Gewalt in der Geburtshilfe

"Wenn Sie jetzt schon so schreien, wird das hier nichts"

28:32 Minuten
Eine junge Frau mit verzweifelt-traurigem Blick
Wer Gewalterfahrungen während der Geburt gemacht hat, mag sie gern vergessen. Darüber reden? Eher nicht. © Eyeem/ Sharon McCutcheon
Von Ulrike Jährling · 23.11.2020
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Die personelle Ausstattung in der Geburtshilfe ist schlecht, die Rate der medizinischen Interventionen hoch. Jede dritte Frau berichtet von Momenten, die sie während der Geburt als übergriffig, respektlos oder gar gewalttägig erlebt hat. Ein neues #MeToo?
"Das hat mich noch ewig beschäftigt. Also erst mal für den Moment … als das Kind im Arm war, war es natürlich erst mal total schön, und ich war total erleichtert. Und ich konnte aber dieser Hebamme nicht mehr in die Augen gucken. Sie mir auch nicht. Also wir konnten uns nicht angucken, weil für beide klar war: Irgendwie war hier was komisch."
Viele Jahre dachte Katja, dass sie damals einfach ein bisschen Pech hatte. Mit der Hebamme, mit dem Krankenhaus. Dazu kam ihre Scham. Ich, die Freundin, berichtete ja immer beseelt von meinen beiden Geburten. Nach den Recherchen zu dieser Sendung bin ich umso dankbarer für meine Erfahrungen, denn: Katja ist nicht allein.
Jede dritte Frau weiß von Momenten zu berichten, die sie während der Geburt als übergriffig, wenn nicht gar als gewalttätig erlebt hat. Die Soziologin Christina Mundlos spricht in ihrem Buch "Gewalt unter der Geburt" sogar von fast jeder zweiten Frau. Eine handfeste Studienlage gibt es nicht. Aber ein sich wandelndes Bewusstsein. Davon kündet unter anderem der Roses Revolution Day am 25. November. Betroffene Frauen legen Rosen nieder vor Geburtshäusern und Klinik-Kreißsälen. Auch die Gynäkologin und Chefärztin Dr. Jana Barinoff hat schon Rosen bekommen.
"Wir haben’s schon verstanden. Irgendeiner ist unglücklich. Durch unsere Arbeit. Aber können wir bitte darüber reden?"

Tabu wird langsam ausgesprochen

Viele Frauen legen einen Brief neben ihre Rose und berichten so, was ihnen widerfahren ist. Franziska Kliemt von der Elterninitiative "Mother Hood" spricht von einer "leisen Revolution".
"Dass man angefangen hat, ein Tabu langsam auszusprechen. Es erst mal niederzuschreiben. Das für sich anzunehmen! Und nicht sagen 'Ich bin ein Einzelfall, ich war ja vielleicht zu wehleidig' oder 'Das passiert nicht so häufig'. Aber auch zu sehen: 'Das, was mir widerfahren ist, ist nicht normal.'"
Natürlich: Geburt ist oft eine Grenzerfahrung. Momente von Verzweiflung und Angst können dazugehören, Gedanken wie "Ich kann nicht mehr" oder "Wohin bloß mit diesem Schmerz". In diesem Zusammenhang eine kleine Auswahl von Original-Zitaten durch geburtshilfliches Personal:
"Da, wo es reinkommt, muss es nun mal auch raus."
Während der Kaiserschnitt-OP: "Scheiße, Mann. Das ist aber auch ‘ne komische Gebärmutter."
Zu einer 40-Jährigen: "Wenn Du jetzt schon Schmerzen hast, MÄDCHEN, wie willst du dann die Geburt schaffen?"
"Erzieherinnen sind die Schlimmsten, die diskutieren immer."
"Früher waren die Frauen wenigstens rasiert."
"Wenn Sie jetzt schon so schreien, wird das hier nichts."

Kaiserschnitt-Rate seit 30 Jahren verdoppelt

Ich erinnere mich genau an ein Gespräch mit meiner Mutter. "Die Geburt, ach, weißt Du - die vergisst Du ganz schnell wieder". Die Mutter meiner Mutter gehörte der Kriegsgeneration an. Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung - Frauen haben Aushalten, Verdrängen, Härte gelernt. Meine Mutter als Frau im Osten dann das systematische Mitmachen. Es war halt so. Und welche Alternativmöglichkeiten hatte man denn? Heute gibt es viele dieser Möglichkeiten! Doch vieles hat sich gesellschaftlich tradiert. Von "natürlicher Geburt" sind wir oft weit entfernt. Das sagt auch Franziska Kliemt.
"Programmierte Geburt war modern, dann kam der Dammschnitt, und jetzt haben wir die Kaiserschnitt-Rate seit 30 Jahren verdoppelt. Es kann doch nicht von einer Mode abhängig sein, wie wir gebären? Sonst wären wir ja nach der Evolution heutzutage nicht hier?"
Mother Hood setzt sich für eine bessere Geburtshilfe in Deutschland ein und gibt Eltern eine Stimme. Auch Prävention von Gewalt ist ein Thema. Sie überhaupt zu sehen!
"Das find ich das größte Thema eigentlich an 'Gewalt unter der Geburt', dass wir das als Gesellschaft für normal halten!"
In einem Wikipedia-Artikel definiert die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, wann geburtshilfliche Praktiken als gewaltsam anzusehen sind.
"Und eine Ebene hat mich wirklich stark getroffen, und das ist diese Ebene: Wenn es Gewalt gibt, aber sie sozial und gesellschaftlich anerkannt ist, dass es nicht als Gewalt gilt! Und genau das nehme ich wahr. Weil viele Frauen dann angekreidet werden, weil sie gesagt haben 'Ich habe Gewalt erfahren' und dann andere von außen 'Das ist doch so' und 'Jetzt hab dich doch nicht so.' Das heißt, es ist zu tief in uns verankert", sagt Franziska Kliemt.
"Und die Medien, wenn man sich Filme anschaut, befeuern dieses Bild. Dieses eigentlich traumatische Bild, wie Geburt vonstatten geht. Das ist hektisch, die Frau geht in die Wehen. Dann kommt jemand, der Frau muss geholfen werden. Was wird die Frau erst mal in den Filmen? Sie wird auf den Rücken gelegt. Und so ist Geburt dargestellt. Und ich war nie Feministin. Aber seit ich mich mit diesem Thema beschäftige, kommt man automatisch zu diesen Geschichten. Wie hat sich unsere Kultur entwickelt, ja?"

"husband stitch" - relativ unbekannt

Wir diskutieren über gendergerechte Sprache, über Quotenregelungen im Job. Mit dem Feminismus kommen wir langsam voran. Aber haben wir als Gesellschaft auch auf dem Schirm, dass Frauen, die Kinder gebären, unter Umständen Gefahr laufen, Gewalterfahrungen machen zu müssen?
"Wenn man bei den älteren Frauen von psychischer Gewalt spricht, dann können sie weniger damit was anfangen. Aber wenn man mit diesen körperlichen Sachen ankommt, also mit diesen körperlichen Interventionen, ob es jetzt nun die vaginale Begrüßung ist, das heißt, man liegt da, und es sagt einem keiner guten Tag, aber es wird schon mal unten rein gefummelt. Oder ob es der 'husband stitch' ist, der relativ unbekannt ist. Aber sofern man sagt, was es ist, dass ältere Frauen dann anfangen 'Ja, das habe ich auch gehabt.', so Franziska Kliemt weiter.
"Und was ist ein husband stitch? Ein husband stitch, das heißt, dass nach einem Dammriss oder nach einem Dammschnitt die Vagina zu eng zusammengenäht wurde. Ich weiß, wie das ist, ich hatte das auch vier Jahre lang. Und ich kann mir nicht vorstellen, warum ein Arzt das macht und dabei sagt 'Ja, ich mache das jetzt mal für ihren Mann ein bisschen schön.' Das ist schon eine Art von Genitalverstümmelung des Westens, über die keiner spricht, weil wir das für normal halten."
"Gewalt in der Geburtshilfe". Der Artikel auf Wikipedia listet den "husband stitch" genauso auf wie den "Zwang, unter Wehen auf dem Rücken zu liegen". Zu lesen ist vom falsch ausgeführten Kristeller-Handgriff, bei dem sich Ärzte mit ihrem gesamten Körpergewicht auf den Bauch der Schwangeren legen und "mitschieben". Genannt werden unter anderem auch der respektlose Umgang mit der Intimsphäre der Frau und sexualisierte Gewalt in Form von Sprache und Witzen. Und und und. Wer Gewalterfahrungen gemacht hat, mag sie gern vergessen. Darüber reden? Eher nicht. Trauma hat oft keine Sprache.
"Also gerade Mütter mit ‘ner im engeren Sinne posttraumatischen Belastungsstörung, die dann eben am Geburtstag des Kindes ausfallen, die einfach Symptome kriegen, die sich ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen. Oder neulich schrieb ‘ne Mutter: ‚… und ich konnte erst am sechsten Geburtstag von meinem Kind ‘ne Torte backen.‘"

Das sind keine Einzelfälle

"Mein Name ist Claudia Watzel, ich bin Diplompsychologin und Aktivistin für Frauenrechte, würd ich das, glaub ich, am liebsten nennen."
Claudia Watzel hat den Verein "Schwere Geburt" gegründet und betreut Mütter, denen es nach der Geburt ihres Kindes nicht gut geht. Am Roses Revolution Day eine Rose vor den Kreissaal zu legen - manche planen das und schaffen es nicht.
"Sie schreiben dann Nachrichten und sagen: ‚Ich bin jetzt irgendwie zum zweiten Mal hier, ich sitze zitternd im Auto auf dem Parkplatz, und ich kann keine Rose niederlegen.' Panik, Herzrasen, schweißige Hände. Und sie sind nicht in der Lage, auszusteigen und dahin zu gehen. Weil das so erinnert und so viel zerstört hat."
Viel zu wenig Kolleginnen und Kollegen, sagt die Psychologin Claudia Watzel, wüssten um das Thema "Gewalterfahrung im Kreißsaal".
"Da gibt es häufig so die Vorstellung, dass eine Geburt, die aufgrund von äußeren Umständen traumatisch ist, also aufgrund von wirklichen Notfällen, schwierig sein kann für die Frau zur Verarbeitung. Aber dass im System systematisch Gewalt passiert, dass Gewalt passiert, die nicht passieren darf, die auch gegen Frauen-, Menschen- und Patientenrechte verstößt, da gibt es ganz, ganz wenig Sensibilität. Und wenn man dann schon mal mit Psychotherapeutinnen spricht, die in dem Bereich arbeiten und die eine Frau betreuen, die denken dann meist, das sind Einzelfälle. Und sind dann sehr erschüttert, wenn klar wird: Das sind keine Einzelfälle!"
Die Erfahrung von Übergriffigkeit beginnt oft schon im Kleinen. Aus einem Geburtsbericht:
"Ärztinnen kommen rein, reden so, dass ich sie nicht verstehe, und gehen wieder aus dem Zimmer, Ständig fingert die Hebamme in meiner Scheide herum. ‘Das reicht nicht‘, sagt sie. Und: ‚Das wird so nichts.‘ Sie meint die Öffnung meines Muttermundes. Seit Stunden hör ich mir an, dass ich das hier anscheinend schlecht mache."

"Das ist systematische Gewalt gegen Frauen"

Eine andere Frau berichtet von einem Dammschnitt, der nicht angekündigt war. Ein Vorfall, der klar den Tatbestand von Körperverletzung erfüllt. Überhaupt ist das Thema "Schnitt" ein heikles.
"Warum darf eine Klinik in Berlin von sanfter Geburtshilfe sprechen, und wenn Sie sich dann die Zahl - die Sie natürlich nicht auf der Homepage ohne Weiteres finden, sondern sich mühsam zusammensuchen müssen -, wenn Sie dann die Kaiserschnitte und Dammschnitte zusammenrechnen, sind Sie bei 50 Prozent. Und die Klinik sagt ‚Wir machen sanfte Geburtshilfe‘."
In die Kaiserschnitt-Statistiken müssen auch die zunehmenden Wunsch-Kaiserschnitte mit einberechnet werden. Dennoch:
"Also ich wage zu behaupten, dass, wenn Männer Kinder kriegen würden, wir nicht so viele Kaiserschnitte hätten. Also die WHO sagt, 10-15 Prozent der Kaiserschnitte sind medizinisch notwendig. Wir haben in Deutschland je nach Klinik 30, 40, vielleicht auch mehr Prozent Kaiserschnitte. Wir haben auch große Unterschiede. Das muss man sich mal vor Augen halten: Man geht in die Klinik, weil man denkt, man kriegt das Kind, und geht raus mit einer großen Bauch-OP! Und jede zweite - vielleicht auch mehr - ist einfach nicht notwendig. Das ist systematische Gewalt gegen Frauen."
"Und warum hätten Männer weniger Kaiserschnitte?"
"Weil sich das Männer, glaube ich, nicht gefallen lassen würden."
Ich bin zum Interview mit Frau Dr. Jana Barinoff verabredet, Chefärztin auf der Geburtshilfe-Station im Berliner St. Gertraudenkrankenhaus. Die Mehrzahl aller Geburten findet in Deutschland im Krankenhaus statt, auf die Vorzüge der modernen Medizin, auf die Sicherheit für Mutter und Kind wollen wir ungern verzichten. Natürlich nicht. Sicherheit aber hat zwei Seiten. Auch das Personal muss sich absichern, erklärt Chefärztin Dr. Barinoff. Im Krankenhaus gibt es klare Grenzwerte und Zeitfenster für den Verlauf einer Geburt - die sich eigentlich nicht normieren lässt. Dazu kommt ein enormer Druck.
"Wer hat jetzt gerade das Sagen? Also hat es die Frau, weil ja doch es ihr Körper ist, oder halt das Kind, was ich schütze, weil das Kind nun mal ein absolut selbständiges Leben ist? Und das Gesetz wird mich belangen, sollte ich halt quasi mich anders entscheiden."
Im Zweifel also keine Zeit für die Frau. Lieber Dammschnitt, Saugglocke oder Kaiserschnitt. Lieber auf Nummer Sicher gehen. Die Vergütung einer Sectio ist im Übrigen ungleich besser als die einer natürlichen Geburt.

Geld verdienen mit dem Kaiserschnitt

"Beim Kaiserschnitt, so will das System nun mal, nach einer halben Stunde als Arzt können sie was Anderes machen. Bei der Geburt sind sie vielleicht einmal mehrere Stunden beschäftigt. Also finde ich nicht sehr fair. Ich würde es umgekehrt machen, ich würde die Vergütung anders auslegen. Also Geburtshilfe sollte sich tatsächlich mal darauf konzentrieren, spontan Kinder auf die Welt zu bringen. Und das sollte uns wirtschaftlich definitiv anspornen, da zu bleiben! Und nicht schnell Kaiserschnitt, und dann habe ich mein Geld verdient", sagt Barinoff.
Um es noch drastischer zu sagen: Kliniken würden roten Zahlen schreiben, gäbe es zu viele interventionsarme Geburten. Auch wenn eine werdende Mutter keine Patientin ist - das Krankenhaus bleibt das Krankenhaus, und viel zu oft stehen Routinen über Notwendigkeiten und Bedürfnissen. Meist wird standardmäßig eine Braunüle gelegt, ein Venenkatheder. Schnell kann hierüber ein Medikament verabreicht werden oder ein Wehen-Tropf angehängt. Sicherheit für die Ärzteschaft. Doch was ist das Signal für die Gebärende? Vermittelt sich auch für sie automatisch Sicherheit? Oder wirkt das routinemäßige In-Betracht-Ziehen aller medizinischen Möglichkeiten nicht eher bedrohlich?
"Das Gehen in eine Klinik unterbricht ja den Geburtsverlauf. Das hat der Körper auch schon ganz klug eingestellt, wenn es so Störungen von außen gibt, werden die Wehen vielleicht geringer, geht vielleicht der Muttermund nochmal zu", sagt die Psychologin Claudia Watzel.
"Also Frauen sind nicht dafür gemacht, in eine Klinik mit hellem Licht zu gehen, um ihre Kinder zu kriegen - also physiologisch. Da sagt der Körper erst einmal 'nein'. Weil, der weiß noch nicht, dass wir Sicherheit mit Klinik assoziieren, mit Zugang zu Neonatologie und so weiter."
Nicht selten bedingt dann eine Intervention die nächste.
"Eine Frau kann mit dem Schmerz nicht umgehen, wird nicht unterstützt, stimmt dann einer PDA zu, auch wenn sie das gar nicht wollte, dann werden die Wehen weniger, dann wird ein Wehen-Tropf angehängt, dann gibt‘s vielleicht einen Wehen-Sturm, dann werden die Herztöne des Kindes schlecht, dann gibt es tatsächlich einen Notfall, den es gar nicht gegeben hätte, wenn man nicht vorher so interveniert hätte. Das Kind muss relativ schnell dann irgendwie raus. Heißt: irgendwie nachhelfen von außen. Kristellern, Dammschnitt, Saugglocke, was auch immer …"
Ein Szenario, das sich so oder in Variationen leider in vielen Geburtsberichten widerspiegelt. Natürlich sind Momente des medizinischen Eingreifens sind nicht per se Gewalt, sagt Franziska Kliemt von Mother Hood.

Offene Gesprächsrunden für betroffene Paare

"Ja, es kann durchaus sein, dass wir sagen, okay, vielleicht sind in der Regel 50 Prozent der Interventionen zu viel. Aber ob das wirklich als Gewalt empfunden wird, dazu spielt ganz viel mit rein: Das ist die persönliche Geschichte der Frau. Ja, welche Prägungen habe ich? Wie bin ich systemisch aufgestellt? Triggert vielleicht die Hebamme genau das, was bei meiner Mutter überhaupt nicht funktioniert hat? Deswegen ist es so wichtig, dass wir eigentlich die Frauen schon zusammenbringen mit der Frau, die sie dann unter der Geburt begleiten kann."
Für Eltern, die nach der Geburt ihres Kindes unglücklich sind und Fragen zum Geburts-Verlauf haben, bietet Dr. Jana Barinoff offene Gesprächsgruppen an.
"Ich habe auch gestern ein Paar gehabt, ich arbeite sehr viel mit Paaren, wo aus ihrer Sicht nicht alles glatt gelaufen ist. Und wie immer in so einer Situation: Die Hälfte kann ich ausräumen, die andere Hälfte muss ich zugeben. Es ist nicht gut gelaufen. Die Patientin hat das Gefühl gehabt, dass sie viel zu viel allein gelassen war."
Ein Gefühl, dass oft von Gebärenden beschrieben wird, sagt die freie Hebamme Claudia Stenger.
"Also das merk ich, wenn man Frauen begleitet und den Raum häufiger verlässt, das ist in so einer essenziellen Situation wie Geburt auch immer so eine Herausforderung für die Frau. Es kann oft dieses ‚Verlassen-werden, wo ich gerade jemanden brauche!‘ besonders schlimm empfunden werden."
"Die Hebamme sieht das komplett anders, das ist halt oft so. Da treffen sich die Welten. Die Hebamme sagt 'Ich war immer wieder da.' Und aus ihrer Sicht lief alles gut. Und das ist so ein Klassiker. Diese Diskrepanz zwischen dem, wie das die Frau wahrnimmt und wie das die Hebamme und wie das der Arzt wahrnimmt."

Unterversorgung in der Geburtshilfe

Doch braucht eine Frau in den Wehen nicht das meiste Einfühlungsvermögen? Auf der Geburtsstation im Gertraudenkrankenhaus sorgt man in der Regel für eine Eins-zu-Eins-Betreuung, versichert Dr. Jana Barinoff. Eine Hebamme, eine Gebärende. Auf den meisten Geburtsstationen im Land aber gibt es dramatische Personalschlüssel. Wenn es schlecht läuft, sorgt eine Hebamme für 3 oder gar 4 Frauen in den Wehen. Die seit Jahren vorherrschende Unterversorgung in der Geburtshilfe bezeichnet Franziska Kliemt von Mother Hood als strukturelle Gewalt gegen Frauen.
"Wir haben nicht nur ein Hebammenproblem, wir haben ein geburtshilfliches Problem! Die ganze Geburtshilfe fliegt uns um die Ohren, die schließen alle, die können sich wirtschaftlich nicht halten. Das ist einfach fahrlässig von dieser Gesundheitspolitik, und das macht mich rasend."
Dabei geht es nicht nur um die Geburt! Ob für die Schwangerenvorsorge, den Geburts-Vorbereitungskurs, die Wochenbett-Betreuung - eine Hebamme zu finden, wird immer schwieriger. Auf der Website des Deutschen Hebammen-Verbandes kann der jeweils aktuelle Mangel kenntlich gemacht werden, die abgebildete "Landkarte der Unterversorgung" ist deutschlandweit reich bestückt. Zum Zeitpunkt der Recherche zu dieser Sendung fanden sich 34.229 Einträge zu "keine Hebamme gefunden". Ein Grund dafür ist die enorm hohe Haftpflicht-Prämie, die freie Hebammen, die eben auch Hausgeburten begleiten, zahlen müssen.
Doch zurück zur Geburt im Krankenhaus-Kreißsaal. Wenn eine Hebamme mehrere Frauen gleichzeitig betreut, kann ihre Fähigkeit zu empathischem Verhalten enorm leiden.
"Wenn ich selber so unter Stress bin und so angespannt, zu viel Verantwortung habe, zu wenig Schlaf, zu lange Dienste, dann bin ich nicht mehr feinfühlig, dann kann ich bestimmte Dinge nicht mehr wahrnehmen", sagt die Psychologie Claudia Watzel.
"Wenn Hebammen selber keine Pausen mehr haben, nicht mehr zur Toilette gehen können, nicht mehr essen gehen können, also ihre Grenzen vom System, wie es organisiert ist, permanent missachtet werden, dann sind sie natürlich auch nicht mehr gut in der Lage, grenzwahrend selber zu arbeiten. Das geht miteinander einher."

Vorschlag für ein "Geburtshilfe-Stärkungsgesetz"

Der Deutschen Hebammenverband hat einen detaillierten Vorschlag für ein "Geburtshilfe-Stärkungsgesetz" ausgearbeitet. Eine Forderung von vielen: ein Hebammen-Sonderstellenprogramm für mehr Personal im Kreißsaal.
Was aber heißt nun genau "grenzwahrend" arbeiten? Ein Beispiel: Viel zu oft wird die Öffnung des Muttermundes schmerzhaft getastet - um den Fortschritt der Geburt zu beurteilen. Wenn es denn nötig ist, ist es wieder eine Frage des "wie".
"Man muss natürlich vorher ankündigen, aufgrund der Situation würd‘ ich jetzt gern nochmal nachgucken. Bist du bereit, können wir das jetzt machen, oder sollen wir nochmal warten bis zur nächsten Wehe oder nach der nächsten Wehe. Also, dass die Frau auch genügend Zeit hat, sich ‘ne Antwort zu überlegen oder überhaupt zu positionieren", sagt die Hebamme Claudia Stenger.
Auf wen eine Frau unter der Geburt trifft, ist oft ein reines Glücksspiel. Oder Unglücksspiel. Das räumt auch Ärztin Dr. Jana Barinoff ein.
"Vielleicht stimmt die Chemie vorne und hinten nicht. Aber nun ist es ihre Hebamme. Und da müssen sie irgendwie beide durch, Frau und Hebamme. Aber das ist quasi der Nachteil einer Klinik. Deswegen bin ich eigentlich ein großer Fan von auch mal Beleghebammen. Und wir würden gern noch mehr Beleghebammen haben, weil ich das Konzept absolut sinnvoll finde."
Beleghebammen sind freie Hebammen und kommen nur zur Geburt mit "ihrer" Frau in die Klinik. So arbeitet auch Claudia Stenger. Aus guten Gründen hat sie das sichere Angestelltenverhältnis im Krankenhaus für sich abgewählt.
"In eine laufende Geburt reinzukommen, die Frau dann dort abzuholen und bis zur Geburt mitzunehmen, das können wir schon oft. Aber es ist für die Frauen nicht immer ganz einfach, sich auf eine neue Person einzustellen. Und wenn ich kein Vorwissen habe und nicht weiß, was die Frau an traumatischen Erfahrungen hat, wo ihre Sensibilität liegt, was ihr wichtig ist bei der Geburt, dann ist es schwierig, da ad hoc zu begleiten. Die Frau dann auch wirklich so zu begleiten, dass sie nachhaltig sich gut betreut gefühlt hat."

Eigendynamik einer Geburt

Sich "nachhaltig gut betreut gefühlt zu haben" steht im krassen Widerspruch zu den 34.229 Einträgen für "keine Hebamme gefunden". Es ist beschämend, dass es diese "Landkarte der Unterversorgung" in Deutschland überhaupt gibt.
Werdende Mütter, werdende Eltern suchen natürlich ihren Weg, sich gut auf die Geburt vorzubereiten. Es gibt genug Bücher, Filme, Kurse und Online-Coachings, auch diverse Blogs und Foren im Netz. Die Erwartungen an das Geburtserlebnis sind unter Umständen groß: "Deine Reise von der Frau zur Mama", "Selbstbestimmt gebären - angst- und schmerzfrei", "Hypnobirthing - die Geburt des Glücks"...
"Auch wenn man vorher Hypnobirthing-Kurse oder ähnliches hatte, so ist es doch bei der Geburt ‘ne neue Erfahrung. Dieses Sich-selber-nicht-mehr kontrollieren zu-können, die Situation nicht mehr unter Kontrolle zu haben, sich den Wehen hinzugeben."
Die Hebamme Claudia Stenger sagt, Frauen sollten offen bleiben für Dinge, die nicht ihren Erwartungen entsprechen. Mit dem Versprechen von "selbstbestimmter, sanfter und schmerzfreier Geburt" lassen sich Bücher verkaufen und Seminare, lässt sich aber nicht im Mindesten die Eigendynamik einer Geburt erahnen. Nicht selten stürzten Frauen in das Gefühl von absoluter Hilflosigkeit, wenn es anders läuft. In den Routinen der Klinik-Kreißsäle fühlen sie sich plötzlich wie Statistinnen. Gestresstes Personal kommuniziert nicht mit ihnen, sondern über sie hinweg.
Genau das kann traumatisierend wirken, erklärt die Psychologin Claudia Watzel.
"Es wird irgendwie mit den Kollegen geredet darüber, dass die Herztöne weg sind oder dass man jetzt aber schnell handeln muss. Aber mit der Frau redet in so einem Notfall ganz selten noch jemand. Aber die zwei Sekunden, einer Frau zu sagen, 'Wir haben einen Notfall und erklären es Ihnen später' - das kann ich einüben, das kann ich stoisch trainieren! Und es mag jetzt trivial klingen, aber im Zweifel ist dieser Satz für die Frau später ein Anker, wo sie anknüpfen kann."

Sätze, die Angst auslösen

Ein einziger Satz als ein Anker zur Aufarbeitung. Genauso kann ein einziger Satz aber auch unendlich Angst auslösen. Katja erinnert sich.
"Ich weiß auch nicht, irgendwie hab‘ ich wohl nicht richtig mitgemacht oder nicht so mitgepresst oder so, wie man das hätte machen sollen, und dann hat die Hebamme mich angefahren und gesagt: ‚Jetzt machen Sie endlich mit, wenn Sie jetzt nicht mitmachen, geht hier noch alles kaputt.‘ Und ich dachte in dem Moment: Was ist mit dem Kind? Ich dachte, es geht nur noch ums Überleben. Die Art, wie die mit mir geredet hat: Das war schlimm, schlimm."
Immer wieder: die Macht der Kommunikation! Am St. Gertraudenkrankenhaus hat Dr. Barinoff die Psychologin Claudia Watzel für Personal-Schulungen gebucht. Auslöser dafür waren die Rosen, die zwei Jahre in Folge vor ihrem Kreissaal lagen. Wenn am 25. November dieses Jahres wieder Roses Revolution Day ist, hofft Jana Barinoff, keine Blumen zu bekommen.
Sie hat deshalb Claudia Watzel mit den Ärztinnen und Ärzten, Hebammen und Pflegern der Geburtshilfe-Station zusammengebracht. Während der "Schulungen zur Gewaltprävention" war jedoch immer wieder Unverständnis, durchaus auch Widerstand zu spüren, sagt die Ärztin. Viel zu viele Routinen seien einfach manifestiert.
"Man muss uns abholen vor allem, also mit diesen Themen. Wir sind Meilen davon entfernt!"
Ein Beispiel: Beim letzten Meeting mit den Anästhesisten bat Jana Barinoff darum, künftig aufzupassen, wenn eine Brillenträgerin für einen Kaiserschnitt vorbereitet wird.
"Weil die Anästhesisten wollen ans Gesicht mit der Maske und da wird den Frauen die Brille abgenommen. Und tatsächlich: Die mit schwachem Sehvermögen, die verlieren quasi den letzten Zugang zu Außenwelt. Also sie sind angeschnallt, sie liegen auf dem Tisch, die Arme sind ausgelagert. Und dann kommt der Anästhesist und sagt: ‚So, und jetzt mal die Brille.‘ ‚Und dann‘, hat die Patientin, mit der ich gerade sehr intensiv arbeite gesagt, ‚… als das passiert ist, dachte ich, ach, mach mit mir was du willst.‘ Und das hat mich sehr getroffen", erzählt sie.
"Und als ich das meinen Kollegen vorgestellt habe, in der gleichen Art und Weise, wurde ich zuerst gar nicht verstanden. Dann wurde nachgefragt: Was soll ich denn sonst machen? Sie sollen mal mit der Frau bitte länger als nur einen Satz reden und sagen ‚Ich weiß, dass Sie da nicht viel sehen werden, müssen wir aber leider, es geht nicht anders.‘ Einfach wieder mal Kommunikation! Wir landen immer bei diesem Thema! Also wenn wir unsere Frauen einfach besser auf unsere Schritte vorbereiten, werden sie das ganz anders empfinden."

Kommunikation muss in den Lehrplan

"Ich denke, deswegen ist es halt wichtig, dass Geburtshelferinnen und Geburtshelfer, Hebammen als auch Ärzte, wirklich lernen, wie sie traumasensibel, traumapräventiv mit den Frauen sprechen können. Insbesondere die Kommunikation fällt doch meistens in der Ausbildung hinten runter!"
Franziska Kliemt begrüßt es sehr, dass die Ausbildung der Hebammen im Jahr 2020 endlich in ein Studium gewandelt wurde. Dies sei nicht zuletzt eine Ermächtigung von Frauen. Studierte Hebammen werden in Kreissälen gegenüber studierten Ärzten ein anderes Standing haben.
Im europaweiten Vergleich ist Deutschland mit der Akademisierung spät dran. An den Lehrplan hat der Verein Mother Hood klare Erwartungen formuliert. Die Stichworte sind "gewaltfreie Kommunikation, Empathie-Entwicklung, Selbsterfahrung, Supervision". Doch nichts davon findet sich derzeit im Lehrplan, sagt die Psychologin Claudia Watzel und ist enttäuscht.
"Der Hebammen-Verband hat an der Studienordnung mitgeschrieben, und man hätte reinschreiben können: ‚Wir wollen als verpflichtenden Studieninhalt Prävention von Gewalt in der Geburtshilfe…!‘"
Ich frage an beim Deutschen Hebammenverband und bekomme ausführliche Antwort. Die Zusammenfassung: Spezielle Hebammenkompetenzen zum Schutz vor Gewalt seien ausgearbeitet, stünden aber noch nicht im Lehrplan. Man sei dran am Thema! Auch Dr. Jana Barinoff ist das ein Anliegen:
"Präventive Arbeit muss auf den Lehrplan! Man kann nicht früh genug damit anfangen. Mit dieser Sensibilisierung und dieser Vorbereitung auf das Thema. Wir wollen auch nicht die Täter sein."
Einen Wunsch hat sie noch, "dass wir darüber laut reden dürfen, ohne Gefahr zu laufen, dass wir in eine Schublade gesteckt werden, aus der wir nicht mehr rauskommen."

Hebammengeleitete Kreißsäle

Die Chefärztin würde übrigens ohne Bedenken auf ihrer Geburtshilfe-Station entbinden. Ein Statement, das auch in diese Sendung gehört. Demnächst soll am Gertraudenkrankenhaus aber auch ein reiner Hebammen-Kreißsaal eröffnen. Hier sind keine Ärzte zugegen, sie werden nur im Notfall dazu geholt. Statistiken zeigen, dass die Kaiserschnitt-Rate in hebammengeleiteten Kreißsälen signifikant niedriger ist. Eine Art Geburtshaus-Atmosphäre mit Sicherheitsnetz. Das ist das wirklich Entscheidende, sagt Franziska Kliemt von Mother Hood, dass eine Frau sich unter der Geburt sicher aufgehoben fühlt.
"Es ist egal, ob das zu Hause ist, egal, ob es ein Geburtshaus ist oder in der Klinik. Aber sie sollte überall diese Rahmenbedingungen vorfinden können, dass sie dort einen sicheren, einen geschützten Raum für ihre Geburt hat. Und da sind wir einfach unterschiedlich. Und so individuell muss die Geburtshilfe nun mal sein."
Katjas Leon hat später noch einen Bruder bekommen. Wie schön.
"Und da war alles ganz anders. Ich muss ganz klar sagen, wenn die zweite Geburt die erste gewesen wäre, hätte ich sehr viel mehr Kinder gehabt."
Ich übrigens wollte während der Geburt die meiste Zeit allein sein. Ganz bei mir. Im warmen Wasser. Und im Flow. Mein Körper führte die Regie. Dass er das konnte, weil man ihn ließ - dafür bin ich Hebammen und Ärzten zutiefst dankbar. Denke ich an diese Geburt zurück, fühle ich mich unheimlich stark. Das ist die Geschichte, die ich meiner Tochter erzählen werde.

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Friederike Wigger
Technik: Jan Fraune
Sprecherin: die Autorin

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