Gomringer zu Wandinschrift an Alice Salomon Hochschule

Sexismus-Vorwürfe gegen Gedicht als "Vorgang der Säuberung"

Eugen Gomringer in einem Treppenhaus.
Der 92-jährige Dichter Eugen Gomringer wehrt sich gegen die Kritik an seinem Gedicht. © Imago / Viadata
Moderation: Andrea Gerk  · 25.10.2017
Nach Sexismus-Vorwürfen wegen seines Gedichts an einer Wand der Berliner Alice Salomon Hochschule hat sich der Dichter Eugen Gomringer zu Wort gemeldet. Er sprach vom "Vorgang einer Säuberung" und "Dummheit" im Umgang mit einem Schlüsseltext der Konkreten Poesie.
Seit rund einem halben Jahr gibt es eine lebhafte Debatte um ein Gedicht, das seit sechs Jahren an der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin prangt. Damals wurden die 20 spanischen Worte des Dichters Eugen Gomringer in dicken schwarzen Lettern an die Fassade der Bildungseinrichtung gepinselt. Sie lauten übersetzt so: "Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer".
Das Gedicht "Avenidas" des Lyrik-Preisträgers der Hochschule stand unbeanstandet an der Hauswand, bis sich im vergangenen Jahr der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) der Hochschule über die Bedeutung des Gedichts beschwerte: "Ein Mann, der auf die Straßen schaut und Blumen und Frauen bewundert. Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren", kritisierte der Asta. "Es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind." Die Studierendenvertreter forderten, das Gedicht, das aus dem Jahr 1951 stammt, zu übermalen. Der Akademische Senat nahm den Antrag an, doch Rektor Uwe Bettig war dagegen, Gomringers Werk zu entfernen.

Dichter Gomringer meldet sich zu Wort

Nun hat sich im diesem Streit der 92-jährige Dichter Gomringer selbst zu Wort gemeldet, der zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur seit den 50er-Jahren zählt. Er gilt als Initiator der Konkreten Poesie, bei der es weniger um den Inhalt von Sprache geht und mehr darum, Wörter anschaulich aneinanderzureihen.
"Heute kommt es mir vor wie der Vorgang einer Säuberung", sagte Gomringer im Deutschlandfunk Kultur. Als wolle man eine ganze Lyrikreihe und Kunst "wegsäubern" und ein Stück Freiheit wegnehmen. Er habe den Eindruck gewonnen, dass hier eine gewisse Dummheit eine Rolle spiele. "Diese Gendersprache und politische Korrektheit, das hat eigentlich mit diesem Gedicht, meine ich, gar nichts zu tun." Der Dichter sagte, er habe sehr viele unterschiedliche Briefe bekommen, auch von Frauen, die sich auch positiv über das Gedicht geäußert hätten. Die Auswahl des Textes für die Außenwand der Hochschule habe nicht bei ihm gelegen, sondern bei der damaligen Leiterin. Es handele sich um einen "Schlüsseltext der Konkreten Poesie".

Das Gespräch im Wortlaut:

Lesung: "Avenidas"
"Alleen, Alleen und Blumen. Blumen, Blumen und Frauen. Alleen, Alleen und Frauen. Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer."
Andrea Gerk: "Avenidas", das ist der Titel dieses Gedichts, das Eugen Gomringer, einer der wichtigsten Vertreter der konkreten Poesie Anfang der 50er-Jahre auf Spanisch schrieb. Und wahrscheinlich hätte er sich damals nicht träumen lassen, welche Aufregung seine Verse über 60 Jahre später verursachen würden. Das Gedicht steht seit 2011 an der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule und wird seit diesem Jahr von Studierenden der Hochschule als frauenfeindlich und sexistisch kritisiert. Sie wollen, dass das Gedicht entfernt wird. Das hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, und wir wollen mal wissen, wie der inzwischen 92-jährige Eugen Gomringer selbst darüber denkt. Ich bin jetzt mit ihm verbunden. Guten Tag, Herr Gomringer!
Eugen Gomringer: Ja, schön!
Gerk: Wie erleben Sie denn diesen Streit um Ihr Gedicht auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule? Wie kommt Ihnen das vor, diese Auseinandersetzung?
Gomringer: Es ist für mich natürlich überraschend. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas möglich ist. Dann habe ich aber mehr und mehr erfahren von meinen Freunden und Bekannten und so weiter, und ich habe so viele Zuschriften bekommen. Die letzte Zuschrift, da ist ganz groß, Leserbriefe, dieses Gedicht macht mich stolz. Viele Frauen haben sich sehr positiv zu dem Gedicht geäußert, sie würden es – ja, ich habe gesagt, aber es gab vor mir diese Leserbriefe. Die würden das Gedicht täglich sehen und sich angesprochen fühlen durch den Admirador. Das gab es ja auch, ich möchte sagen, dutzendfach. Ich habe natürlich schon eine Stellungnahme zu dem Gedicht. Es ist für mich ein sehr wichtiges Gedicht. Es ist ja nicht irgendein Gedicht aus einer Anthologie gegriffen, aus einer Anthologie "Meine hundert Gedichte" oder so, sondern es ist das Ursprungsgedicht, es ist ein erstes Gedicht einer ganzen neuen Lyrikkultur, möchte ich fast sagen.
Gerk: In welchem Zusammenhang ist es denn entstanden? Wie ist es – was haben Sie da für Erinnerungen dran?
Gomringer: Es ist natürlich entstanden in der Erfindung, dass man mit wenigen Wörtern eine Stimmung evozieren kann. Das war damals, Ende der 40er-Jahre, Anfang der 50er-Jahre, war das schon eine richtige Erfindung, und ich habe dann ein Manifest geschrieben mit dem Titel "Vom Vers zur Konstellation", also dass die Entwicklung sich nicht nur linear in der Zeilenform sich entwickeln müsse, sondern eben auch in Konstellationen, sich im Raum entwickeln könne. Und dazu ist es das Gedicht, an dem das eigentlich exemplifiziert wurde.

"Genau das richtige Gedicht"

Gerk: Das heißt, es ist auch so ein Schlüsseltext der Konkreten Poesie.
Gomringer: Ja, Sie sagen es richtig, so hätte ich es auch sagen können, ja.
Gerk: Aber kann es denn nicht sein, dass die Probleme, die jetzt damit entstanden sind oder die Interpretation, die da vorgenommen wird, einfach damit zusammenhängt, dass man das gar nicht mehr lesen kann? Müssen die Leute wieder lernen, solche Gedichte überhaupt richtig zu lesen?
Gomringer: Als Erstes bin ich selbst wieder eingeladen zum Lesen. Ich lese viel, und ich lese auch sehr gern. Ich weiß eigentlich nicht, was man zu dem Gedicht so weiter sagen könnte. Natürlich, ich habe jetzt auch die neue Anthologie der Konkreten Poesie für den Reclam-Verlag vollendet, die erscheint im nächsten Frühjahr, und da sind also neue Gedichte drin und Dichter habe ich dazugewonnen für diese Anthologie, die sehr wichtig ist bekanntlich, das ist ja fast ein kleines Schulbuch geworden. In dem Sinne lebt diese Konkrete Poesie natürlich, und man greift auch immer wieder zurück im ganzen Kodex der Konkreten Poesie, wer alles dabei war und was die alles geschrieben haben. Das ist eine ganz stattliche Anzahl von deutschsprachigen Lyrikern. Deshalb, in diesem Rahmen ist eben dieses Gedicht zu sehen, als Schlüsselgedicht, wie Sie richtig sagen.
Gerk: Als diese Fassade an der Alice-Salomon-Hochschule neu gestaltet wurde 2011, da hatten Sie gerade den Alice-Salomon-Poetik-Preis bekommen. Warum haben Sie damals ausgerechnet dieses Gedicht ausgewählt?
Gomringer: Das ist nicht meine Wahl. Das hat die Frau Burde damals, die damalige Leiterin oder Präsidentin der Schule, selbst ausgewählt. Das war gar nicht meine Auswahl. Aber ich habe mich sehr gefreut. Das hat mir gezeigt, dass diese Dame damals, und wahrscheinlich steht sie auch heute noch dazu, ich weiß es nicht, dass sie damals genau das richtige Gedicht gefunden hat. Es ist also etwas Einmaliges, Erstmaliges, das diese Wand und diese Schule auszeichnet, indem sie dazu steht, zu diesem Gedicht, einer Frühzeit, also einer Erfindungszeit dieser Konkreten Poesie. Heute kommt es mir vor wie der Vorgang einer Säuberung, weil die eine ganze Lyrikreihe eigentlich wegsäubern wollen oder ein Stück Kunst und Lyrik wegsäubern wollen – auch ein Stück Freiheit nehmen natürlich.

"Gendersprache hat mit dem Gedicht nichts zu tun"

Gerk: Dieser Streit hat ja ein ziemliches Echo bekommen. Der PEN hat sich eingeschaltet, und auch Schriftsteller, Wissenschaftler und Intellektuelle, die Medien berichten darüber, das geht seit einem halben Jahr so. Gab es denn eigentlich auch mal einen direkten Austausch mit der Hochschule, wo alle gemeinsam mit Ihnen über das Gedicht und seine Intention, seine Idee gesprochen haben?
Gomringer: Wir haben ein paar Mal telefoniert mit der heutigen Leiterin. Dann habe ich einmal gesagt, sie möchte doch zu uns kommen nach Rehau und unser Kunsthaus besuchen. Und im Rahmen dieses Umgangs, den wir haben, Konstruktive Kunst und auch Poesie zur Auswahl natürlich hier, das wurde angenommen. Dann habe ich aber andererseits wieder gedacht, ja nun, ich bin ja Mitglied der Akademie der Künste Berlin, und wir haben eine Herbsttagung. Und da habe ich ihr geschrieben, ich käme dann sowieso nach Berlin, ich könnte den Damen diese Reise ersparen, auch die Kosten ersparen. Ich habe gemerkt, dass sie an den Kosten ein bisschen genagt haben. Nun habe ich also gesagt, ich käme dann nach Berlin, dass wir uns treffen könnten.
Gerk: Und? Da ist nichts drauf passiert?
Gomringer: Seither habe ich nichts mehr gehört. Nein, das ist vielleicht 14 Tage her, aber ich habe weiter nichts gehört.
Gerk: Aber das ist doch seltsam, dass Sie den Studentinnen anbieten, mit ihnen darüber diskutieren zu wollen, und die dann gar nicht darauf reagieren. Ärgert Sie das nicht?
Gomringer: Ich weiß nicht, was da passiert ist. Ich habe reagiert, ich reagiere auch gern, aber ich weiß nicht, mit wem wir uns unterhalten wollen. Ich habe einmal gesagt natürlich, es sei eine große Dummheit. Wahrscheinlich ist da ein bisschen Dummheit dabei in diesen ganzen Entscheidungen, denn diese Gendersprache und politische Korrektheit und so weiter, das hat eigentlich mit diesem Gedicht, meine ich, gar nichts zu tun. Ich habe einen ganz anderen Ansatz, so weit habe ich damals gar nicht gedacht. Sonst hätte ich das gar nicht so geschrieben oder hätte es anders gemacht, ich weiß nicht. Auf alle Fälle war das nie in meinem Denken, wenn ich ein Gedicht schreibe – da müsste man eine ganze Anzahl, ganze Kunstreihe müsste man da wieder mal entfernen wollen, wenn Sie an das denken bei den Versen von meinem Gedicht.

Bei Entfernung Infotafel

Gerk: Das heißt, da geht es vielleicht gar nicht um diesen Sexismus-Vorwurf an Ihr Gedicht, sondern um ganz was anderes?
Gomringer: Mir kommt das vor wie der Vorgang einer Säuberung. Da wird etwas weggesäubert durch eine andere Ideologie, die das verdrängen soll, und ja, darüber muss man reden, ob das gerechtfertigt ist.
Gerk: Wie würden Sie denn reagieren, Herr Gomringer, wenn man das Gedicht tatsächlich entfernen würde?
Gomringer: Mindestens würde ich also fordern, dass man in Deutsch, Spanisch und Englisch eine Tafel dort aufhängt und schreibt, dass dieses Gedicht von Eugen Gomringer, dieses Gedicht, das dann ganz kurz aufgeführt würde, wurde aus diesem und diesem Grund hier entfernt. Ich glaube, das wäre korrekt.
Gerk: Danke schön, Herr Gomringer. Eugen Gomringer, vielen Dank für dieses Gespräch!
Gomringer: Ja, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

"Avenidas" allüberall - wo Gomringers Gedicht bald an Hausfassaden prangt ("Lesart", 24.04.2018, zu hören bis zum 24.10.2018)
Mehr zum Thema