Gesucht, gehütet und verraten

Von Sven Rücker · 04.06.2011
Jeder hat eines und will es bewahren. Jeder glaubt, andere haben eines und will es erfahren. Kaum etwas verschafft mehr Befriedigung als die Enthüllung fremder Geheimnisse. Weniges löst größere Angst aus als die mögliche Enthüllung eigener Geheimnisse.
Geheimnisse schützen Personen und grenzen Personen aus. Geheimnisse können süß oder schmutzig sein, Teil eines koketten Spiels der Verbergung oder tödliche Gefahr. Geheimnisse führen uns einerseits an unsere Grenzen und darüber hinaus, konfrontieren uns mit dem Unvertrauten und Verdrängten. Andererseits sind sie das Intimste, das wir haben; das Teilen von Geheimnissen definiert den inneren Kreis einer Person, die Demarkationslinie zwischen Freunden und Bekannten. Kurz, Geheimnisse umfassen und bestimmen die gesamte menschliche Existenz.
Und doch scheint das Geheimnis heute, in Zeiten von WikiLeaks und Facebook, selbst in Gefahr zu sein. Verschwindet das Geheime aus der Welt? Oder sucht es sich nur andere Orte und Formen?
Wir heften uns im Dunkel der Nacht an die Spur des Geheimen, folgen seinen Fluchtbewegungen, Verwandlungen und Verbergungsversuchen. Beginnend mit Sinnsuchern, Schatzsuchern und Detektiven, über Geheimgesellschaften und Verschwörern bis hin zu Hackern und Heiligen nähern wir uns dem Geheimen mit Respekt. Statt die Aura des Geheimnisvollen zu zerstören, wollen wir sie in dieser Langen Nacht zum Leuchten bringen

Definition laut Wikipedia:
Ein Geheimnis ist eine meist sensible Information, die der Personengruppe, für die sie von Interesse ist/sein könnte, nicht bekannt oder einsehbar ist. Die entsprechende Information wird häufig absichtlich in einem kleinen Kreis Eingeweihter gehalten, kann durch äußere Umstände aber auch vollkommen verloren gehen. Im politischen Bereich wird für den Begriff auch der aus dem Angelsächsischen re-importierte Ausdruck klandestin (ursprünglich aus dem Lateinischen: clandestinus, heimlich, geheim) verwendet. Als Gegenbegriffe gelten Öffentlichkeit, Transparenz und Informationsfreiheit.
Definition Geheimnis / Geheimhaltung (Uni Passau):

Information oder ein Soziales Handeln, deren Kenntnis unter wenigen Geheimnisträgern bleibt, die der Geheimhaltung unterliegen. Im politischen Bereich wird dafür auch der aus dem Angelsächsischen reimportierte Ausdruck klandestin (ursprünglich aus dem Lateinischen: clandestinus, heimlich, geheim) verwendet. Als Gegenbegriffe gelten Öffentlichkeit und Transparenz.
Definition laut Duden Recht Bundeszentrale für politische Bildung:

Geheimnis - eine Kenntnis, die auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist; im Verwaltungsrecht schützt das Amtsgeheimnis, dem der Beamte und der sonstige öffentliche Bedienstete unterliegen, die Vertraulichkeit dienstlicher Vorgänge und persönlicher Daten. Es bestehen öffentlich-rechtliche Verschwiegenheitspflichten der Behörden und der Bediensteten. Ein bereichsspezifischer Vertraulichkeitsschutz wird durch das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Steuer-, das Sozial- und das Statistikgeheimnis gewährleistet.

Auszug aus dem Manuskript:
Schschschttt ... Es ist dunkel draußen. Und ruhig. Zeit zu schlafen. Es ist schon so spät. Haben Sie schon das Licht gelöscht? Liegen Sie schon im Bett? Träumen Sie schon.
Aber Halt! Vorsicht! Wissen Sie wirklich, worauf Sie sich da einlassen?
"Hinsichtlich des Schlafes, dieses finsteren Abenteuers, das sich jeden Abend wiederholt, kann man sagen, dass die Menschen täglich mit einer Kühnheit einschlafen, die unbegreiflich wäre, wüßten wir nicht, dass sie der Unkenntnis der Gefahr entspringt."
Diese Warnung stammt von Charles Baudelaire, einem Experten für die Dinge, die die Nacht mit sich bringt. Vielleicht sollten Sie doch noch nicht einschlafen, vielleicht wäre es besser, sich ein wenig darauf vorzubereiten, was sie erwarten könnte.
Ist ihnen unheimlich? Ist es vielleicht zu still und zu dunkel? Möchten Sie etwas Licht ins Dunkel bringen?
Die Nacht ist die Welt der Träume, die Zeit des Geheimnisses. Das Geheimnis des verlorenen und verborgenen Ursprungs, in den die Nacht uns zurückkehren lässt, wie es Novalis in den Hymnen an die Nacht besingt –
"Gelobt sey uns die ewge Nacht, / Gelobt der ewge Schlummer / Wohl hat der Tag uns warm gemacht / und welk der lange Kummer. / Die Lust der Fremde ging uns aus, / Zum Vater wollen wir nach Haus."
Aber diese erste Heimat ist uns selbst unheimlich geworden. Das Geheimnis dieses Ursprungs bleibt dunkel wie die Nacht selbst, die Heimkehr nur ein Traum. Das Geheimnis des Beginns lässt sich nicht einholen, zutage bringen und in Sprache übersetzen.
"Du dunkle Nacht, du dunkles Herz / Wer spiegelt eure heiligsten Gründe, / Und eurer Bosheit letzte Schlünde? / Die Maske starrt vor unserm Schmerz – [ ... ] Und steht vor uns ein fremder Feind, / Der höhnt, worum wir sterbend ringen, / Dass trüber unsre Lieder klingen / Und dunkel bleibt, was in uns weint. [ ... ] Du bist in tiefer Mitternacht / Ein Unempfangner in süßem Schoß, / Und nie gewesen, wesenlos! / Du bist in tiefer Mitternacht."
So drückt es Georg Trakl in seinem "Gesang zur Nacht" aus. Aber die Nacht ist nicht nur die Zeit der inneren Einkehr, in der das Selbst sich verdichtet und zusammenzieht, um sich dem dunklen Geheimnis seines Ursprungs anzunähern. Es ist auch die Zeit seiner Explosion, der rauschhaften Entgrenzung des Ichs, wie sie Gottfried Benns "O Nacht" feiert:
"O Nacht! Ich nahm schon Kokain, / und Blutverteilung ist im Gange / das Haar wird grau, die Jahre fliehn / ich muss, ich muss im Überschwange / nach einmal vorm Vergängnis blühn. / O Nacht! Ich will ja nicht so viel, / Ein kleines Stück Zusammenballung, / Ein Abendnebel, eine Wallung / von Raumverdrang, von Ichgefühl. [ ... ] O still! Ich spüre kleines Rammeln: / Es sternt mich an – es ist kein Spott-: / Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, / sich groß um einen Donner sammeln."
Ob in der donnernden Explosion des Ich-Gefühls oder in der stillen Einkehr, dem Rückzug, der Kontraktion des Ichs auf sich selbst - in der Nacht, in der sich die Gewissheiten auflösen, in der die Konturen verschwimmen, die die Dinge voneinander abgrenzen, scheinen wir unter und hinter die Oberfläche der Welt zu gelangen. Insofern ist die Nacht die richtige Zeit, um über das Geheimnis zu sprechen, über das, was aus der Tiefe zu uns spricht:
"O Mensch gib acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht? / - ich schlief, ich schlief / aus tiefem Traum bin ich erwacht. / Die Welt ist tief / und tiefer als der Tag gedacht."

Synonyme zu geheimnisvoll: dunkel, esoterisch, magisch, mysteriös, mystisch, okkult, rätselhaft, übernatürlich, undurchsichtig, unergründlich, unerklärbar, unerklärlich (aus dem Duden)

Vom Nutzen des Geheimnisses
Von Münkler, Herfried
Im privaten Leben gründet sich Vertrauen darauf, dass man keine Geheimnisse voreinander hat - jedenfalls keine in wesentlichen Fragen des Zusammenlebens. Dass die Wahrung kleinerer Geheimnisse zur persönlichen Identität gehört, wird akzeptiert. Ein Vertrauen unter Liebenden, unter Freunden, das sich darauf gründet, alles wissen zu müssen, ist von indiskreter Zudringlichkeit. Es ist bloß generalisiertes Misstrauen, das sich als Voraussetzung für Vertrauen ausgibt. Hier liegt der Verdacht nahe, dass es nicht um Vertrauen, sondern um Beherrschung geht. Instinktiv bleibt man auf Distanz: Dann lieber das Geheimnis wahren, als ein vermeintlich totales Vertrauen herstellen. Weiterlesen hier.

Hans Henny Jahnn
Das Holzschiff
Erschienen in deutscher Ausgabe u.a. bei Suhrkamp, Frankfurt
Das Holzschiff ist ein Roman von Hans Henny Jahnn und der erste Band der Trilogie Fluss ohne Ufer, des Hauptwerks des Schriftstellers http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Holzschiff
"Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar. Mit dem breiten gelbbraunen, durch schwarze Pechfugen gegliederten Bug und der starren Ordnung der drei Masten, den ausladenden Rahen und dem Strichwerk der Wanten und Takelage. Die roten Segel waren eingerollt und an den Rundhölzern verschnürt. Zwei kleine Schleppdampfer, hinten und vorn dem Schiff vertäut, brachten es an die Kaimauer." Hans Henny Jahnn

Auszug aus dem Manuskript:
"Der Detektiv ist der Sohn des Mörders, ist Ödipus, nicht nur, weil er ein Rätsel löst, sondern auch, weil er den tötet, dem er seinen Namen verdankt, den, ohne welchen er selbst als solcher nicht existierte – wie sollte er ohne Verbrechen, ohne geheimnisvolle Verbrechen in Erscheinung treten? -, weil dieser Mord ... in seinem Wesen liegt, weil er nur durch ihn König und wirklich er selbst wird."
Der König ist tot, es lebe der König. Im ödipalen Vatermord liegt das Geheimnis, das der Detektiv unbedingt wahren muss und das eben kein Rätsel ist: die Intimität, die Verwandtschaft zwischen Mörder und Ermittler, zwischen dem, den der Detektiv sucht und dem, der er selbst ist. Würde auch dieses Geheimnis zum Rätsel und aufgelöst, wäre der Detektiv kein Detektiv mehr, würde er sich vollständig in das verwandeln, was er vordergründig bekämpft. Die Figur des Detektivs gründet sich also selbst auf einem Geheimnis, das unbedingt gewahrt werden muss. Seine Lösung des Rätsels ist nur die Fortschreibung des Rätsels: ein neuer Mord, der den ersten, gelösten ersetzt. Inmitten des Rätsels erscheint wieder die Struktur des Geheimnisses, das sich in dem Maße entzieht, in dem man sich ihm nähert. Denn im Gegensatz zum ersten Mord ist der des Detektivs "unbestrafbar", wie Butor schreibt. Und indem er den Täter ermittelt, verbirgt er zugleich seine eigene Täterschaft, die sich in eben dieser Ermittlung vollzieht.
Aber immer noch könnte man sagen: das Opfer ist nur das Geheimnis selbst. Der geschilderte Ödipuskomplex des Detektivs ließe sich auch so ausdrücken: der Sohn Rätsel tritt an die Stelle des Vaters, des Geheimnisses. Verdankt der Detektiv seine Existenz dem Vorhandensein eines Geheimnisses, so steht nach seiner erfolgreichen Arbeit dessen Verwandlung in ein Rätsel. So ist ja auch der zweite Mord nicht von derselben Art wie der erste, sondern ähnelt der Todesstrafe für Mord – also Vorstellungen der Sühne, der Reinigung. Das sieht auch Butor:
"Der Detektiv reinigt dieses Stück Welt von dem Fehler, der nicht so sehr in dem Mord selbst liegt, in der einfachen Tatsache, dass man getötet hat – da es ja auch einen reinen Mord geben kann -, als in der Befleckung, in der Blutlache und dem Schatten, die ihn begleiten."
Der Detektiv ersetzt den schmutzigen Mord durch den reinen Mord und bringt dadurch die aus der Balance geratene Welt wieder ins Gleichgewicht. Wie in der Logik der Todesstrafe sühnt er den ersten Mord durch einen zweiten und stellt durch dieses Äquivalent die Ordnung wieder her. Der Detektiv ist also Mörder, indem er zugleich Richter und Henker ist. Sein Mord ist deswegen unbestrafbar, weil er selbst schon Strafe ist. Das ändert aber nichts an dem geheimen, intimen Verhältnis, das der Detektiv zu dem Mörder, seinem Opfer, unterhält. Das Geheimnis liegt eben nicht in den Fällen, die der Detektiv löst, sondern in der Figur des Detektivs selbst. Weil der Detektiv etwas zu verbergen hat, weil er ein Geheimnis in sich trägt, das ihn ins Zwielicht stellt, wird die Figur des Detektivs oft mit Widersprüchen und Ambivalenzen aufgeladen. Holmes ist Violinspieler und Chemiker, kalte Logikmaschine und launischer Drogensüchtiger. Und die prototypische Figur der Aufklärung ist zugleich ein großer Vernebler, wie Watson zu seinem Leidwesen oft feststellen muss, wenn er in das Zimmer des Freundes eintritt.
"Mein erster Eindruck beim Öffnen der Tür war, dass ein Feuer ausgebrochen sei. Denn der Raum war so mit Rauch gefüllt, dass die Lampe auf dem Tisch nur noch wie ein trüber Lichtfleck wirkte. Als ich jedoch eintrat, legte sich bald meine Angst, denn es waren die ätzenden Schwaden starken groben Tabaks. Durch den Dunst hindurch sah ich undeutlich Holmes´ Gestalt."
Der bereits hier völlig vernebelte Holmes verschwindet wenig später ganz, um in den Nebeln des Moors als geisterhafter Wanderer wieder aufzutauchen. Holmes ist ein Meister der Maske, er tritt in Doyles Erzählungen in vielfältigen Verkleidungen auf. Wie sein Opfer, der Mörder, verbirgt er sich, ist er ein Täuscher und Trickster, macht er aus sich selbst ein Geheimnis. Dasselbe gilt für Holmes´ Vorgänger Dupin, dem ersten Detektiv der Literatur, erdacht vom amerikanischen Autor Edgar Allan Poe. Ein Markenzeichen von Dupin ist die Sonnenbrille mit grünen Gläsern, die er stets trägt, um seine Augen zu verbergen. Und auch sonst wird die Figur Dupins mit allen Elementen des Geheimen umgeben.
"Wir mieteten ein baufälliges, wunderliches Haus, um es in einem Stil auszustatten, der dem ein wenig grillenhaften Düster unserer beiden Temperamente angemessen war. Infolge abergläubischer Gerüchte ... seit Langem verödet, lag es, dem Einsturz nahe, in einem abgelegenen und vereinsamten Teil der Stadt. Hätte man draußen in der Welt erfahren, wie wir an diesem Ort hausten, wir wären für Irre gehalten worden. Dupin hatte seit vielen Jahren aufgehört, in Paris bekannt zu sein oder jemanden zu kennen."
In jeder Hinsicht wird der Detektiv außerhalb der Ordnung gestellt, räumlich, psychologisch und sozial. Vergleichbar nur mit anderen aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen, den Irren, entzieht er sich, ganz dem Geheimnis verpflichtet, dem normalen gesellschaftlichen Verkehr und schottet sich vollständig von der Außenwelt ab. Im wahrsten Sinne des Wortes befindet er sich auf der Nachtseite.
Arthur C. Doyle
Sherlock Holmes: Der Hund von Baskerville
Aus d. Engl. v. Renate Wyler
2008 Fischer (TB.), Frankfurt
Nicht zufällig heißt die Detektivfigur in Umberto Ecos weltberühmtem Roman Der Name der Rose William von Baskerville eine Homage an Sherlock Holmes. In Der Hund von Baskerville, dem spannendsten und besten Roman von Sir Arthur Conan Doyle, beweist der Meisterdetektiv wieder einmal sein ganzes Können: In den Sümpfen von Dartmoor treibt sich eine geheimnisvolle Bestie herum, die den Herrn von Baskerville Hall getötet hat und nun auch noch den einzigen Erben bedroht. Sherlock Holmes kombiniert und kommt einem teuflischen Komplott auf die Spur.

Auszug aus dem Manuskript:
Ist der Tod das letzte Geheimnis, die letzte Schwelle, der letzte Übergang? Am Tod, dem ultimativen Geheimnis der menschlichen Existenz macht sich noch einmal die Doppelnatur des Geheimnisses fest: in Form der Wiederauferstehungslehre, des christlichen verklärten Körpers, wird der Tod zum erhabenen Geheimnis des Menschen, zum Übergang in das wahre, gereinigte Leben. Aber der Tod hat, auch schon in der christlichen Überlieferung, seine schmutzige Seite. We all gonna be Dirt in the ground. Der Tod ist ein schmutziges Geheimnis, das zugleich die wahre, unverstellte Natur des Menschen offenbart. Insofern führt die Fixierung auf den Tod auch zu einem Materialismus des Geheimnisses. Das Geheimnis verbirgt und offenbart sich in der anti-idealistischen Nacktheit der Existenz.
"Die großen Geheimnisse der Natur verbergen sich im Unscheinbaren, Unästhetischen, im Schlamm, in der faulenden Infusion, im Mist. Es ist wie eine Mahnung, daran zu denken, was wir eigentlich sind."
So drückt es der Biologe Raoul Heinrich Francé in seinem 1908 erschienenen Buch Das Leben der Pflanze aus. Nicht in den luftigen Höhen der Abstraktion, in der erhabenen Spekulation, begegnen wir den Mysterien des Lebens, sondern ganz unten, im Dreck. Die schmutzigen Geheimnisse sind die wahren Geheimnisse, weil nur im Schmutz die Wahrheit der Existenz zu finden ist.
Umgekehrt aber lassen sich ebenso viele Beispiele für die Inszenierung des reinen, des erhabenen Geheimnisses finden.

Raoul Heinrich Francé
Das Leben der Pflanze
Stuttgart 1921
Heute wird Raoul H. Francé als Begründer der Biotechnik wiederentdeckt. Zahlreiche seiner damals wie heute fortschrittlichen Ideen erlangten erst Ende des 20. Jahrhunderts ihre Würdigung, heißt es bei Wikipedia.
Auszug aus dem Manuskript:
Da Verschwörungen nur in der strukturellen Verwandlung von Informationen in Geheimnisse bestehen, muss die Gegen-Verschwörung die geheimen Informationskanäle stören, ihren internen Fluss unterbrechen und vor allem eine subversive und ebenso geheime Rückverwandlung der Geheimnisse in Informationen betreiben, um die primäre Verschwörung zu zerstören. Assanges Krypto-Anarchismus folgt ganz der Logik des Verrats, der Dialektik von Verschwörung und Gegen-Verschwörung. Im Zuge dieser Logik bedeutet das Verraten eines Geheimnisses nicht primär, es zu entdecken oder weiterzusagen, sondern so mit ihm umzugehen, dass seine Funktion, eine autoritäre, weil auf Grenzsetzungen basierende Ordnung zu begründen, zerstört wird. Wenn sich Autorität durch die Begrenzung und Kanalisierung des Informationsflusses herstellt, so wird die anti-autoritäre Gegen-Verschwörung genau diese Begrenzungen einreißen und die Informationen wieder frei fließen lassen. Darum veröffentlicht Wikileaks die Informationen auch relativ ungefiltert, denn ein solcher Filter, eine Selektion und Interpretation, würde eine neue Kanalisierung des Flusses bedeuten. Das Idealbild ist letztlich Pascals König, der allen sagen würde oder müsste, dass er ein falscher König ist, und damit seine Autorität, die nur im Bewahren, im Zurückhalten dieses Geheimnisses bestand, verliert.

Das Beispiel Wikileaks wirft ein neues, positiveres Licht auf den Verrat. Wie sich schon in Pascals Parabel andeutete, ist das Bewahren und Verwalten von Geheimnissen immer auch ein Machtverhältnis, und die Unterscheidung zwischen den legitimen Geheimnisträgern und denen, vor denen ein Geheimnis bewahrt wird, von vorneherein hierarchisch. Durch die Begrenzung und Kanalisierung des Informationsflusses produziert eine Gesellschaft Distinktionen und stellt ein Machtgefälle her. Der Verrat legitimiert sich dadurch, dass er die Hierachisierungen einer vom Geheimnis gestifteten Ordnung einebnet. Von hier aus ließe sich eine ganze Geschichte der positiven Verräter schreiben, und zwar als eine Geschichte erfolgreicher Revolutionäre. Allerdings stehen auch diese positiven Verräter-Figuren vor einer doppelten Gefahr. Im Falle ihres immer möglichen, ja wahrscheinlichen Mißerfolges würde es der Vor-Macht gelingen, sie zu dämonisieren und ihren Verrat als rein destruktiven Akt darzustellen. Aber auch im Falle ihres Erfolges droht eine spezifische Gefahr. Weil die verräterischen Verschwörer gemäß der Dialektik von Verschwörung und Gegen-Verschwörung zunächst aus sich selbst ein Geheimnis machen müssen, um Geheimnisse erfolgreich zerstören zu können, können sie auch nachträglich so gut mythologisiert werden., Das aber würde bedeuten, dass sie selbst nachträglich zu einem gründenden Geheimnis, zu einer mythologischen Gestalt oder zu einer Ikone à la Che Guevara gemacht werden und sich in das verwandeln, was sie eigentlich bekämpfen wollten: in einen Mythos, der sich jedem analytischen Zugriff entzieht, weil er nur dazu da ist, eine neue Ordnung zu begründen.

Trotz dieser Gefahren weisen Assanges Ausführungen auf einen Aspekt von Verschwörungstheorien hin, der die Behauptung, sie würden einzig und allein der Komplexitätsreduktion dienen, relativiert. Verschwörungstheorien sind immer auch Gegenerzählungen. Jenseits der offiziellen, kanonischen Geschichtsschreibung offerieren Verschwörungstheorien andere Varianten zu sagen, was ist. Sie führen also de facto nicht zu einer Komplexitätsreduktion, sondern ergänzen die offizielle Version durch inoffizielle, vervielfältigen die Erzählungen. Sie statten das Ereignis, das sie zu deuten suchen, gewissermaßen mit Ornamenten aus, mit verschlungenen Arabesken, indem sie geheime Pläne und dunkle Machenschaften hinzufügen. Insofern tragen sie statt zur Vereinfachung eher zur Verwirrung bei.

Zu Verschwörungstheorien gehört, dass sie weder verifizierbar noch falsifizierbar sind. Eine Verschwörungstheorie, die sich bewahrheitet, würde sich gerade nicht mehr auf eine Verschwörung beziehen. Umgekehrt würde der Nachweis der Falschheit einer Verschwörungstheorie die angenommene Verschwörung nur ausweiten. So reagierte der iranische Präsident Achmadinedschad auf die Wikileaks-Veröffentlichungen, indem er behauptete, die USA selbst hätten diese Veröffentlichungen lanciert. Hinter der Gegen-Verschwörung wird eine neue Meta-Verschwörung konstruiert, sodass sich die Spirale der Verschwörungen weiterdreht. Die Falsifizierung einer Verschwörungstheorie lässt sich also immer als Teil der Verschwörung selbst deuten. Verschwörungstheorien basieren darauf, dass die Wahrheit über die Wahrheit ein Geheimnis bleiben muss, und genau darum können Verschwörungstheorien immer weitererzählt, weitergesponnen werden. Das gilt nicht nur für die großen, paranoischen Verschwörungstheorien, sondern noch viel mehr für die kleinen, alltäglichen Verschwörungen.