Gewalt gegen Polizei und Rettungskräfte

"Aus jeder Lappalie kann ein gefährlicher Einsatz werden"

Polizisten auf Streife im Berliner U-Bahnhof Alexanderplatz.
Polizisten auf Streife im Berliner U-Bahnhof Alexanderplatz. © imago/Olaf Selchow
Von Julia Weigelt · 15.10.2018
Angespuckt, bedroht, beschimpft - Polizisten und Rettungskräfte sehen sich immer häufiger Übergriffen gegenüber. Selbst alte Frauen im Seniorenheim kratzen und beißen. Doch gibt es wirklich mehr Fälle oder hat sich nur das Gewaltempfinden verändert?
Es war eine Massenschlägerei vor einer Disko: Sanitäter Timo Sievert rückt mit seinem Kollegen aus, um Verletzte zu versorgen. Während sein Kollege im Rettungswagen bei einem Patienten ist, unterhält Sievert sich dicht daneben mit einem Polizisten.
"Und mit einem Mal sah ich, wie mein Kollege aus dem Rettungswagen, aus der offenen Tür kreidebleich rausfiel und ein Messer im Rücken stecken hatte", erinnert sich der Sanitäter, der auch Mitglied der deutschen Feuerwehrgewerkschaft ist. Der angegriffene Kollege hatte dem Patienten für einen Moment den Rücken zugekehrt – da stach der Verletzte zu. Sieverts Kollege verliert daraufhin eine Niere.

Auch im Seniorenheim wird gekratzt und gebissen

Angriffe wie dieser sind zum Glück die Ausnahme. Doch Patienten, die Rettungskräfte anspucken oder bedrohen – das komme immer wieder vor, sagt Sievert. Hobbymäßig betreibt der Sanitäter Kampfsport. Seine Kenntnisse musste er auch schon während Rettungseinsätzen anwenden.
"Man fährt schon mit gemischten Gefühlen hin, weil, aus jedem vermeintlichen Lappalien-Einsatz kann ein Einsatz werden, wo wir gefährdet oder angegriffen oder verletzt werden."
Auch alte Frauen im Seniorenheim kratzen, beißen und schlagen da schon mal um sich. Eine Gefahr für Rettungskräfte, denn anders als Polizisten können Sanitäter keinen Sicherheitsabstand einhalten. Sie müssen die Patienten anfassen.
Dann ereignen sich manchmal Szenen wie vergangenen November in Berlin: Ein 23-Jähriger beschimpft Sanitäter, die gerade dabei sind, ein lebloses Kleinkind zu reanimieren. Dabei demoliert er sogar den Rettungswagen. Der Grund: Die Sanitäter hatten sein Auto zugeparkt.

Hamburg: 77 Angriffe auf Retter 2017

In Hamburg ist die Feuerwehr auch für den Rettungsdienst zuständig. Die Zahl der gemeldeten Angriffe auf Retter steigt in der Hansestadt. 2016 waren es 60 Fälle, vergangenes Jahr 77. Die Zahlen seien gemessen an den rund 290.000 Einsätzen jährlich jedoch immer noch gering, sagt Jan Ole Unger, Pressesprecher der Hamburger Berufsfeuerwehr. Deren Rettungskräfte werden für solche Fälle trainiert: Alle neu eingestellten Männer und Frauen erhalten ein Deeskalationstraining. Von zusätzlicher Ausrüstung wie Schutzwesten hält Unger allerdings nichts.
"Es gab Messerbedrohungen, aber da gab es dann Verletzungen am Arm oder einem Bein. Das heißt, dass eine Schutzweste an sich nicht dazu dienlich gewesen wäre, einen Übergriff abzuwehren."
Einsatzkräfte gehen mit Plakaten und Verdi-Fahnen durch die Innenstadt.
Rettungskräfte demonstrieren am 24.02.2018 in Frankfurt/Main für mehr Respekt und gegen Gewalt bei ihren Einsätzen. © dpa / Andreas Arnold
Pöbelnde oder gefährliche Menschen einfach liegen lassen – das dürfen die Retter allerdings nicht. Wenn es Patienten zu schlecht geht, sind die Sanitäter gesetzlich verpflichtet, sie mitnehmen.
"Im Zweifel habe ich es dann so gemacht, dass wir den Patienten im Rettungswagen mitgenommen haben und haben der Polizei dann gesagt: So, und du fährst aber mit."
Kollegen, die Opfer von Gewalt wurden, erhalten Unterstützung, erklärt Unger. Von ihren Teammitgliedern sowie speziell geschulten Kollegen. Die Betroffenen können sich zudem mit einer Feuerwehrpastorin und dem sozialtherapeutischen Dienst in Verbindung setzen.

Früher hatten die Menschen auch nicht mehr Respekt

Auch die Polizei hat mit um sich schlagenden Bürgern zu tun: Gut 24.400 Fälle von 'Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt' gab es 2017 deutschlandweit. Die Zahl ist fast gleich geblieben, während sie im Jahr zuvor um elf Prozent anstieg.
Was ist passiert? Hatten die Menschen früher mehr Respekt vor der Polizei?
"Nein, überhaupt nicht. Was man sicher sagen kann ist, dass man früher mehr Angst vor der Polizei hatte, aber nicht mehr Respekt", sagt Rafael Behr, Professor am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg. "Das wird oft verwechselt. Autoritär auftretende Polizei erzeugt keinen Respekt, sondern Angst."
Rafael Behr, Kriminologe und Soziologieprofessor an der Hochschule der Polizei Hamburg, blickt am 17.10.2012 in seinem Büro in Hamburg in die Kamera.
Respekt und Angst werden oft verwechselt, meint Rafael Behr, Kriminologe und Soziologieprofessor an der Hochschule der Polizei Hamburg.© picture alliance / dpa / Ulrich Perrey
Polizisten hätten früher etwa bei Angriffen häufiger zurückgeschlagen, ohne das ins Protokoll aufzunehmen, erinnert sich Behr. Auch die Kriminalstatistik sei nicht so eindeutig, wie man glauben könnte, erklärt der Professor der Hamburger Polizeihochschule. Er geht davon aus, dass es nicht mehr Gewalt gegen Polizisten gibt als früher – lediglich das Gewalterleben der Beamten habe sich verändert. Rafael Behr: "Vorkommnisse, die früher noch nicht als Gewalt beschrieben worden wären, werden heute schon als Gewalt wahrgenommen und dementsprechend skandalisiert."
So könne es schon als Widerstandshandlung gelten, wenn ein Verdächtiger sich bei seiner Festnahme am Tisch festhalte.

"Unzumutbare" Situation für Polizisten

Wenn es Krawall gibt, seien die Täter meist Männer, es sei Alkohol im Spiel und eine öffentliche Situation wie etwa eine Party auf der Reeperbahn. In diesen Gruppen herrscht oft eine besondere Dynamik, sagt Behr. Die jungen Männer denken, sie müssten sich gegenseitig etwas beweisen.
Wird ein Polizist in einer solchen Situation Opfer eines Angriffes, ist er in einer unzumutbaren Position, sagt Rafael Behr. Der betroffene Beamte fertigt bei kleineren Delikten das Protokoll selbst an, das später Grundlage für eine Anzeige ist: "Diese Verpflichtung nenne ich eine Simulation von Neutralität, die den Polizistinnen und Polizisten zugemutet wird."
Ein Polizist hält einen Aufkleber hoch mit der Aufschrift "Keine Gewalt gegen Polizisten"
Anlässlich einer Mahnwache der Polizei der Hamburger Davidswache hält ein Polizist einen Aufkleber mit der Aufschrift "Keine Gewalt gegen Polizisten" hoch.© picture alliance / dpa / Angelika Warmuth
Opfer von Gewalt sollten nicht gezwungen sein, ihre Gefühle unterdrücken zu müssen, fordert Behr. Vielmehr sei es wichtig, die Emotionen zu durchleben. Zudem habe auch der Angreifer das Recht, dass entlastendes Material gesammelt werde. Ob betroffene Beamte diese allerdings Objektivität aufbringen könne, bezweifelt Behr.

Warnung vor einem hysterischen Diskurs

Die aktuelle Debatte über Angriffe auf Retter begrüßt der Professor der Hamburger Polizeihochschule. Was er jedoch ablehnt, ist ein hysterischer Diskurs. Dazu zählt Behr auch die jüngste Verschärfung des Paragrafen 114 zum Angriff auf Einsatzkräfte. Wo Täter bisher häufig mit einer Geldstrafe belegt wurden, droht jetzt eine Mindeststrafe von drei Monaten Haft. Polizei und Rettungsdienst besonders hervorzuheben – für Behr ist das ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Zudem habe die Verschärfung bei Affekthandlungen keinerlei Auswirkungen. Viel wichtiger seien nach Angriffen Angebote wie der Täter-Opfer-Ausgleich.
Der Hamburger Feuerwehrmann Jan Ole Unger hofft indes, dass die Zahl der Angriffe wieder sinkt. Er wünscht sich, "dass nicht nur der Respekt gegenüber Polizei und Feuerwehr wieder mehr wird, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Respekt".
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