Gesellschaftliche Utopien

Warten auf die große Politik

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) (v.l.) stehen am Kabinettstisch.
Der politische Alltag lässt den großen Wurf vermissen, meint der Berliner Soziologe Wolf Lepenies. Die Große Koalition könnte andere Akzente setzen. © dpa/picture alliance / Kay Nietfeld
Wolf Lepenies im Gespräch mit Korbinian Frenzel  · 23.12.2016
Der Berliner Soziologe Wolf Lepenies vermisst in der Politik den großen Wurf. In unserer Reihe zum Thema Utopien sagt er, der Marshall-Plan oder die Montan-Union in Europa seien "große Politik" gewesen. Eine Neuauflage solcher Projekte könnte helfen, die Bürger mehr für Politik zu interessieren.
"Was ich im Moment vermisse, ist so etwas wie die große Politik", sagt der Berliner Soziologe Wolf Lepenies im Deutschlandradio Kultur. In unserem Schwerpunkt "Zukunft denken - 500 Jahre 'Utopia'" sprechen wir mit ihm über die Frage, welche Kraft zivilisatorische Utopien in der Gesellschaft entfalten können.
Als Beispiele für eine Politik, wie er sie anmahnt, nannte der Soziologe die von US-Präsident Franklin Roosevelt angestoßene Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen "New Deal", den Marschallplan und die Montan-Union in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Das sei große Politik angesichts ungeheurer Schwierigkeiten gewesen, die Politiker sich dennoch zugetraut hätten, zu meistern, sagte Lepenies.
"Das fehlt heute." Es gebe keinen großen Wurf dieser Art. Dabei müssten Frankreich und Deutschland heute etwas Vergleichbares in Europa vorantreiben wie in der Afrikapolitik, um einen fairen Interessenausgleich herbeizuführen.

Lob für Atom-Ausstieg

Mit Blick auf die neue Landesregierung in Berlin sagte der Soziologe, er verstehe nicht, warum Rot-Rot-Grün nicht einfach 400 Millionen Euro in die Hand nähme, um einmal auf einen Schlag alle Schulen zu sanieren. Das wäre große Politik auf kleiner Ebene. "Aber es fehlt irgendein Wurf dieser Art." Auch auf der Bundesebene fehle dieser. Lediglich der Atom-Ausstieg durch Bundeskanzlerin Angela Merkel sei etwas gewesen, was großer Politik "nahe" komme.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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