Gorillas, Lieferando und Co.

Die Mittelschicht bestellt, das Prekariat liefert

04:21 Minuten
Im Vordergrund eine Person mit schwarzer Jacke, die das „G“ der Firma Gorillas als Sticker auf der Jacke trägt. Darunter ein Klebestreifen mit der Aufschrift „Exploited Worker“
Bei Streiks Entlassung: Die Arbeitsbedingungen bei den Lieferdiensten sind oft miserabel. © imago / Mike Schmidt
Ein Standpunkt von Ann-Kristin Tlusty · 09.11.2021
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Liefern lassen macht das Leben leichter, keine Frage. Doch im Boom der Lieferandos, Gorillas und Co. wird auch ein neuer Klassenkonflikt deutlich, meint Ann-Kristin Tlusty. Der wird aber nicht dadurch gelöst, dass man nicht mehr dort bestellt.
Dienstboten kennen die meisten nur aus Romanen oder Filmen. Einst waren die aristokratischen Eliten für ihren herrschaftlichen Lebensstil auf eine umfassende Dienstbotenökonomie angewiesen. Doch in gewisser Weise ist diese Lebensform zurück – in Form von Lieferdiensten.
Keine Frage, liefern lassen macht das Leben leichter. Ob Lebensmittel oder Lunch: Zum bisherigen Monopolisten Lieferando gesellen sich zunehmend Start-ups, die eine unkomplizierte Alternative zu Supermarkt- und Restaurantbesuch versprechen. Durch die Gorillas-App navigiert es sich schneller als durch jeden Supermarkt, Wolt wirbt mit Lieferungen in Rekordzeit und die Kochboxen von HelloFresh sind nahezu idiotensicher.
Die Corona-Pandemie, in der es das virologisch Sinnvollste war, auf dem Sofa zu bleiben und das Leben vollständig in den digitalen Raum zu verlagern, hat die prompte Servicementalität nur befeuert – zumindest in den Großstädten, auf die sich das Essenslieferphänomen bislang beschränkt.

Klassenkonfrontation: Die einen bestellen, die anderen liefern

"Menschen haben ein Recht auf Faulheit", äußerte Nazim Salur, Gründer des türkischen Lieferdienstes Getir, kürzlich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", und genau diese Haltung ist es, die die betont juvenilen Werbekampagnen der Anbieter transportieren. Kühlschrank leer? Flink's dir. Doch längst nicht allen steht diese kostspielige Mentalität offen. Vielmehr zeigt sich in der Welt der fix apportierten Mahlzeiten eine Klassenkonfrontation: Die einen bestellen, die anderen liefern.
Diese Entgegensetzung entspricht der Diagnose des Soziologen Andreas Reckwitz, nach der sich die Mittelklasse zunehmend in eine gutsituierte, akademische neue Mittelklasse und eine prekarisierte, oftmals migrantische "service class", also Dienstleistungsklasse, aufteilt. In den urbanen Ballungszentren träfen diese beiden Klassen aufeinander, so Reckwitz.
Der kollektive Fahrstuhleffekt, mit dem die Soziologie in den Achtzigerjahren noch beschrieb, wie die Klassengesellschaft gemeinsam eine Etage höher fahre, ist demnach längst passé. Vielmehr sei ein Paternostereffekt zu beobachten: Während die einen aufsteigen, steigen die anderen ab.

Extrem schlechte Arbeitsbedingungen bei Lieferservice-Firmen

Wie dieser Abstieg konkret aussehen kann, davon zeugen Streiks beim Lieferdienst Gorillas. Berliner Beschäftigte skandalisieren dort nicht nur befristete Arbeitsverträge und unverhältnismäßig lange Probezeiten, sondern auch verschleppte Gehaltszahlungen, die minderwertige Ausrüstung der sogenannten Rider und viel zu schwere Rucksäcke. Unfälle aufgrund schlechter Witterung und Zeitdruck gehören zum Arbeitsalltag. Die Reaktion ihrer Chefs: Entlassungen.
Sollte die neue Mittelklasse nun also schleunigst aufhören, den Gang in Supermarkt und Restaurant outzusourcen? Macht sich mitschuldig, wer bei Flink und Co. bestellt und das schlechte Gewissen bestenfalls mit etwas Trinkgeld kompensiert? Einerseits: Natürlich. Andererseits kann man es niemandem verübeln, nebst Vierzig-Stunden-Woche und etwaiger Sorgearbeit auf die lebensvereinfachenden Möglichkeiten der Gig Economy zurückzugreifen. Eine Konsum- und Lifestylekritik würde hier zu kurz greifen – denn wie so oft ist die Idee gut und lediglich die Umsetzung miserabel.

Kurierkollektiv will bessere Arbeitsbedingungen bieten

Mit weniger Zeitdruck, Schlechtwetterzuschlag, guter Arbeitsausrüstung und vor allem: festen Beschäftigungsverhältnissen, Tarifverträgen und einem angemessenen Stundenlohn könnte die Lieferbranche Beschäftigten faire Konditionen bieten.
Unternehmen versuchen meist, sich solcherlei Regulierungen zu entziehen, etwa durch Outsourcing an Subunternehmen – und erschweren oder verunmöglichen die Gründung von Gewerkschaften. Arbeitsbedingungen gelten ihnen lediglich als "Wettbewerbsfaktor".
Nicht zuletzt aus diesem Grund versuchen Zusammenschlüsse wie das Berliner Kurierkollektiv Khora, Essenslieferungen genossenschaftlich zu organisieren. Denn Menschen haben nicht nur ein Recht auf Faulheit, sondern vor allem auf würdevolle Arbeitsbedingungen.

Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert. Sie arbeitet als Redakteurin bei ZEIT ONLINE in Berlin. Im September 2021 erschien im Hanser Verlag ihr erstes Buch "Süß. Eine feministische Kritik".

© Sophie Meuresch
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