Goethe als Musikfreund

20.12.2009
Verschiedene Kritiker warfen Johann Wolfgang von Goethe immer wieder vor, mit Musik nicht allzu viel anfangen zu können. Doch dass der Dichterfürst durchaus ein großes Interesse an Musik und Komponisten hatte, darum geht es in Norbert Millers Buch "Die ungeheure Gewalt der Musik".
Marcel Reich-Ranicki hat einmal anlässlich eines Heine-Gedichts die Ansicht geäußert, es vertrage keine Lied-Vertonung, es sei in sich selbst bereits musikalisch genug. Damit befindet sich der große Literaturkritiker gewissermaßen auf Goethes Spuren.

Der glaubte mit Rousseau, dass Poesie und Musik auf eine ursprüngliche Tonsprache zurückgingen. Entsprechend würde ein Lied den inneren Lyrismus des poetischen Textes nur überhöhen. In beiden käme die gleiche Melodie zum Ausdruck Als würden sie von einer in ihnen gemeinsam angelegten Cantilene getragen.

So idyllisch die Vorstellung ist, so wenig wird sie der musikalischen Produktion gerecht. Norbert Miller dokumentiert in bewundernswert akribischer Weise, wie wenig Goethe mit Komponisten anfangen konnte, die dieser Idylle nicht entsprachen. Das zeigte sich zuerst in seinen Bemühungen, ein deutsches Singspiel zu kreieren.

Es fehlte zwar nicht an den verschiedensten Versuchen, aber sie wurden jäh durch Mozarts "Entführung aus dem Serail" beendet. Die "Entführung" war nicht lediglich die lyrische Fortsetzung eines vorliegenden Librettos, sondern eine musikalische Gestalt mit eigenem ästhetischen Anspruch. Das passte nicht ins Konzept des Weimarers:

"Goethes Vorstellung vom Lied, von der Rolle des Liedsängers, vom Zusammenwirken des Gesangs mit der Handlung in einer szenischen Situation, von Wort und Musik in Singspiel und Oper hatte immer die Ausweitung des Dichterischen in das himmlische Reich der Musik im Sinn. Nicht die Ersetzung der Poesie durch die Tonpoesie!"

Mit den Liedkompositionen im engeren Sinn erging es Goethe nicht besser. Alle Komponisten, mit denen er zusammenarbeitete, hielten sich weitgehend an sein Credo und büßten das damit, dass sie in Vergessenheit gerieten. Vielleicht bildet nur Carl Friedrich Zelter, mit dem Goethe die letzten Jahrzehnte zusammenarbeitete, eine Ausnahme.

Aber das wahrscheinlich nicht, weil seine Lieder kunstreicher gewesen wären. Wohl eher, weil er der Nachwelt als Gründer der Berliner Singakademie und Lehrer Mendelssohns in Erinnerung blieb. Miller stellt ihn und Goethe als ästhetisches Geschwisterpaar dar, in dem der Musiker den Dichter reproduzierte.

"Er (sc. Goethe) spürt (…) in den Liedvertonungen Zelters die keiner Frage und keines Staunens bedürfende Wahlverwandtschaft. Nicht dass Zelter seine Gedichte so sorgsam in sich aufnahm, nicht dass er seine Melodie so behutsam formte, dass sie jeder Nuance des Gedichts zu folgen imstande war , (…) machte die 'radikale Reproduktion' aus, sondern ein viel schlichteres Kriterium: der zu Herzen gehende Eindruck des Richtigen, Angemessenen, Wahrhaftigen."

Für das, was daran richtig, angemessen und wahrhaftig war, fand der Dichter aus Weimar ein treffendes Bild:

"’Deine Kompositionen’, sollte Goethe später dem vertrauten Freund gestehen, ‚fühle ich sogleich mit meinen Liedern identisch, die Musik nimmt nur, wie ein einströmendes Gas, den Luftballon mit in die Höhe. Bei anderen Komponisten muss ich erst aufmerken, wie sie das Lied genommen, was sie daraus gemacht haben.’"

Zu diesen anderen Komponisten gehörte zuallererst Schubert, mit dessen Vertonungen, zum Beispiel des "Erlkönigs", er nichts anfangen konnte. Schuberts Lied gab Goethes Verse nicht identisch wieder. Er hatte sich musikalisch – in einer Parallele zu Mozart - seinen eigenen Vers auf die Strophen gemacht.

Das Bild vom Gas und dem Luftballon spricht Bände. Prosaisch, wie es ist, degradiert es den Komponisten zu einem Gaslieferanten des dichtenden Ballonherstellers. Zelter wird es zufrieden gewesen sein, sich von seinem hochverehrten Freund solcherart bezeichnet zu sehen. Zu sklavisch hing er an Goethes Texten, als dass eine Schubertiade daraus hätte werden können. Autor Miller ist freilich nicht so ungnädig wie hier sein Rezensent und wird Zelter dadurch sicherlich gerechter.

Schade nur, dass in dem Buch kein einziges Lied des großen Berliner Konzertorganisators abgedruckt ist. Der Leser, der die Noten nicht zur Hand hat, könnte sonst ein differenzierteres Urteil fällen. Das einzige Lied, das man zu sehen bekommt, befindet sich vorn auf dem Schutzumschlag. Es geht so:

"Munter und leicht zu singen: ‚Ich hab mein Sach a-auf nichts gestellt Juche! juche, juche! Drum ists so wohl mi-ir in der Welt Juche! juche, juche!’"

Eine denkbar einfache Weise, mit nichts als ein paar Terzen unterlegt. Nicht, dass Einfachheit einfach zu fabrizieren wäre, aber ob es für die komplexe Poesie des dichtenden Magiers in Weimar gereicht hätte, ist doch zu bezweifeln. Der musikalische Ausschnitt demonstriert Zelters Fähigkeit, sich der Textstrophe so anzuschmiegen, dass außer einer identischen Wiedergabe in Liedform wenig herauskommt.

Es geht ja Goethe eigentlich gar nicht um Musik. Vordergründig gewiss. Doch nicht einmal Mendelssohns Kompositionen interessierten ihn wirklich, obwohl oder weil er in ihm den neuen Mozart sah. Was Goethe mehr bewegte, war der Brieffreund Zelter, dessen jahrzehntelange Korrespondenz jene schmerzliche Leere ausfüllte, die der frühe Tod Schillers hinterlassen hatte.

Das ist denn auch das Aufregende des Buchs im Schillerjahr: Zelter als der andere große Wahlverwandte Goethes. Miller huldigt am Ende seiner Untersuchung dem Nestor der deutschen Goetheforschung, Albrecht Schöne. Der arbeitet an einem noch nicht beendeten Projekt über Goethes Briefe.

"Erst wenn die Folge von Albrecht Schönes Interpretationen einmal abgeschlossen vorliegt, wird Goethe in seiner einzigartigen Sonderstellung im briefschreibenden Saeculum für uns ganz erschlossen sein."

Wozu brauchte Goethe denn auch die Musik, würde man mit Reich-Ranicki fragen können. Auch Miller scheint ihm darin zuzustimmen, wenn er zu den Gedichten aus den letzten Jahren schreibt:

"(Sie) mussten, das war Goethe klar bewusst, jeder Vertonung widerstreben. (…) auch in diesen Versen (ist) die Dichtung ihre eigene Musik. Das mehrstimmig angelegte, auf immer andere Gegenstände ausgreifende Briefgespräch mit Zelter und die täglichen Unterhaltungen mit dem getreuen Eckermann nehmen kaum Bezug auf diese innere Abkehr von der Musik, auf diese Ersetzung des Brudersphären-Wettgesangs durch eine ganz aus der Poesie geschöpfte Sphärenmusik."

Schön gesagt, kein Zweifel. Doch die Musik hat ihre eigene Sphäre. Das erkannte Goethe nicht. Es war wohl seine Blindheit gegenüber der Romantik. Nur in Marienbad ging ihm, als alterndem Liebhaber Ulrike von Levetzows, das Ungeheure dieser Kunstgattung auf. Der Luftballon zerplatzte wenig später. Was übrig blieb, war eine – allerdings wunderbar lyrische – Elegie.


Norbert Miller: Die ungeheure Gewalt der Musik. Goethe und seine Komponisten
Carl Hanser Verlag, München 2009
Cover: "Norbert Miller: Die ungeheure Gewalt der Musik"
Cover: "Norbert Miller: Die ungeheure Gewalt der Musik"© Carl Hanser Verlag