Gewalt

Fehler im Schutzsystem

Eine Handpuppe auf einer Liege in einem Untersuchungsraum in der Kinderschutzambulanz
Eine Handpuppe auf einer Liege in einem Untersuchungsraum in der Kinderschutzambulanz an © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Moderation: Frank Meyer · 30.01.2014
Es ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen, die helfen könnten, die Zahl der Kindesmisshandlungen in Deutschland zu reduzieren. Doch es dominiert eine Politik des Wegsehens, wenn es darum geht, Gewalt gegen Kinder aufzudecken.
Frank Meyer: Laut Polizeistatistik sterben jedes Jahr in Deutschland 160 Kinder an den Folgen von Misshandlungen. Meistens sind die Täter der Vater oder die Mutter des Kindes oder der Lebenspartner eines Elternteils. Noch viel mehr Kinder werden so massiv misshandelt, dass sie von Ärzten behandelt werden müssen, etwa 3.600 pro Jahr. Die schlimmsten Fälle, die zu Tode geprügelten Kinder, die sehen die Rechtsmediziner bei der Obduktion, Mediziner wie Saskia Guddat und Michael Tsokos. Die beiden Berliner Ärzte haben ein Buch geschrieben über ihre Erfahrungen und diesem Buch den Titel gegeben, "Deutschland misshandelt seine Kinder". Heute haben Saskia Guddat und Michael Tsokos ihr Buch vorgestellt, und Saskia Guddat ist jetzt bei uns. Seien Sie herzlich willkommen!
Saskia Guddat: Vielen Dank!
Meyer: Was hat denn für Sie, Frau Guddat, den Anstoß gegeben, dieses Buch zu schreiben?
Guddat: Der Anstoß war, da muss ich Sie einmal kurz korrigieren, wir sehen nicht nur die toten Kinder, sondern wir sehen auch lebende misshandelte Kinder. Und der Anstoß war irgendwann, dass uns immer mehr aufgefallen ist, dass die Fälle zwar an sich sehr unterschiedlich sind, aber dass bestimmte Dinge sich in jedem Fall wiederholen. Und es gab dann einen Fall, der so massiv war, dass mein Chef irgendwann sagte, das reicht jetzt langsam, wir müssten da einfach 'mal ein Buch drüber schreiben. Wir haben dann längere Zeit über das Thema diskutiert und haben uns dann entschlossen: Ja, es ist soweit, man muss einfach mal mit diesem Thema an die Öffentlichkeit gehen, weil sich halt bestimmte Probleme in all diesen Fällen immer wiederholen.
Meyer: Welche Probleme sind das?
Guddat: Man kann es zusammenfassen als drei, vier Punkte. Einerseits ist das Problem, dass häufig das Jugendamt in den Fällen nicht so drin ist, wie es das sein sollte aufgrund der hohen Fallzahlen, die da die einzelnen Mitarbeiter bearbeiten müssen. Dann ist das Problem, dass die freien Träger komplett finanziell abhängig sind vom Jugendamt und dort häufig nicht unabhängig, ganz frei prüfen, ob das Kind in der Familie bleiben kann oder nicht, und deshalb auch stark gefährdete Kinder in der Familie bleiben, die eigentlich besser rausgenommen werden müssten.
Dann ist das Problem, dass bei den freien Trägern häufig Berufsanfänger, die sehr unerfahren sind, arbeiten, die dann die ersten Warnzeichen nicht richtig deuten, so dass, wenn dann wieder Misshandlungen auftreten trotz der Familienhilfe, die dort etabliert ist, dass dann auch nicht darauf reagiert wird. Und das Problem ist häufig, dass, selbst wenn man dort etwas erkennt und erste Ärzte aufsucht oder andere Institutionen aufsucht, dass die nicht stark genug geschult sind, um das wirklich zu erkennen, und dann die Kinder trotzdem durchs Raster fallen.
Es fehlt an intensiver Arbeit mit den Familien
Meyer: Also Ihr Grundvorwurf ist, dass Kinder viel zu spät aus den Familien genommen werden, Kinder misshandelt werden und trotzdem bei ihren Familien bleiben. Nun gibt es aber, und das schreiben Sie auch in Ihrem Buch, in Berlin zum Beispiel wurden 2012 doppelt so viele Kinder von Jugendämtern in Obhut genommen wie fünf Jahre davor, und in der ganzen Bundesrepublik ist die Zahl solcher Inobhutnahmen stark angestiegen. Das spricht doch eigentlich sehr dagegen, dass die Jugendämter zu lange zögern würden, Kinder aus den Familien zu holen.
Guddat: Ja, die Zahlen steigen in der Tat an, und wir sagen auch nicht nur, dass die Kinder zu lange in den Familien bleiben, wir kritisieren auch, dass mit den Familien nicht intensiv genug gearbeitet wird. Aber Sie dürfen eins nicht vergessen: Trotz der steigenden Zahlen der Inobhutnahmen bleiben die Zahlen der zu Tode misshandelten Kinder und der Kinder, die so stark misshandelt werden, dass sie ärztliche Hilfe brauchen über die Jahre erschreckend hoch konstant.
Meyer: Aber dieses grundsätzliche Ziel der Jugendämter, mit den Familien zu arbeiten und den Eltern zu helfen, eben ihre Kinder nicht mehr zu misshandeln, das ist doch eigentlich der richtige Ansatz und der bessere Ansatz, als die Kinder von ihren Familien zu trennen.
Guddat: Das ist auf jeden Fall der richtige Ansatz. Wir sagen auch gar nicht, dass alle Kinder, die jemals misshandelt wurden, sofort von ihren Familien getrennt werden müssen, aber das Problem ist häufig, dass entweder die Risikoeinschätzungen dort falsch sind oder aber auch mit den Eltern nicht so gearbeitet wird, wie es teilweise notwendig ist. Also uns begegnen Fälle, wo eine Familienhilfe drin sein sollte, die ist aber schon seit Monaten nicht mehr drin, weil die Mutter einfach beschlossen hat, sie möchte die Familienhelferin nicht, macht nicht mehr die Tür auf, und es passiert trotzdem nichts, und das Kind ist weiter in dieser Situation.
Meyer: Und ist die Grundursache dafür wiederum, dass die Jugendämter zu schlecht ausgestattet sind, dass zu wenig Geld da ist, um diese Aufgabe zu erfüllen?
Guddat: Das Problem ist da sicherlich, dass, wenn der Träger zurückmeldet, dass die Familienhilfe nicht mehr durchgeführt wird, dass dann zu langsam darauf reagiert wird. Die Frage ist natürlich auch immer, wird das Ganze zurückgemeldet oder traut man sich vielleicht auch nicht, das zurückzumelden? Man kann nicht immer den Finger nur an einer Stelle in die Wunde legen und sagen: Das ist der Punkt.
Sondern es ist meistens eine Kombination aus mehreren Sachen. Was wir leider aber ganz häufig sehen, dass gerade bei den Fällen, wo die Kinder ums Leben kommen, das Schutzsystem bereits vorher mit drin gewesen ist und diese Kinder trotz der intensiven Betreuung durch das Schutzsystem noch ums Leben kommen. Und das spricht ja schon dafür, dass in diesem Schutzsystem offensichtlich ein Fehler drin ist, der dadurch, dass er sich immer wieder wiederholt, anscheinend auch systematisch ist.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit Saskia Guddat. Sie hat zusammen mit Michael Tsokos das Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder" geschrieben. Heute wurde dieses Buch vorgestellt. Sie schauen ja auch auf das große Ganze. Schon Ihr Buchtitel ist ja ein pauschaler Vorwurf, "Deutschland misshandelt seine Kinder", und Sie schreiben: Mit schuld daran, dass so viele Kinder misshandelt werden, sogar sterben, sei eine Kultur des Wegsehens in Deutschland. Was meinen Sie damit – Kultur des Wegsehens?
Guddat: Es ist leider so, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte sehr vorsichtig ist, sich in Familien einzumischen. Es ist einerseits so, dass der Staat immer versucht, möglichst wenig in die Familien reinzugehen. Andererseits ist es so, dass Nachbarn halt auch nicht nachfragen wollen, wenn in der Nebenwohnung etwas Komisches passiert, geschweige denn, Hilfe von außen holen wollen, weil man könnte ja denken, dass sie ihre Nachbarn irgendwie verpfeifen wollen.
Wir fordern jetzt natürlich nicht dazu auf, dass Sie sofort die Polizei rufen, wenn es in der Nachbarwohnung mal Streit mit dem Kind gibt. Aber es kann nicht sein, dass Kinder tot in Wohnungen gefunden werden oder Kinder schwerste Verletzungen haben und die Nachbarn sagen: Ja, ja, das haben wir immer gesehen. Wir haben auch gesehen, dass diese Kinder teilweise im Treppenhaus misshandelt wurden, aber ich hab mich ja nicht eingemischt, das geht mich ja nichts an. Das ist ja das Kind der Eltern.
Man muss ganz klar sagen, wir haben in Deutschland ein Gesetz, Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung, und es kann nicht sein, dass wir dann nicht eingreifen, wenn wir mitbekommen, wenn Kindern Gewalt angetan wird.
Hohe Dunkelziffer auch bei getöteten Kindern
Meyer: Sie sprechen von einer Kultur des Wegsehens. Es gibt auch ganz andere Stimmen, zum Beispiel Viola Gehrhardt, das ist die Referatsleiterin für Heimaufsicht im Bundesland Thüringen, und sie sagt: Es greift stärker als früher eine Kultur des Hinsehens. Auch die Jugendämter sind sensibler geworden und agieren schon, bevor etwas passiert. Was sagen Sie dazu?
Guddat: Es stimmt. Es ist inzwischen so, dass durch die Medienberichte insgesamt schon mehr hingekuckt wird als früher, aber es wird bei Weitem noch nicht so stark hingekuckt, dass wir wirklich Erfolge sehen. Es wäre dann so für mich der Punkt erreicht, wo man sagen kann, wir sind jetzt da, wo wir hinwollen, wenn diese Zahlen runtergehen. Aber solange wir nach wie vor mindestens 150 tote Kinder pro Jahr – und Sie dürfen nicht vergessen, wir reden hier über das Hellfeld. Wir reden über die Zahlen, die von der Polizei erfasst werden.
Wir reden noch gar nicht über das Dunkelfeld. Wir gehen davon aus, dass auf jedes getötete Kind, das angezeigt wird, auch ein getötetes Kind kommt, was nicht angezeigt wird. Und wir gehen davon aus, dass auf jedes angezeigte misshandelte Kind, das ärztliche Hilfe braucht, je nach Studien zwischen 50, einige Studien sagen sogar, 200 oder 400 Kinder kommen, bei denen die Misshandlung nie aktenkundig wird. Und solange wir auf diesen konstant hohen Zahlen bleiben, glaube ich, sind wir weit davon entfernt, sagen zu können, das ist jetzt alles gut, wir sind zu einer Kultur geworden, die wirklich hinschaut.
Meyer: Sie sagen auch in Ihrem Buch, in anderen Ländern wie Schweden, nennen Sie da als Beispiel, Finnland, Frankreich könnte das nicht passieren, so wie es bei uns passiert. Sind denn dort objektiv die Zahlen tatsächlich deutlich niedriger? Sterben dort deutlich weniger Kinder durch Misshandlungen?
Guddat: Was Sie da sehen, ist, dass Sie nicht permanent die ansteigenden Zahlen der Inobhutnahmen haben bei ansonsten konstant bleibenden Zahlen. Was in den Systemen relativ gut funktioniert, ist, dass man die Erziehung der Kinder nicht nur auf die Eltern überträgt, sondern dort auch versucht, Angebote zu schaffen, dass sie mit professionellen Erziehern zusammen ihr Kind gemeinsam erziehen, indem sie da zum Beispiel gute Kita-Plätze mit professionellen Erziehern haben, was für die Eltern natürlich einerseits Entlastung bedeutet, andererseits auch Hilfe von außen.
Und wir wissen ja, dass Misshandlung primär durch Überforderung der Eltern in der Regel getriggert wird. Insofern haben Sie dort einerseits den Ansatzpunkt, dass Sie vieles wahrscheinlich verhindern können. Andererseits sind dort geschulte Erzieher, die auch mitbekommen, wenn das Kind Verletzungen hat und da auch schneller drauf reagieren können.
Meyer: Und was müsste jetzt aus Ihrer Sicht zuallererst passieren in Deutschland, um da etwas zu verbessern?
Guddat: Ich denke, das allererste, was sein müsste, ist, dass wir aufhören zu sagen: Es gibt dieses Problem hier nicht! Die Zahlen belegen, dass es dieses Problem gibt. Das heißt, wir müssen uns erst mal als Zivilbevölkerung darüber klar werden, wir haben ein Problem. Dann müssen Familienpolitiker schauen, an welchen Stellen treten die Probleme in unserem System auf und hier nachbessern. Wobei: Da muss man sich drüber bewusst sein, das ist nichts, was wir in einem halben Jahr oder in ein, zwei Jahren hinbekommen.
Das wäre eine langfristige Agenda, die man versuchen muss, auch langfristig umzusetzen, bis wir wirklich dann in ein paar Jahren deutlich sinkende Zahlen haben. Dann wissen wir, wir sind auf dem richtigen Weg.
Und man sollte alle Akteure, die mit Kindern arbeiten, die im Kinderschutzbereich arbeiten, deutlich schulen, und zwar dahingehend, dass sie Misshandlungen erkennen, dass sie frühzeitig wissen, was aus Schutzbehauptungen herauszuziehen ist beziehungsweise ob das zu dem passt, was ich dort beim Kind sehe. Weil das begegnet uns auch immer wieder – da haben Säuglinge Striemen im Gesicht und die Betreuer sagen zu uns, na ja, die Mama hat gesagt, das hat mit dem Kopf sich gegen das Gitterbett gedrückt, obwohl das ganz typische Schlagverletzungen sind. Also, dass wir dort wirklich allen, die in dem System arbeiten, das nötige Handwerkszeug vermitteln können, dass die frühzeitiger erkennen können, passt das oder passt es nicht, muss ich hier hellhörig werden?
Meyer: "Deutschland misshandelt seine Kinder". So heißt das Buch von Michael Tsokos und Saskia Guddat. Es ist im Droemer-Verlag erschienen. Frau Guddat, vielen Dank für das Gespräch!
Guddat: Gerne, schönen Tag noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema