Geschichten von Verlust und Verrat
Claudia Rusch hat in "Aufbau Ost" 15 Geschichten versammelt, in denen sie sich mit ihrer Kindheit in der DDR befasst. Es geht um Verlust, Versöhnung und rabiate Umbrüche in der Alltagsgeschichte Ost. Susanne Schädlich analysiert in "Immer wieder Dezember", wie ihre Familie durch die Denunziationen des Onkels zerstört wurde.
Die 15-Geschichten-Tour durch das Land ihrer Kindheit und damit quer durch den Gedächtnisraum DDR hat bei Claudia Rusch erneut diesen bitter-leichten Sound, erneut auch die politische Klarsichtigkeit wie in ihrem Erfolgsdebüt "Meine freie deutsche Jugend". Die Reise startet in Rostock, mit dem Familientrauma – dem 1967 unter ungeklärten Umständen im dortigen Stasigefängnis zu Tode gekommenen Großvater.
"Ich wusste, es ging meiner Mutter nicht darum, dass irgendjemand sich dieses Themas systematisch annahm, um etwas herauszufinden, das sie übersehen haben könnte. Sie wollte, dass ich, die einzige Tochter, mich mit ihrem Vater beschäftige. Dass der unbekannte Großvater und seine nachgeborene Enkeltochter, dass wir uns kennenlernen."
Die ungeklärten Umstände, der fehlende Großvater, das notwendige Erzählen über die Leerstelle, den Schmerz hinweg. Die erste Reise wird zum Kerntext, zum Herzstück des Buches. Sogartig und punktgenau in der Suche nach den eigenen Schreibmotiven und nach Identität. "Eine Geschichte von Sehnsucht, die versteht eben doch jeder", hatte die 1971 geborene Autorin ihren Erstling lapidar kommentiert. Das zweite Buch wird zum Anschlusstext in Sachen Sehnsucht, eine radikal subjektive Bestandsaufnahme der alten und neuen Alltagsgeschichte Ost, in der es viel um Versöhnung, Verlust, rabiate Umbrüche, aber auch Welterweiterung und Glückspotenziale geht. Doch ist es die Wucht des Großvater-Prologs, dass alle 14 Reisen so eigenartig kursorisch, äußerlich, mitunter didaktisch erscheinen? Ist der intime Sehnsuchtstext zu stark, sodass jede Geschichte nach ihm zu einem Schreiben in Schonhaltung wird?
Um ungeklärte Umstände geht es auch im zweiten Buch der 1965 geborenen Susanne Schädlich. Und um Familiengenealogie, Verrat, ein weites Schmerzland. Am Anfang des Textes steht auch hier ein Tod. Dieser ist laut. Ein Mann auf einer Parkbank, im Dezember 2007, mitten in Berlin. Der Schuss in den eigenen Mund. Der Mann heißt Karlheinz Schädlich, ist Onkel der Autorin und Bruder des Vaters Hans-Joachim Schädlich, einer der wichtigsten Schriftsteller des Landes. Karlheinz Schädlich, Jahrgang 1931, war Historiker an der Akademie der Wissenschaften der DDR und ließ sich 1975 als IM "Schäfer" vom DDR-Geheimdienst verpflichten. Öffentlich bekannt war er bereits als "Grass-Spitzel", berichtet wurde auch, dass er Menschen ins Gefängnis brachte, nicht aber, in welcher Perversion er der eigenen Familie Intimität und Schutz raubte.
"Es gibt kein Ende, das weiß ich jetzt. Nicht in dieser Angelegenheit. Nicht in dieser Zeit. Und noch etwas: Dieser Tod macht nichts ungeschehen. Deshalb werde ich darüber schreiben, weil alles miteinander zusammenhängt, weil ich draußen war und wieder hineingezogen werde."
Hineingezogen in die geräuschlose Vernichtungsaktion der Familie Schädlich durch die Staatssicherheit, in eine deutsche Geschichte der Niedertracht und in ein Leben ohne Wahl. Nicht mehr und nicht weniger. Für 1984 heißt es denkbar knapp: "Mission erfüllt. Die Familie zerschlagen. Eltern unschädlich gemacht." Der Text ist ein Grenzgang, in den Geheimdienstakten, Erinnerungen, Gespräche einfließen. Radikale Subjektivität als Methode der Selbstbehauptung, als Mittel der Selbstfindung.
"Von wegen, Papier kann einem nichts antun. Es ist die Reduzierung der Personen auf die Sache, die mir zu schaffen macht. Als sei es nie um Schicksale gegangen, sondern um Dinge, um zu erledigende Dinge."
Bestechend die Diskretion, mit der sich Susanne Schädlich durch den toxischen Raum bewegt. Bestechend die Genauigkeit, mit der sie eigene Einsamkeit und Isolation in Naturbilder packt, mit der sie Details nennt, die das Abgründige hinter den Worten offenbaren, mit der sie Wut und Verletzung bündelt und das janusköpfige Spiel, den Diebstahl des eigenen Lebens durch den Stasi-Onkel, - von der Autorin eingeführt als zweiter Vater, Kumpel und bester Freund – in den Text holt. Der Aufhebung jeglicher Nähe, der Löschung von Verwandtschaft und Historie durch den Spitzelapparat stellt Susanne Schädlich ihre Sprache und Reflektion entgegen. Das Buch wird zur versuchten Landnahme, zur Rehabilitierung der Eltern, ein Stück ostdeutscher Oppositionsgeschichte, am Ende ist es eine beharrende Verortung des eigenen Daseinsrechts. "Immer wieder Dezember" ist ein notwendiges Buch, doch nicht nur. Es ist ein wichtiges. Es hat Deutschland-Dimension.
"Das sind alles Geschichten, die erzählt werden müssen. Damit man beteiligt bleibt. Damit der Schlussstrich nicht gezogen wird ... Es geht auch nicht nur um die Sache mit dem Onkel. Es geht um Himmelsrichtungen zum Beispiel. Um das Wort WO. Wie auf einem Kompass. Wo gehöre ich hin, wo komme ich her?"
Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember
Droemer Verlag/München, 2009
Claudia Rusch: Aufbau Ost
S.Fischer/Frankfurt, 2009
"Ich wusste, es ging meiner Mutter nicht darum, dass irgendjemand sich dieses Themas systematisch annahm, um etwas herauszufinden, das sie übersehen haben könnte. Sie wollte, dass ich, die einzige Tochter, mich mit ihrem Vater beschäftige. Dass der unbekannte Großvater und seine nachgeborene Enkeltochter, dass wir uns kennenlernen."
Die ungeklärten Umstände, der fehlende Großvater, das notwendige Erzählen über die Leerstelle, den Schmerz hinweg. Die erste Reise wird zum Kerntext, zum Herzstück des Buches. Sogartig und punktgenau in der Suche nach den eigenen Schreibmotiven und nach Identität. "Eine Geschichte von Sehnsucht, die versteht eben doch jeder", hatte die 1971 geborene Autorin ihren Erstling lapidar kommentiert. Das zweite Buch wird zum Anschlusstext in Sachen Sehnsucht, eine radikal subjektive Bestandsaufnahme der alten und neuen Alltagsgeschichte Ost, in der es viel um Versöhnung, Verlust, rabiate Umbrüche, aber auch Welterweiterung und Glückspotenziale geht. Doch ist es die Wucht des Großvater-Prologs, dass alle 14 Reisen so eigenartig kursorisch, äußerlich, mitunter didaktisch erscheinen? Ist der intime Sehnsuchtstext zu stark, sodass jede Geschichte nach ihm zu einem Schreiben in Schonhaltung wird?
Um ungeklärte Umstände geht es auch im zweiten Buch der 1965 geborenen Susanne Schädlich. Und um Familiengenealogie, Verrat, ein weites Schmerzland. Am Anfang des Textes steht auch hier ein Tod. Dieser ist laut. Ein Mann auf einer Parkbank, im Dezember 2007, mitten in Berlin. Der Schuss in den eigenen Mund. Der Mann heißt Karlheinz Schädlich, ist Onkel der Autorin und Bruder des Vaters Hans-Joachim Schädlich, einer der wichtigsten Schriftsteller des Landes. Karlheinz Schädlich, Jahrgang 1931, war Historiker an der Akademie der Wissenschaften der DDR und ließ sich 1975 als IM "Schäfer" vom DDR-Geheimdienst verpflichten. Öffentlich bekannt war er bereits als "Grass-Spitzel", berichtet wurde auch, dass er Menschen ins Gefängnis brachte, nicht aber, in welcher Perversion er der eigenen Familie Intimität und Schutz raubte.
"Es gibt kein Ende, das weiß ich jetzt. Nicht in dieser Angelegenheit. Nicht in dieser Zeit. Und noch etwas: Dieser Tod macht nichts ungeschehen. Deshalb werde ich darüber schreiben, weil alles miteinander zusammenhängt, weil ich draußen war und wieder hineingezogen werde."
Hineingezogen in die geräuschlose Vernichtungsaktion der Familie Schädlich durch die Staatssicherheit, in eine deutsche Geschichte der Niedertracht und in ein Leben ohne Wahl. Nicht mehr und nicht weniger. Für 1984 heißt es denkbar knapp: "Mission erfüllt. Die Familie zerschlagen. Eltern unschädlich gemacht." Der Text ist ein Grenzgang, in den Geheimdienstakten, Erinnerungen, Gespräche einfließen. Radikale Subjektivität als Methode der Selbstbehauptung, als Mittel der Selbstfindung.
"Von wegen, Papier kann einem nichts antun. Es ist die Reduzierung der Personen auf die Sache, die mir zu schaffen macht. Als sei es nie um Schicksale gegangen, sondern um Dinge, um zu erledigende Dinge."
Bestechend die Diskretion, mit der sich Susanne Schädlich durch den toxischen Raum bewegt. Bestechend die Genauigkeit, mit der sie eigene Einsamkeit und Isolation in Naturbilder packt, mit der sie Details nennt, die das Abgründige hinter den Worten offenbaren, mit der sie Wut und Verletzung bündelt und das janusköpfige Spiel, den Diebstahl des eigenen Lebens durch den Stasi-Onkel, - von der Autorin eingeführt als zweiter Vater, Kumpel und bester Freund – in den Text holt. Der Aufhebung jeglicher Nähe, der Löschung von Verwandtschaft und Historie durch den Spitzelapparat stellt Susanne Schädlich ihre Sprache und Reflektion entgegen. Das Buch wird zur versuchten Landnahme, zur Rehabilitierung der Eltern, ein Stück ostdeutscher Oppositionsgeschichte, am Ende ist es eine beharrende Verortung des eigenen Daseinsrechts. "Immer wieder Dezember" ist ein notwendiges Buch, doch nicht nur. Es ist ein wichtiges. Es hat Deutschland-Dimension.
"Das sind alles Geschichten, die erzählt werden müssen. Damit man beteiligt bleibt. Damit der Schlussstrich nicht gezogen wird ... Es geht auch nicht nur um die Sache mit dem Onkel. Es geht um Himmelsrichtungen zum Beispiel. Um das Wort WO. Wie auf einem Kompass. Wo gehöre ich hin, wo komme ich her?"
Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember
Droemer Verlag/München, 2009
Claudia Rusch: Aufbau Ost
S.Fischer/Frankfurt, 2009

Claudia Rusch: "Aufbau Ost"© S. Fischer

Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember© Droemer Verlag