Gestus gehässiger Abrechnung

16.08.2010
Der österreichische Erzähler Norbert Gstrein, Jahrgang 1961, war seit 1988 Autor des Suhrkamp Verlags, eng befreundet mit dem Verleger Siegfried Unseld. Nach dessen Tod und der Übernahme der Verlagsleitung durch dessen Witwe Ulla Unseld-Berkéwicz, wechselte Gstrein zum Hanser Verlag.
Dort erscheint nun sein neuestes Werk, ein Schlüsselroman. Nicht sehr vorteilhaft wird darin eine Verlegerwitwe porträtiert. Unter dem ironisch-provokanten Titel "Die ganze Wahrheit" erzählt der Autor von den letzten Lebensjahren und dem Tod des Verlegers Heinrich Glück. In vorgerücktem Alter lässt der sich von seiner langjährigen Ehefrau scheiden, um die beträchtlich jüngere Autorin Dagmar zu heiraten, die ihn bezaubert (oder verhext?) hat.

Diese Frau will nicht nur den Verleger, sondern auch den Verlag unter ihre Herrschaft bringen. Nach dem Tod ihres Mannes setzt sie eine Säuberungskampagne unter seinen langjährigen Mitarbeitern in Gang. Arbeitet mit Schmeichelei und Verleumdung, erotischer Lockung und kalter Abstoßung. Perfekt beherrscht sie das "Divide et impera".

Sie hat einen Hang zu Okkultem und zum Mystizismus, neigt zu Exaltiertheit, zu hysterischen Auftritten und hält den Verlag mit ihren hochdramatischen Ich-Inszenierungen in Atem. Ihre Auftritte sind genau kalkulierte, zugleich verrückte Ich-Folklore, ihr aufgesetzter Philosemitismus ebenso wie ihr manichäischer Glaube an eine Parallelwelt von Geistern und Dämonen. Kurzum: sie verfügt über jene Charakterzüge und Eigenheiten, die der am Literaturbetrieb interessierten Öffentlichkeit seit langem aus zahllosen Feuilleton-Artikeln bekannt sind, in denen abträgliche Mythen und Legenden rund um die Suhrkamp Verlegerin Unseld-Berkéwicz gesponnen werden.

Über das lange Sterben ihres Mannes veröffentlicht die Romanfigur Dagmar Glück ein Erinnerungsbuch. Dieses schwülstige, indiskrete und verlogene Trauer-Machwerk erbost den langjährigen Verlagslektor, den Icherzähler des Romans. Er weigert sich, es zu lektorieren. Nicht zufällig erinnert es an das Sterbe-Memoire "Überlebnis" von Ulla Berkéwicz. Der Lektor überwirft sich mit der neuen Verlegerin, wird entlassen und schreibt ein Gegenbuch – eben "Die ganze Wahrheit".

Norbert Gstrein dürfte aus dem Prozess um Maxim Billers "Esra"-Roman gelernt haben. Er gibt sich alle Mühe, seinen Roman gegen eventuelle juristische Klagen abzusichern. Seine Verlegerin Dagmar ist blond und stammt aus Kärnten, sein Verleger Heinrich Glück steht einem Wiener Kleinverlag vor und wird spöttisch "der Siegfried Unseld der heimischen Literatur" genannt.

Derlei Fiktionalisierungen dienen dem Schutz vor Klagen, verbergen aber keineswegs den Schlüsselroman-Charakter des Buches. Im Gegenteil: Das Vexierspiel zwischen Wirklichkeit und Literatur, Realität und Fiktion ist sein eigentliches Thema. Es ist auf Decodierung des Realitätsbezugs angelegt. Alle Anspielungen sollen von Wissenden durchschaut, das reale Modell für Dagmar Glück im Gestus gehässiger Abrechnung bloßgestellt werden.

Das Problem dieses Schlüsselromans: Für Insider bietet er keine neuen Einblicke, für Nicht-Insider ist er wohl uninteressant. Bleibt die Frage, ob das Modell sich provozieren lässt, dem Autor die Freude zu machen, ihn zu verklagen.

Besprochen von Sigrid Löffler

Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit
C. Hanser Verlag, München 2010
304 Seiten, 19,90 Euro
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