliner Maxim Gorki Theaters hält diese "Integrationslosungen" für denkbar ungeeignet.
Stephan Karkowsky: Theater allein reicht nicht, das sagt sich das Berliner Maxim-Gorki-Theater regelmäßig und inszeniert nun zum dritten Mal seinen Herbstsalon mit Performances, Ausstellungen und Aktionen. Morgen etwa stellt es am Brandenburger Tor die spektakulären Busse auf, die an die Straßenkämpfe in Aleppo erinnern. Das Motto dieses Herbstsalons heißt "Desintegriert euch!", und das lassen wir uns hier im Deutschlandfunk Kultur erklären von der Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters, von Shermin Langhoff. Guten Morgen!
Shermin Langhoff: Guten Morgen, hallo!
Karkowsky: "Desintegriert euch!", ist das als Aufruf zu verstehen an die Mehrheitsgesellschaft?
Langhoff: Das ist erst mal als Aufruf zu verstehen an uns alle, noch mal neue Perspektiven zu erheischen auf die bekannten Herausforderungen und Probleme, weil uns wie andere das Gefühl umtreibt, dass eben sehr einfache Lösungen und sehr einfache Narrationen und sehr alte wie "Nation" und "Religion" zur Integration dienen, und zwar nicht nur bei uns, sondern rings auch um uns in Europa und der Welt. Und das wollen wir tatsächlich infrage stellen, ob diese einfachen Losungen von Integration in Einheiten, in Homogenitäten, den Realitäten unserer Gesellschaft entsprechen und langfristig die richtigen Konzepte sind.
Karkowsky: Sie haben ja schon vor langer Zeit für Ihr Theater den Begriff postmigrantisch geprägt. Ich hab das Konzept immer so als integratives verstanden, eines, das verbinden will statt aufzulösen. Liege ich verkehrt?

"Anpassungen an rechte Bewegungen finde ich besorgniserregend"

Langhoff: Genau darum geht es weiterhin, aber wir glauben, dass wir im Moment tatsächlich alle einmal rausgehen müssen aus dem bisher Bekannten, aus dem bisher Gewussten, aus dem bisher Gedachten, weil das, was wir erleben an neofaschistischen Bewegungen selbst bei uns in Deutschland und auch an dem, wie sich Regierungen verändern auf der ganzen Welt – ich sagte es gerade, Nation und Religion sind die Narrationen, denen sie folgen –, erscheint es tatsächlich notwendig, sich zu desintegrieren, um diese gemeinsamen Gründe neu zu definieren. Also was ist sozusagen, wenn wir uns in etwas integrieren, wie sieht diese Gesellschaft aus und welche Konzepte haben wir für diese Diversität von Gesellschaft, in die wir uns dann alle gemeinsam integrieren? Aber ich glaube, darüber müssen wir tatsächlich noch ein wenig streiten, weil die Integrationsforderungen und -losungen, die ich gerade sehe, und die Anpassungen an rechte und rechtsextreme Bewegungen, finde ich tatsächlich besorgniserregend.
Karkowsky: Zum Beispiel?
Langhoff: Zum Beispiel, dass wir tatsächlich erleben, wie sich bereits in der Kulturpolitik eine Angst breit macht, unter AfD-Einflüssen nicht mehr fördern zu können, unter Förderern selbst, die eben von staatlichen Mitteln abhängig sind, wo auf einmal es möglich ist, angesichts einer Verleumdung von AfD-Kultursprechern und anderen, die einfach Kunst oder bestimmte Kunstinstitutionen abtun als vielfaltsideologisch oder linksliberal, also dass es eben tatsächlich möglich ist, Politik, und zwar wertkonservative genauso wie liberale, einzuschüchtern aufgrund von angeblich besorgten Bürgern.
Karkowsky: Die Aktion mit den Bussen aus Aleppo habe ich gerade schon erwähnt, die fand ja auch in Dresden durchaus Kritiker. In welchen Aktionen des Herbstsalons, würden Sie sagen, wird denn Ihr Aufruf zur Desintegration noch besonders deutlich?
Langhoff: Na ja, es fand auch sehr viel Bürgertum, das sich hinter das Werk gestellt hat, möchte ich dazusagen, in Dresden, und das finde ich hervorragend, dass in Dresden eben wirklich ein Dialog auch möglich war. Medial hat sich natürlich vor allem die bis zu Morddrohungen reichende rechtsextreme Agitation dort irgendwie transportiert, und natürlich wollen wir auch diesen Diskurs mitnehmen.
Es werden aus Dresden politisch Verantwortliche und aus dem Kunsthaus Kollegen kommen und mit uns hier in Berlin diskutieren, aber es gibt viele andere Werke. Eins ist gestern bereits im "Tagesspiegel" beigelegt erschienen, "The List" von United, einer NGO, die Daten sammelt zu fliehenden Geflohenen, die an den Grenzen Europas und innerhalb Europas gestorben sind seit 92/93. Banu Cennetoğlu hat das herausgegeben. Und es gibt neben den Bussen und dem Werk "The List" noch hundert andere Werke, die dann im Kronprinzenpalais, im Palais am Festungsgraben und im Gorki selbst zu sehen sind bei Eintritt frei, zweieinhalb Wochen lang.
Karkowsky: Wir haben über "The List" auch bereits berichtet hier im Deutschlandfunk Kultur, da werden ja dann auch auf Litfaßsäulen im Zentrum Berlins die Namen der Toten zu lesen sein. Nun sagt die Künstlerin selber, ihre Aktion sei keine Kunstaktion – was ist denn die Liste dann, ein Mahnmal?
Langhoff: Das ist tatsächlich erst mal eine Erinnerungsarbeit, uns ähnlich wie die Busse das noch mal nahezubringen, uns anders zu konfrontieren mit Einzelschicksalen. Die Statistiken kennen wir und sehen wir und lesen wir jeden Tag, aber diese Liste ist wirklich der akribische Versuch, diese Menschen, die gestorben sind, festzuhalten, ihrer zu erinnern. Und insofern gibt weder die Künstlerin dem Ganzen einen Namen noch wir, und wir sind nur froh, dass die Augstein-Stiftung und der "Tagesspiegel" eben so eine Veröffentlichung möglich gemacht haben und ich glaube sehr viel zum Nachdenken damit anregen.

"Bildende Kunst wird nicht zu kurz kommen"

Karkowsky: Täuscht denn der Eindruck, dass der erste Herbstsalon noch stärker eine Kunstausstellung war und jetzt das Konzept doch eher in Richtung Performation, also ins Performative geht?
Langhoff: Das ist eine große Mischung, würde ich sagen, der Eindruck täuscht partiell. Wir haben natürlich die gesamten zweieinhalb Wochen über sowohl im Maxim-Gorki-Theater als auch im Studio des Theaters Theaterstücke, Gastspiele aus Athen, aus Posen und anderen Orten, aber tatsächlich haben wir auch mindestens 100 Werke bildender Kunst: Alfredo Jaar, Santiago Sierra, Danica Dakic, also auch große Namen sind mit ihren Werken dabei. Norbert Bisky und sehr viele Bekannte wie Sven Johne, Tobias Zielony et cetera. Also bildende Kunst wird nicht zu kurz kommen in diesem Herbstsalon, insbesondere im Kronprinzenpalais, das ja mal die Galerie der Lebenden war, und der Herbstsalon, den wir 2013, 100 Jahre nach dem ersten und letzten deutschen Herbstsalon von Herwarth Walden, auch inspiriert durch dessen Existenz gemacht haben, ist da eigentlich weitergegangen geschichtlich. Nämlich dort sind die Blauen Reiter, dort sind die Maler der Brücke ausgestellt worden, bis sie eben zu entarteter Kunst deklariert wurden und verschwinden mussten, ebenso wie die, die sie gemacht haben.
Karkowsky: Shermin Langhoff über das Programm ihres Herbstsalons am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Ihnen dafür besten Dank!
Langhoff: Ich danke Ihnen, schönen Tag noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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