Mein Bruder und ich

Die längste Beziehung meines Lebens

Ein Junge und ein Mädchen halten sich an den Händen und laufen über ein Feld. Der Junge hält ein Spielzeug-Flugzeug in der Hand. Man sieht die Kinder von hinten.
Das innere Band zwischen Geschwistern kann man nicht durchschneiden, auch wenn man sich zerstritten hat und keinen Kontakt mehr pflegt. Man bleibt Geschwister, sagt Psychologin Inés Brock-Harder. © picture alliance / Westend61 / Ekaterina Yakunina
Von Elena Matera · 02.04.2024
Unsere Autorin kann sich ein Leben ohne ihren großen Bruder nicht vorstellen. Sie fragt sich: Wie wichtig sind Geschwister für unser Leben? Wie sehr prägen sie uns? Und hat man dadurch einen Vorteil gegenüber Einzelkindern?
Wenn ich Fotos aus meiner Kindheit durchgehe, bin ich fast nie allein darauf zu sehen. Mein großer Bruder war so gut wie immer an meiner Seite. Unser Altersunterschied liegt nur bei anderthalb Jahren. Wir haben gespielt, uns verkleidet und uns Fantasiewelten ausgemalt. Wir haben getobt, gesungen, getanzt und unseren Eltern Streiche gespielt – kurzum: Wir waren als Kinder die besten Freunde.
Und klar: Wir haben uns auch gestritten. Mein Bruder hat mir an den Haaren gezogen oder mein Kuchenstück geklaut. Ich habe ihm wiederum sein Spielzeug weggenommen oder wollte bestimmen, was wir jetzt spielen. Und wir wollten uns übertrumpfen: Wer bekommt das größte Eis? Wer darf im Doppelstockbett oben schlafen? Wer schießt mehr Fußballtore? Wer gewinnt das nächste Level im Computerspiel?

Streit und Konflikte sind wichtig für die Entwicklung

Konflikte zwischen Geschwistern sind normal – und sogar wichtig für den sozialen Umgang im späteren Leben, zeigt die Wissenschaft. Aus evolutionärer Sicht sind Geschwister Rivalen. Sie buhlen um Nahrung, Sicherheit, Liebe. In Geschwisterbeziehungen kann der Umgang mit Konkurrenz, Rivalität, aber auch Solidarität erprobt werden. Wie streitet man? Wie gibt man nach? Wie teilt man?
Ich erinnere mich auch an Momente, in denen mein Bruder und ich die Aufmerksamkeit unserer Eltern gewinnen wollten. In Streitsituationen habe ich dafür nur zu gerne die Karte der süßen kleinen Tochter gespielt und so meine Eltern auf meine Seite ziehen können, auch wenn mein Bruder gar nichts getan hat. Großes Sorry nachträglich!

Geschwisterbeziehung hat eine unterschätzte Bedeutung

„Wie überlistet man Geschwister? Wie behauptet man sich gegenüber den Eltern, weil man sieht, dass das andere Geschwisterkind das anders macht? Und so weiter. Also das sind ganz viele Beziehungsmuster und Gefühlsmuster, die eben auch in dieser Geschwisterbeziehung mitentwickelt werden“, erklärt der Schweizer Psychologe und Geschwisterforscher Jürgen Frick. Auch das Ausbalancieren von ganz unterschiedlichen Emotionen ist eine wichtige Kompetenz, die mit Geschwistern geübt wird. Die Geschwisterbeziehung, so sagt Frick, hat daher eine enorme – eine unterschätzte – Bedeutung.
Rivalität gehört also dazu, sie ist etwas Natürliches, wie es die Psychologin Inés Brock-Harder beschreibt. Das zu hören, beruhigt mich. „Geschwisterschaft ist ein Mix aus Liebe und Rivalität. Beides gehört zusammen, wechselt mitunter im Minutentakt“, sagt sie. Es gibt sogar Forschungen, die zeigen, dass sich Geschwister in einer Stunde bis zu 40 Mal streiten. Ich bin mir ziemlich sicher: Das kam auch bei meinem Bruder und mir vor.

Gute Geschwisterbeziehungen können den Selbstwert erhöhen

Allerdings sollten all die Streitereien und Rivalitäten auch nicht ausarten. Denn Geschwisterbeziehungen können auch toxisch werden. Rivalitäten bestimmen dann den Alltag und Streitereien können in schweren Verletzungen, Mobbing oder gar physischer Gewalt ausarten. Diese können den Selbstwert nachhaltig negativ beeinflussen, betont Jürgen Frick. Gute Geschwisterbeziehungen aber können das Leben bereichern und den eigenen Selbstwert sogar erhöhen. „Sie können ein Schutzfaktor sein. Das ist die positive Botschaft der Resilienzforschung“, sagt Frick.
Mein Bruder und ich haben schwierige, aber auch schöne Momente geteilt. Wir sind mit zwei Kulturen aufgewachsen, haben Freundschaften geteilt, eine gemeinsame Katze gehabt, die wir über alles geliebt haben. Wir haben langweilige Familienfeste überstanden, uns durch den Matheunterricht gequält und in den Urlauben rund um die Uhr Zeit miteinander verbracht – all das verbindet uns.
Heute sind wir beide in den 30ern, wir leben mittlerweile in unterschiedlichen Städten, haben beruflich verschiedene Wege eingeschlagen. Wir sehen uns vielleicht alle drei Monate. Dennoch ist da diese tiefe Verbundenheit, die man nur schwer beschreiben kann. Ich weiß zu 100 Prozent: Mein Bruder ist immer für mich da, auch wenn wir uns selten sehen. Er würde mich immer unterstützen und ich ihn. Er ist wie ein Sicherheitsnetz in meinem Leben.

Das innere Band zwischen Geschwistern

Gerade wenn in der frühen und mittleren Kindheit eine Basis für eine gute, befriedigende Geschwisterbeziehung gelegt ist, gibt es auch später im Erwachsenenleben dieses innere Band, wie es die Psychologin Inés Brock-Harder beschreibt.
Es sei auch vollkommen normal, dass Geschwister sich im Laufe der Jahre – meistens ab der Pubertät - unterschiedlich entwickeln, später regional und beruflich andere Wege gehen. „Aber dieses innere Band kann man nicht durchschneiden, auch wenn man sich zerstritten hat und keinen Kontakt mehr pflegt“, sagt Brock-Harder. Man bleibt Geschwister. Und das ist sicherlich auch der größte Unterschied zu einer Freundschaft.
Zwei Kinder mit braunen Haaren, ein Junge und ein Mädchen, sitzen auf dem Fußboden und lächeln sich an.
In Geschwisterbeziehungen haben Kinder die Möglichkeit, den Umgang mit Konkurrenz, Rivalität sowie Solidarität zu erproben.© picture alliance / Zoonar / Dasha Petrenko
Die Solidarität, die es bei vielen Geschwistern gibt, kann man auch aufrechterhalten, wenn man sich nicht gut versteht, erklärt Politik- und Sozialwissenschaftlerin Nicola Schmidt. Ganz nach der Devise: „Auch wenn ich dich nicht gut finde, halte ich zu dir, denn du bist Familie und ich weiß, dass wir eine Lösung finden werden.“ Außerdem: Es ist im Leben nie zu spät, doch noch eine gute Beziehung zu seinen Geschwistern aufzubauen.

Der Traum vom Einzelkind-Dasein

Einzelkinder haben all die Erfahrungen, die ich mit meinem Bruder gesammelt habe, nicht. Im Gegensatz zu einem Einzelkind müssen Geschwister zum Beispiel ihre primären Bindungspersonen – und das sind meistens die Eltern – teilen und die Konflikte, die daraus entstehen, die müssen sie lernen auszuhandeln. „So was lernt man tatsächlich nur von Geschwistern“, sagt Schmidt.
Als Kind habe ich manchmal davon geträumt, Einzelkind zu sein. Man bekommt die ganze Aufmerksamkeit der Eltern und natürlich auch mehr Geschenke. Man muss nicht um den Nachtisch kämpfen und streitet generell sehr viel weniger – wie erholsam. Und dann denke ich mir: Mein Bruder hat mein Leben sehr viel aufregender gestaltet. Meine Eltern waren beide berufstätig und mit meinem Bruder hatte ich immer jemanden, mit dem ich spielen konnte – gerade auch im Urlaub. Ich konnte mich mit ihm verbünden und gegen meine Eltern argumentieren und später hat er mich in Clubs eingeschleust, als ich noch zu jung dafür war. Also ja, ich bin froh, kein Einzelkind zu sein. Ich kann und will mir ein Leben ohne meinen großen Bruder nicht vorstellen.

Einzelkinder sind oftmals intelligenter

Aber habe ich jetzt mit einem Bruder im Gegensatz zu Einzelkindern mehr Vor- als Nachteile im Leben? Auch ich kenne das altbekannte Vorurteil, dass Einzelkinder egoistisch, verwöhnt und weniger sozial sind. Allerdings trifft das gar nicht zu, wie die Forschung zeigt. Menschen in einer Gruppe oder Gemeinschaft verhalten sich sozial und solidarisch, unabhängig davon, ob nun ein tatsächliches verwandtschaftliches Verhältnis vorliegt oder es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss handelt, heißt es.
„Es gibt keine durchschnittlichen Defizite in sozialen Fähigkeiten, keine systematischen Unterschiede in der Persönlichkeit, keine Unterschiede im Narzissmus“, erklärt Julia Rohrer, Persönlichkeitsforscherin am Wilhelm-Wundt-Institut für Psychologie der Universität Leipzig. Tatsächlich haben Einzelkinder sogar einen klaren Vorteil: Sie sind oftmals intelligenter im Vergleich zu Kindern mit Geschwistern. Vermutlich liegt das daran, dass sie eher ein erwachseneres Umfeld haben und die Eltern und nicht die Geschwister nachahmen, sagt Rohrer. Eine weitere Ursache für die oftmals höhere Intelligenz könnte sein, dass gerade gut gebildete Eltern eher später im Leben Kinder bekommen und es dann oft bei einem Einzelkind bleibt.
„Als Einzelkind hat man also keinen prägenden Mangel, sondern eher eine Sehnsucht nach einem Geschwisterkind“, sagt Psychologin Brock Harder. Gute Beziehungen können auch Freundschaften ins Leben bringen – Geschwister braucht man dafür nicht. Dennoch: Das innere Band der Geschwister können Freunde nicht ersetzen.
Für mich steht Folgendes fest. Egal wie viel Kontakt ich mit meinem Bruder habe, egal wie verschieden unsere Lebenswege auch sein mögen - ich bin über diese längste Beziehung meines Lebens vor allem eines: dankbar.
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