Glauben weltweit

Rezensiert von Kersten Knipp |
Olivier Roy liefert in "Heilige Einfalt" die gründliche Analyse einer komplexen Entwicklung und Praxis. Er beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Religion und Kultur und nimmt dabei nahezu die ganze Welt in den Blick.
Der Befund zeigt sich in Kleinigkeiten: Man ist in Gebeten nicht mehr so textsicher, kennt die Geschichten der Bibel nicht mehr so genau, weiß nicht, was die christlichen Feiertage bedeuten. All das sagt einem nichts mehr. Man versteht die Religionen nicht mehr, weiß nicht, was sie wollen und sollen. Seit über 200 Jahren attackiert die europäische Aufklärung das Christentum, und das weicht immer mehr zurück.

Ein neuer Papst mag die Jugend begeistern, aber die Euphorie hält nicht länger als ein paar Monate. Danach schauen die meisten Menschen wieder auf den Katholizismus wie auf ein unbekanntes, etwas befremdliches Phänomen. Eine Leitkultur, so der französische Islam- und Religionswissenschaftler Olivier Roy ist das Christentum nicht mehr. Aber auch die Bedeutung der anderen Religionen schwindet.

"Das Religiöse zieht sich auf das Identitäre zurück oder rekonstruiert sich als eine Glaubensgemeinschaft. Heute spricht man von katholischer Identität oder muslimischer Identität, was im Mittelalter keinen Sinn ergeben hätte. Das Paradox ist: Um eine ‚Glaubensgemeinschaft’ aufzubauen, verwendet man die religiösen Marker; man folgt dem multikuluralistischen Modell.

Anstatt die Kultur zu überwölben, wird die Religion zu einer Subkultur genau wie die Arbeiterkultur, die Kultur der Schwulen, Frauen, Schwarzen und so weiter. Das geht so weit, dass man bei Kundgebungen von ‚Minderheiten’ von San Francisco bis London den Stand der Muslime nicht weit vom Stand der Schwulen entfernt findet."

Olivier Roy hat einen feinen Sinn für die semantischen Verschiebungen, die dann entstehen, wenn Religionen sich aus ihrem Umfeld lösen und selbst in ihren ehemaligen Zentren nicht mehr wie selbstverständlich zu Hause sind. In seinem vorhergehenden Buch, "Der islamische Weg nach Westen", hatte Roy gezeigt, wie islamische Fundamentalisten auf diese Loslösung reagieren, indem sie alles rein Kulturelle, die regionalen Färbungen des Islams aus ihrer Interpretation entfernen - und so einen Islam entwickeln, der abstrakt genug ist, um in allen Weltgesellschaften andocken und so potenzielle Anhänger gleich welcher Herkunft werben zu können. In seinem neuen Buch "Heilige Einfalt" zeigt Roy nun, wie sich Mitglieder einer aus dem Kontext gerissen Religionen die neue Unverbindlichkeit zunutze machen, um ihre ganz speziellen Anliegen oder Vorstellungen auszudrücken. So hörte Roy in den USA von ...

"... einer Melodie ohne Liedtext, die sich 2003 als ‚emblematischer’ Song mit dem Titel "e-o nigun" bei jüdischen amerikanischen Studenten der reformierten Richtung bei der Einkehr zum shabat verbreitete. Die Melodie stammt allerdings aus Südafrika und hat mit dem Judentum nichts zu tun, doch meines Erachtens wurde sie genau aus diesem Grund übernommen: Sie erlaubt es, eine universelle jüdische Identität zu bekunden, die nicht mit traditionellen Markern wie jiddischen Gesängen, religiösen Gesängen oder israelischen Gesängen verbunden ist."

Es ist das gleiche Prinzip wie beim "Tora-Yoga" in den 1870er-Jahren, bei dem man Verse und Gebete rezitierte und dabei, wie traditionell üblich, Bewegungen ausführte, nur dass in dem Fall die Bewegungen aus dem Yoga stammten.

Die "politischen Gefahren", die das Buch im Untertitel anspricht, ergeben sich aus dem Verfall der Hierarchien: Ein forscher Liberalismus mag die Auflösung der Religionen begrüßen. Zu bedenken ist aber, dass Religion als Subkultur, also ohne Rückbindung an etablierte Hierarchien, auf keine festen theologischen Leitsätze mehr zurückgreifen kann.

Für ihre Glaubenssätze stehen ihr nicht mehr Traditionen, sondern allenfalls noch Pseudo-Traditionen zur Verfügung. Nun gibt es gute Gründe, die Glaubensgrundsätze der etablierten Religionsgemeinschaften in Frage zu stellen.

Aber die Irrungen und Wirrungen, die sich in vornehmlich subjektiven Deutungen ergeben, mögen, Stichwort religiöser Extremismus und Fundamentalismus, ganz eigene Gefahren bergen. Genau darauf, warnt Roy, wird es aber hinauslaufen.

"Subkulturen hat es immer gegeben, doch heute florieren sie, weil sie sich in einem virtuellen Raum einrichten, und die Kultur der umgebenden Gesellschaft ignorieren können: Es gibt spezielle Websites, Bücher werden durch Mundpropaganda empfohlen, man kommuniziert via Chats.

Die Überzeugungswirkung wird dadurch noch gestärkt, dass die Gruppe sich selbst bestätigt und nicht durch eine andersartige äußere Praxis widerlegt wird. Heute ist jede Gesellschaft ein Archipel. Wir bewegen uns in Subkulturen, die im Grunde leugnen, dass sie zu einer größeren dauerhaften Kultur gehören. Allerdings ist das auch die Grenze des ‚rein Religiösen’."

Olivier Roy ist alles andere als ein konservativer Denker. Trotzdem warnt er vor den Gefahren, die sich aus frei flottierenden Religionen, oder besser: Schrumpfformen der großen Religionen ergeben. Noch ist die Formel nicht gefunden, über die die Menschen im Zeitalter der Globalisierung ihre transzendenten Veranlagungen neu definieren könnten.

So lange werden sie auf die etablierten Religionen zurückgreifen. Was man an denen hatte, mag man erst dann erkennen, wenn sie sich auflösen bis zur Unverbindlichkeit, zurücksinken auf den Stand einer Subkultur.


Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer.
Siedler Verlag, geboren, 335 Seiten, 22,95 Euro
Cover: "Olivier Roy: Heilige Einfalt"
Cover: "Olivier Roy: Heilige Einfalt"© Siedler Verlag