Gespräche weiser Männer

Helmut Schmidt und Fritz Stern haben Gespräche geführt, die unter dem Titel: "Unser Jahrhundert" ein Bucherfolg wurden. Sie tauschten Gedanken und Meinungen aus - nicht nur, aber vor allem über die Ereignisse der letzten 100 Jahre.
Helmut Schmidt und Fritz Stern sind zwei lebenserfahrene und lebenskluge Männer. Der Politiker und der Historiker haben vor einem Jahr im Haus von Helmut Schmidt Gespräche geführt, die unter dem Titel: "Unser Jahrhundert" ein Bucherfolg wurden. Sie tauschten Gedanken und Meinungen aus und stellten Fragen - nicht nur, aber vor allem über die Ereignisse der letzten 100 Jahre. Auch über die Anfänge der Sozialdemokratie:

Stern: Trotzdem wage ich zu sagen, dass der Marxismus rhetorisch eine große Rolle gespielt hat in der deutschen Sozialdemokratie.

Schmidt: Der sogenannte Marxismus – da muss man klären, was man damit meint. Meint man damit Karl Marx oder meint man damit seine Adepten und seine Interpreten in der zweiten und dritten Generation? Für mich ist das Kennzeichen und das Wesen des Marxismus eigentlich Analyse von Gesellschaft und Wirtschaft. Soweit er in die Zukunft denkt, sind beide Epitheta, Hervorragen und Leistung nicht zu gebrauchen.

Eine kurze Original-Passage aus dem Hörbuch "Unser Jahrhundert". Das Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Fritz Stern wurde aufgezeichnet. Aus Gründen der besseren Verständlichkeit wurde es ohne redaktionelle Bearbeitung nachgesprochen: sehr authentisch gibt Hanns Zischler den Schmidt und Hans Peter Hallwachs den Stern.

Immer wieder kommen sie im Verlauf des Gesprächs auf die Frage zurück, die Fritz Stern "die eigentliche deutsche Frage" nennt: Wie konnte es "dazu" kommen? Nationalsozialismus, Krieg und die Folgen:

Schmidt: Normalerweise ist der einfache Soldat, der Gefreite oder der Obergefreite nicht geneigt, sich über den Ausgang des Krieges Gedanken zu machen. Der einfache Soldat hatte Angst vor der russischen Gefangenschaft. Er hatte Angst vor schwerer Verwundung. Das waren die seelischen Bedrängnisse, unter denen er litt, nicht die Frage, wie der Krieg ausgeht.

Stern: Aber es gab einen, wie soll ich sagen, qualitativen Unterschied zwischen dem Russlandfeldzug und den Feldzügen davor. Das wäre die Frage: Hat der einfache Soldat die Brutalität ...

Schmidt: Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe keinen der vorangegangenen Feldzüge mitgemacht. Wohl aber kann ich den seit Generationen eingeübten Gehorsam der Deutschen beurteilen. Die große Masse der Deutschen wusste: Wir haben den Ersten Weltkrieg verloren. Sie hatte Zweifel, wie dieser Zweite Weltkrieg ausgeht, aber sie wusste: Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg die Befehle befolgt und ich muss das auch tun. – Unabhängig davon, ob man einen Befehl vernünftig fand oder nicht, dass er befolgt wurde, war selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich war aber auch, dass man, wenn es ging, versucht hat Befehle zu umgehen.

Stern: Wie wichtig die Kenntnis der historischen Tatsachen ist, kann man nirgendwo besser erkennen als am deutsch-polnischen Verhältnis. Würden Sie – ähnlich wie Richard von Weizsäcker – sagen, dass aus der historischen Verantwortung des Zweiten Weltkrieges heraus die Deutschen eine besondere Verantwortung gegenüber den Polen haben?

Schmidt: Eine sehr hohe Verantwortung gegenüber den Polen. Der Ausdruck "besondere Verantwortung" klingt so, als ob sie besonders sei im Verhältnis zu unserer Verantwortung gegenüber anderen Staaten und Regierungen.

Stern: Ich würde trotzdem von "besonderer Verantwortung" sprechen wollen.

Schmidt: Für mich ist der polnische Nachbar unter dem Gesichtspunkt der deutschen Geschichte von ungeheurer Bedeutung.

Stern: Vielleicht genügt es, wenn die Deutschen sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Und die Polen sollten sich à la longue nicht immer nur als Opfer fühlen.

Schmidt: Das Verhältnis ist nach wie vor schwierig. Keiner würde behaupten wollen, dass eine Freundschaft besteht.

Stern: Nein.

Helmut Schmidt, geboren 1918 in Hamburg, und Fritz Stern, geboren 1926 in Breslau und 1938 mit der Familie in die USA emigriert, kennen sich seit Mitte der siebziger Jahre. Im Verlauf ihrer langen Freundschaft haben sie immer wieder die zentralen Fragen der deutschen wie internationalen Politik reflektiert. In besonderem Maß auch das Verhältnis zu Israel und den Anti-Semitismus:

Stern: In Amerika ist es sehr viel schwieriger, kritisch über Israel zu reden als in Israel. Kritik an Israel gilt schnell als Antisemitismus. Es ist noch schlimmer als in Deutschland, glaube ich.

Schmidt: Es ist in Deutschland auch ziemlich schlimm. Auch hier wagt kaum einer Kritik an Israel zu üben aus Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus.

Stern: Amerika ist durch die political correctness manchmal wie gelähmt. Aber die Stärke und die Empfindlichkeit eines Großteils der amerikanischen Juden, der organisiert ist, reichen sehr weit. Für die gibt es nur (5'11: ... Englisch ). Meine Einstellung demgegenüber lautet: Warum soll ich nicht ebenso kritisch über Israels Politik denken und sprechen dürfen, wie einige maßgebende Israelis selber? Nur, weil ich in New York wohne und nicht in Jerusalem?

Schmid: Sie sehen, wie heikel das Thema ist.

Stern: Und wie! Für das, was ich eben gesagt habe, würde ich in Amerika in manchen Kreisen als antisemitisch bezeichnet werden.

Schmidt: Ein kleiner Staat, der durch seine Siedlungspolitik auf der Westbank und länger schon im Gaza-Streifen eine friedliche Lösung praktisch unmöglich macht. Deshalb haben die Israelis auch in Deutschland viele Sympathien verspielt.

Stern: Würden Sie nicht zustimmen, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für die Sicherheit Israels hat?

Schmidt: Der Ausdruck "besondere Verantwortung" kam heute Morgen schon einmal vor im Zusammenhang mit Polen. Da habe ich ihn ebenfalls abgelehnt. Deutschland hat eine besondere Verantwortung dafür, dass solche Verbrechen wie der Holocaust sich niemals wiederholen. Deutschland hat keine Verantwortung für Israel.

Stern: Da bin ich anderer Meinung. Ich kann gut verstehen, dass Deutsche das Gefühl haben, dass sie eine Mitverantwortung haben für Israel. Das schließt ja Kritik nicht aus – im Gegenteil. Es ist wichtig, die falsche Politik Israels zu kritisieren, um die inneren Kräfte dort zu stärken.

Schmidt: "Eine besondere Verantwortung für die Sicherheit Israels", das klingt mir fast schon nach einer Art Bündnisverpflichtung.

Stern: So weit würde ich nicht gehen. Aber nehmen Sie als Beispiel die widerlichen Drohungen von Ahmadinedschad, der das Existenzrecht Israels bestreitet und anscheinend eine Politik betreibt, die auf die Vernichtung Israels abzielt. Sind die Deutschen aufgrund der Vergangenheit nicht besonders verpflichtet, Israel in dieser Situation beizustehen?

Schmidt: Das ist richtig, aber ich würde das Wort "Verantwortung" nicht in Anspruch nehmen.

Helmut Schmidt und Fritz Stern stellen bei ihrem Gespräch Bezüge zur Gegenwart her und diskutieren über Fragen der globalen Gesellschaft – wie die Finanzkrise:

Schmidt: Meine Voraussage ist, dass sich im Laufe der nächsten 10, 15 Jahre ein innerer Kern der Europäischen Union entwickeln wird – ohne Verfassung, ohne Constitution, ohne Vertrag. Zwei Dinge werden Bestand haben, erstens der gemeinsame Markt, zweitens die gemeinsame Währung. Diese beiden Dinge werden bestehen bleiben. Das heißt gleichzeitig, wir verharren auf dem erreichten Stand.

Stern: Genügt das denn, um die Leistung der Nachkriegszeit aufrecht zu erhalten?

Schmidt: Muss genügen.

Stern: Glauben Sie, dass sich die Gier der Finanzmanager in New York und London auf mittlere Sicht zügeln lässt?

Schmidt: Nicht nur die Gier von Bankmanagern hat zu der weltweiten Rezession geführt. Auch Politiker in mehreren Ländern haben ihre Pflichten vernachlässigt. Ihre Regulierungsgesetze und ihre Finanzaufsicht haben sich als absolut unzureichend erwiesen. Das gilt auch für Deutschland. Es gibt kein Patentrezept. Trotzdem müssen die Regierungen handeln und dürfen sich nicht auf die angeblichen Selbstheilungskräfte der Märkte verlassen. Aber die Regierungen dürfen sich dabei nicht nationalstaatlichem Egoismus und Protektionismus hingeben. Nur internationale Zusammenarbeit führt uns aus der Krise.


Helmut Schmidt und Fritz Stern: Unser Jahrhundert
gesprochen von Hanns Zischler und Hans Peter Hallwachs. Ein kluges Gespräch über unsere Geschichte! Ein Hörgenuss auf 5 CDs! Erschienen bei Der Audio Verlag.
Cover: "Helmut Schmidt und Fritz Stern: Unser Jahrhundert"
Cover: "Helmut Schmidt und Fritz Stern: Unser Jahrhundert"© Der Audio Verlag