Goethe im dritten Frühling
In "Ein liebender Mann" greift Martin Walser auf eine Episode im Leben des Dichterfürstens Goethe zurück und malt diese plastisch aus: der greise 73-Jährige verliebte sich in die 19-jährige Ulrike von Levetzow und wurde abgewiesen. Dokumentiert ist das in Goethes "Marienbader Elegie". Bei Walser ist Goethe nicht das große Genie, sondern eine typische Walser-Figur - und wird dadurch glaubwürdig.
Als Ulrike von Levetzow im Jahr 1900 hochbetagt starb, bat sie auf dem Totenbett darum, ein Bündel Papiere auf einer silbernen Platte zu verbrennen. Die Asche wurde ihren Anweisungen gemäß in einer Kapsel verschlossen, in ihren Sarg gelegt und mit ihr begraben. Angeblich soll es sich dabei um Briefe Goethes gehandelt haben.
Martin Walser wusste nichts von dieser Geschichte, als er seinen Roman über die Liebe des 73 Jahre alten Dichterfürsten zur neunzehnjährigen Ulrike und die Marienbader Ereignisse des Jahres 1823 schrieb. Dass Goethe, nachdem sein Heiratsantrag zurückgewiesen wurde, seinen Schmerz auch in Briefen an Ulrike formuliert haben musste, stand für Walser jedoch fest. Er war sich darin so sicher, dass er Goethes Briefe gleich selbst schrieb, als Teil des Romans. Erst als er damit fertig war, erfuhr er von den angeblich verbrannten Papieren. Als "Letzte Nachricht" steht dieses Gerücht nun am Ende des Buches - eine Art Beglaubigung dieser großen Goethe-Erfindung, die weitgehend auf historischen Tatsachen beruht.
Der Roman sei ihm so leicht gefallen wie kein Buch seit dem "Fliehenden Pferd", sagt Walser. Das war sein größter Verkaufserfolg. Geschrieben hat er ihn in zwei Monaten. Die Leichtigkeit, mit der er sich nun Goethe anverwandelt, hat damit zu tun, dass er im historischen Kostüm das Thema behandelt, das ihn schon seit Jahren beschäftigt. Schon "Der Lebenslauf der Liebe" (2000) handelte vom Alter und von Alterdifferenz in der Liebe, allerdings aus der Perspektive einer Frau. In "Der Augenblick der Liebe" (2004) war es der altbekannte Walser-Held Gottlieb Zürn, Bodenseebewohner wie er selbst, der sich in eine junge Wissenschaftlerin aus den USA verliebte. In "Angstblüte" (2006) erlebte der Münchner Finanzmakler Karl von Kahn Ähnliches mit einer großbrüstigen Schauspielerin. Die Tragödie war zur Farce geworden.
Im neuen Roman "Ein liebender Mann" rückt Walser das Thema zeitlich und räumlich weiter von sich weg, um es mit Goethe als seinem Stellvertreter zu radikalisieren. Selten ist die Liebe in ihrer ganzen Leidenschaftlichkeit und Lächerlichkeit so zerreißend dargestellt worden wie hier. Für Goethe genügen nur die größten Gefühle. Walser liefert sie ihm.
Die "Marienbader Elegie", die Goethe nach der erzwungenen Entsagung schrieb, ist für Walser das bedeutendste Liebesgedicht in deutscher Sprache. Er hat es in ganzer Länge in den Roman aufgenommen. Neu geschaffen hat er die Figur der Ulrike. Er wollte sie so, dass sie diesem Gedicht entsprechen würde und nicht so, wie sie selbst als alte Jungfer über ihre jugendliche Schwärmerei sprach, als sie von Goethe-Verehrern darüber befragt wurde.
Walsers Ulrike ist die reine Liebenswürdigkeit, Sinnlichkeit und Geistesgegenwart. Sein Goethe aber ist er selbst. Klugerweise verzichtet er darauf, ihn zu imitieren oder die Sprache des 19. Jahrhunderts nachzuahmen. Dieser Goethe spricht, fühlt, denkt wie eine Walser-Figur. Doch eben deshalb, weil er ihm so sehr gleicht, ist er so lebendig und so glaubhaft.
Dieser Goethe ist nicht das große Genie, sondern einer, der leidet wie ein Hund und der sich seiner Gefühle nicht schämt. Goethe rückt in die Nahdistanz - bis hin zu einer Szene, in der er nach in Eifersucht durchwachter Nacht seine morgendliche Erektion im Spiegel betrachtet. Beides - der lange Monolog und die Erektion - sind Referenzen an Thomas Manns Goethe-Roman "Lotte in Weimar". So entsteht im Subtext der Dreischritt von Goethe über Mann zu Walser. Da möchte er sich eingeordnet wissen. Dass der Roman am vergangenen Mittwoch in Weimar in Anwesenheit des Bundespräsidenten seine "Ur-Lesung" erlebte, spricht dafür, dass das auch gelingt.
Wie Thomas Mann hatte auch Martin Walser lange Zeit ein eher zwiespältiges Verhältnis zu Goethe. In seinem Theaterstück "In Goethes Hand" aus dem Jahr 1982 stand noch Eckermann und dessen Abhängigkeit im Vordergrund. Walser waren die Diener stets näher als die Herren. Das ist heute anders, wenn er Goethe zwar als einen Abhängigen zeigt - allerdings nicht in Herrschaftsverhältnissen, sondern in Liebesdingen. Diese Art der Abhängigkeit ist trotz des Leidenspotentials eine Verjüngungskur für den alten Herrn. Man kann dabei zusehen, wie ihn die Begegnung mit Ulrike vitalisiert und schließlich ja auch Kunst hervorbringt: Die "Marienbader Elegie".
Damals, 1982, ließ Walser Eckermann vor einer Versammlung von Künstler noch ausrufen: "Wie stellt man Goethe dar? Schön!" Das war noch mit gehöriger Ironie formuliert. Jetzt hat Walser damit ernst gemacht. Wie stellt man Goethe dar? Schön. Nicht anders hält er es in "Ein liebender Mann".
In einem Vortrag über "Kritik und Zustimmung" sagte er vor kurzem in Berlin:
"Wenn ich Goethe verehre, sagen wir den älteren Goethe, dann stimme ich ihm zu, stimme allem zu, was er dann und dann gesagt oder geschrieben hat. Ich habe Goethe wirklich nicht immer verehrt, also dem Goethe, der Schiller und Kleist und Hölderlin das Leben schwer gemacht hat, habe ich vor 30 und mehr Jahren nicht zustimmen können. Inzwischen ist in mir ein Verständnis für den ganzen Goethe gewachsen, das ich nur noch als Zustimmung erlebe. Als Zustimmung zu allem. Zu jedem Satz, jeder Nuance, zu jeder seiner mir bekannt gewordenen Empfindungen. Und das sind sehr genau überlieferte Empfindungen, sie entstehen aus tausend Situationen, und ich erlebe sie alle mit Zustimmung. Es gibt mich dann fast nur noch als Zustimmenden. Ich bin gewissermaßen selbstlos."
Diese Selbstlosigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Walsers Goetheroman so fulminant gelingen konnte. Vielleicht ist es überhaupt eine Voraussetzung fürs Schreiben, in einer Figur ganz aufzugehen und zugleich ganz bei sich selbst zu bleiben.
Rezensiert von Jörg Magenau
Martin Walser: Ein liebender Mann
Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008
288 Seiten, 19,90 Euro
Martin Walser wusste nichts von dieser Geschichte, als er seinen Roman über die Liebe des 73 Jahre alten Dichterfürsten zur neunzehnjährigen Ulrike und die Marienbader Ereignisse des Jahres 1823 schrieb. Dass Goethe, nachdem sein Heiratsantrag zurückgewiesen wurde, seinen Schmerz auch in Briefen an Ulrike formuliert haben musste, stand für Walser jedoch fest. Er war sich darin so sicher, dass er Goethes Briefe gleich selbst schrieb, als Teil des Romans. Erst als er damit fertig war, erfuhr er von den angeblich verbrannten Papieren. Als "Letzte Nachricht" steht dieses Gerücht nun am Ende des Buches - eine Art Beglaubigung dieser großen Goethe-Erfindung, die weitgehend auf historischen Tatsachen beruht.
Der Roman sei ihm so leicht gefallen wie kein Buch seit dem "Fliehenden Pferd", sagt Walser. Das war sein größter Verkaufserfolg. Geschrieben hat er ihn in zwei Monaten. Die Leichtigkeit, mit der er sich nun Goethe anverwandelt, hat damit zu tun, dass er im historischen Kostüm das Thema behandelt, das ihn schon seit Jahren beschäftigt. Schon "Der Lebenslauf der Liebe" (2000) handelte vom Alter und von Alterdifferenz in der Liebe, allerdings aus der Perspektive einer Frau. In "Der Augenblick der Liebe" (2004) war es der altbekannte Walser-Held Gottlieb Zürn, Bodenseebewohner wie er selbst, der sich in eine junge Wissenschaftlerin aus den USA verliebte. In "Angstblüte" (2006) erlebte der Münchner Finanzmakler Karl von Kahn Ähnliches mit einer großbrüstigen Schauspielerin. Die Tragödie war zur Farce geworden.
Im neuen Roman "Ein liebender Mann" rückt Walser das Thema zeitlich und räumlich weiter von sich weg, um es mit Goethe als seinem Stellvertreter zu radikalisieren. Selten ist die Liebe in ihrer ganzen Leidenschaftlichkeit und Lächerlichkeit so zerreißend dargestellt worden wie hier. Für Goethe genügen nur die größten Gefühle. Walser liefert sie ihm.
Die "Marienbader Elegie", die Goethe nach der erzwungenen Entsagung schrieb, ist für Walser das bedeutendste Liebesgedicht in deutscher Sprache. Er hat es in ganzer Länge in den Roman aufgenommen. Neu geschaffen hat er die Figur der Ulrike. Er wollte sie so, dass sie diesem Gedicht entsprechen würde und nicht so, wie sie selbst als alte Jungfer über ihre jugendliche Schwärmerei sprach, als sie von Goethe-Verehrern darüber befragt wurde.
Walsers Ulrike ist die reine Liebenswürdigkeit, Sinnlichkeit und Geistesgegenwart. Sein Goethe aber ist er selbst. Klugerweise verzichtet er darauf, ihn zu imitieren oder die Sprache des 19. Jahrhunderts nachzuahmen. Dieser Goethe spricht, fühlt, denkt wie eine Walser-Figur. Doch eben deshalb, weil er ihm so sehr gleicht, ist er so lebendig und so glaubhaft.
Dieser Goethe ist nicht das große Genie, sondern einer, der leidet wie ein Hund und der sich seiner Gefühle nicht schämt. Goethe rückt in die Nahdistanz - bis hin zu einer Szene, in der er nach in Eifersucht durchwachter Nacht seine morgendliche Erektion im Spiegel betrachtet. Beides - der lange Monolog und die Erektion - sind Referenzen an Thomas Manns Goethe-Roman "Lotte in Weimar". So entsteht im Subtext der Dreischritt von Goethe über Mann zu Walser. Da möchte er sich eingeordnet wissen. Dass der Roman am vergangenen Mittwoch in Weimar in Anwesenheit des Bundespräsidenten seine "Ur-Lesung" erlebte, spricht dafür, dass das auch gelingt.
Wie Thomas Mann hatte auch Martin Walser lange Zeit ein eher zwiespältiges Verhältnis zu Goethe. In seinem Theaterstück "In Goethes Hand" aus dem Jahr 1982 stand noch Eckermann und dessen Abhängigkeit im Vordergrund. Walser waren die Diener stets näher als die Herren. Das ist heute anders, wenn er Goethe zwar als einen Abhängigen zeigt - allerdings nicht in Herrschaftsverhältnissen, sondern in Liebesdingen. Diese Art der Abhängigkeit ist trotz des Leidenspotentials eine Verjüngungskur für den alten Herrn. Man kann dabei zusehen, wie ihn die Begegnung mit Ulrike vitalisiert und schließlich ja auch Kunst hervorbringt: Die "Marienbader Elegie".
Damals, 1982, ließ Walser Eckermann vor einer Versammlung von Künstler noch ausrufen: "Wie stellt man Goethe dar? Schön!" Das war noch mit gehöriger Ironie formuliert. Jetzt hat Walser damit ernst gemacht. Wie stellt man Goethe dar? Schön. Nicht anders hält er es in "Ein liebender Mann".
In einem Vortrag über "Kritik und Zustimmung" sagte er vor kurzem in Berlin:
"Wenn ich Goethe verehre, sagen wir den älteren Goethe, dann stimme ich ihm zu, stimme allem zu, was er dann und dann gesagt oder geschrieben hat. Ich habe Goethe wirklich nicht immer verehrt, also dem Goethe, der Schiller und Kleist und Hölderlin das Leben schwer gemacht hat, habe ich vor 30 und mehr Jahren nicht zustimmen können. Inzwischen ist in mir ein Verständnis für den ganzen Goethe gewachsen, das ich nur noch als Zustimmung erlebe. Als Zustimmung zu allem. Zu jedem Satz, jeder Nuance, zu jeder seiner mir bekannt gewordenen Empfindungen. Und das sind sehr genau überlieferte Empfindungen, sie entstehen aus tausend Situationen, und ich erlebe sie alle mit Zustimmung. Es gibt mich dann fast nur noch als Zustimmenden. Ich bin gewissermaßen selbstlos."
Diese Selbstlosigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Walsers Goetheroman so fulminant gelingen konnte. Vielleicht ist es überhaupt eine Voraussetzung fürs Schreiben, in einer Figur ganz aufzugehen und zugleich ganz bei sich selbst zu bleiben.
Rezensiert von Jörg Magenau
Martin Walser: Ein liebender Mann
Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008
288 Seiten, 19,90 Euro