Globalisierung im Privaten

Der Soziologe Ulrich Beck lehrt an der London School of Economics and Political Science. Seine Frau Elisabeth Beck-Gernsheim ist Professorin für Soziologie an der Uni Nürnberg. Gemeinsam haben sie jetzt ein Buch über das Phänomen Fernbeziehungen von Liebenden geschrieben.
Was ist eine Familie? Obwohl man mittlerweile auch Patchworklösungen, Alleinerziehende und gleichgeschlechtliche Partnerschaften einzubeziehen gewohnt ist, schwingt bei dem Wort "Familie" dennoch eine Idee von räumlicher Nähe, gemeinsamer Sprache und Staatsangehörigkeit mit. Diesem Modell stellt die Soziologen Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrem neuen Buch "Fernliebe" den Begriff der "Weltfamilie" entgegen als den Ort, an dem sich Globalisierung im Privaten verkörpert.

Darunter fallen nicht nur Fernbeziehungen westlicher Arbeitsnomaden und Nahbeziehungen von Liebenden aus unterschiedlichen Kulturen, sondern auch die Schicksale von Leihmüttern, Kindermädchen oder Heiratsmigrantinnen aus den Ländern der Zweiten und Dritten Welt. Der Überfülle des Materials nähern sich die Autoren mit methodischer Strenge, wobei ihr Ansatz der diagnostischen Theorie nicht nur neue Begriffe für neue Lebensumstände zu prägen sucht (zum Beispiel multinationale oder multilokale Weltfamilien), sondern auch soziale Ungleichheiten und die Folgen des globalisierten Marktes zielgenau in den Blick nimmt.

Durchmischt mit Fallbeispielen, Studien und Zitaten entspannt sich ein faszinierendes Panorama globaler Interdependenz, das - wie die Autoren betonen - alle Verallgemeinerungen der westlichen Liebeserfahrung als Spannung zwischen Autonomie und Bindungswunsch viel zu kurz greifen lässt. Die neuen Formen der Fernliebe sind getragen von technischen Entwicklungen wie Skype oder Mobiltelefon, befördert vom Einkommensgefälle zwischen erster und Dritter Welt und geprägt von der Anwesenheit des "globalen Anderen" im eigenen Leben. So wird jede Weltfamilie im Idealfall zum "Miniaturmodell kosmopolitischer Aufklärung".

Andererseits beschreiben die Autoren, wie einst typisch innerfamiliäre Güter wie Mutterliebe, Hausarbeit und Altenpflege im Westen zunehmend "outsourced" werden. Denn die Emanzipation hat nicht etwa zu gerechterer Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau geführt, sondern in den meisten Fällen dazu, mögliche "Versorgungslücken" von Hausarbeitsmigrantinnen schließen zu lassen. Dass auch in einer globalisierten Welt die Dreckswäsche bei den Frauen liegen bleibt, gehört zu den entmutigenden Befunden dieses Buches, die Schicksale der im Zuge dieses "care drain" in den armen Ursprungsländern zurückgelassenen Kinder desgleichen.

Auch Organhandel und Kinderwunschtourismus ziehen eine deutliche Grenze zwischen Gewinnern und Verlierern der vernetzten Welt; während die Reichen ihr Wunschorgan oder Wunschkind auf dem globalen Markt bestellen, haben die Armen oft nichts anderes anzubieten als ihren Körper als Brutkasten oder Organlager.

Der Blick in beide Richtungen ist so aktuell wie notwendig. Doch der größte Verdienst dieser Tour de Force globalisierter Bezugnahme liegt in der realitätssatten Ausweitung und Fortschreibung klassischer Liebes- und Familienbegriffe und der damit verbundenen Aufforderung, die Frage nach dem "unverzichtbaren Kern der Humanität" immer wieder neu zu stellen.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim: Fernliebe. Das globale Beziehungschaos
Suhrkamp, Berlin 2011
280 Seiten, 19,90 Euro
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