Gideon Defoe: "Atlas der ausgestorbenen Länder"

Vom Freistaat Flaschenhals und anderen skurrilen Staaten

05:48 Minuten
Das Cover zeigt die schematische Darstellung einer Insel, auf der unter anderem zwei Statuen der Osterinseln stehen sowie eine Kanone und zwei verschlossene Glasflaschen, die wahrscheinlich Gift oder Alkohol enthalten.
© Knesebeck

Gideon Defoe

Aus dem Englischen von Ralf Pannowitsch

Atlas der ausgestorbenen LänderKnesebeck, München 2022

240 Seiten

22,00 Euro

Von Günther Wessel · 02.03.2022
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Es gab sie wirklich: die Erfrischungsinseln und den Freistaat Flaschenhals. Der „Atlas der ausgestorbenen Länder“ gibt Einblick in die mitunter skurrile Welt der Nationenbildung - witzig, voller Absurditäten und faktentreu.
Gideon Defoe gibt keine klare Definition dessen, was er als untergegangenen Staat ansieht. Er lässt antike Reiche weg, Kolonien ebenso und auch die meisten Länder, die zwar ihren Namen änderten, nicht aber ihre Grenzen. Die 48 vorgestellten Ex-Staaten subsumiert er in vier Gruppen, sortiert nach ihrer jeweiligen Entstehung: Gründungen durch Glücksritter, zufällig entstandene Mikronationen, erfundene Staaten und Staaten als politische Spielbälle. Wobei er nicht immer trennscharf unterscheidet.

Absolutistisch denkende Glücksritter

Das ist auch nicht möglich, denn viele der von Glücksrittern gegründeten Nationen waren Königs- oder Fürstentümer. Die oft sehr rassistischen europäischen Staatengründer konnten sich nur absolutistische Herrschaftsformen vorstellen.
So schwang sich der französische Anwalt Orélie-Antoine de Tounens 1860 zum König von Araukarien in Südchile auf. Chilenische Truppen setzen ihn fest und steckten ihn in ein Irrenhaus. Oder Jonathan Lambert, der 1811 auf der Insel Tristan de Cunha im Südatlantik landete. Er taufte den Archipel in „Erfrischungsinsel“ um, und sein Königreich sollte dazu dienen, vorbeikommende Schiffe zu versorgen – es kamen bloß keine. 

Eine vergessene autonome Zone

Andere Staaten entstanden, weil sich Großmächte nach Kriegen nicht über Gebietsaufteilungen einigen konnten. Neu-Moresnet existierte von 1816 bis 1920 und war ein Wildwestdorf im heutigen Belgien, umstritten zwischen Belgien und Deutschland wegen der dortigen Zinkgrube – ein polizeilich nicht kontrolliertes Gebiet und damit Anziehungspunkt für alle nicht ganz so gesetzestreuen Bürger aus dem nahen Aachener und Kölner Raum. Der Freistaat Flaschenhals (1919-1923) war eine vergessene und deshalb autonome Zone nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, da sich die von Frankreich, England und den USA kontrollierten Gebiete zwar annäherten, aber in der Gegend um Lorch am Rhein nicht direkt trafen.

Schwierige Zusammenhänge gut erklärt

Gideon Defoe gelingt es wunderbar, in kurzen Kapiteln die Eigenarten und das Besondere der jeweiligen untergegangenen Staaten herauszuarbeiten. Er kann mit leichter Hand und Lakonie auch schwierige Zusammenhänge knapp darstellen. So entsteht ein lässig-unterhaltsames Werk, gut für den Partytalk – witzig, voller Absurditäten, zudem faktentreu. Nur "Atlas" ist eine kleine Mogelpackung, denn der Band ist zwar schön illustriert, die Karten sind aber nicht seine Stärke.
Zuletzt noch ein Wort zu Libertalia – einem Staatsgebiet, von dem niemand weiß, ob es je existierte. Es soll um 1707 an der Nordspitze Madagaskars von einem Piraten als sozialistische Utopie gegründet worden sein – Quelle dafür ist ein Buch von 1724. Dessen Verfasser war angeblich ein Kapitän namens Charles Johnson, die heutige Literaturwissenschaft vermutet aber, dass sich dahinter Daniel Defoe verbarg. Und, nein, Gideon Defoe ist nicht ihm verwandt.
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