Den Tod vor Augen

24.06.2008
Ulla Berkéwicz hat sich an ein Thema herangewagt, das niemanden kalt lässt: das Sterben und die Angst, die es begleitet. "Überlebnis" ist dabei auch autobiografisches Zeugnis über ihre letzte Zeit an der Seite von Siegfried Unseld, der 2002 gestorben ist. Es ist ein zorniges Buch, das schonungslos Kritik übt an der Intensivmedizin.
Das, was wir Leben nennen, scheint von wundersamen Erzählungen bestimmt zu sein. Sie künden von hoffnungsvollen Anfängen, klugen Plänen, Träumen und Sehnsüchten. Nur für den Schlussteil will sich kein plot einstellen. Wo an anderer Stelle mit großer Geste kühn entworfen wird, gerät die Erzählung plötzlich ins Stocken. Es wird eine Leerstelle markiert, über die zu sprechen schwer fällt und über die zu schreiben, nahezu unmöglich scheint.

Ulla Berkéwicz ist das Wagnis eingegangen und hat ein Buch über "den Mann" Siegfried Unseld und sein Sterben geschrieben. Der Name taucht im Text nicht auf. Doch hinter dem Schutz der unpersönlichen Anrede verbirgt sich der große Suhrkamp-Verleger, der 2002 im Alter von achtundsiebzig Jahren starb.

Auch die autobiografischen Bezüge zwischen der Autorin und Witwe Berkéwicz und dem weiblichen Erzähler-Ich des Textes sind eindeutig. Freimütig gibt sich das Ich als Betroffene zu erkennen. Und die Autorin Berkéwicz weiß, wie Betroffenheit in der literarischen Rede Schutz finden kann. Der Titel "Überlebnis" scheint diese Kluft beredt zu machen.

In Sprachgesten, die mehrfach wiederholt werden - "Die Angst, die mich treibt und immer weitertreibt, ist die, zu vergessen" – drückt sich der verzweifelte Wunsch aus, das Erzählen auch angesichts des Todes nicht zu verlernen. Denn die da rückläufig spricht, aus der zeitlichen Distanz von Jahren, weiß auch vom "reinen Hernach", wo "nichts erinnert, nichts atmet" und eben "nichts erzählt".

Berkéwicz spricht viel über die Zeit, die vergehen muss, bis die Erinnerung sich einstellt. Die Wucht des real Erlebten erzeugt Bilder, die noch Jahre danach demütigen. Während die Krankheit die "Herzlandschaft des Mannes" okkupiert, wird der Körper medizinisch bearbeitet, professionell gebettet und dem Ich aus der Verantwortung genommen.

Vom Sterbenden wird verlangt, sich so "zu verhalten, als ginge es um Überleben". Einem geliebten Menschen in Todesnähe Beistand leisten zu wollen, bringt die Erfahrung mit sich, ein Störfaktor zu sein. Dabei weiß nur das Ich, wenn "er erwacht, muß er mich sehen, sonst wird er blind".

Berkéwicz hat ein zorniges Buch geschrieben, das kritische Abwehr und positive Resonanz provoziert, denn die Art, wie sie an ein Tabu rührt, muss einen Diskurs auslösen. Schonungslos kritisiert sie die Zustände auf der Intensivstation, wo Einfühlung und Autonomie Fremdwörter sind.

Der Kranke wird zum messbaren Fall, der von Personal und Geräten umringt ist und gerade deshalb einsam stirbt. Während Warnschilder die Lebenden in Banken, Postämtern und selbst in Arztpraxen ermahnen, angemessene Distanz zu wahren, wird diese Grenze beim wehrlos Kranken brutal verletzt.

Berkéwicz’ Text ist ein klug durchkomponiertes Gewebe, in dem, von der konkreten Trauer ausgehend, das Alleinsein als Urangst des Menschen diagnostiziert und als Vorhalle des Todes beschrieben wird.

Rezensiert von Carola Wiemers

Ulla Berkéwicz: Überlebnis
Suhrkamp Verlag 2008
139 Seiten, 14,80 Euro