Geschichte eines Draufgängers

Rezensiert von Burkhard Müller Ulrich · 04.01.2009
Es ist eine Art Knabenerweckungs- und -entwicklungsgeschichte, die Matthias Mattusek seinen Lesern mit "Als wir jung und schön waren" bietet. Zudem beschreibt der Autor den Geist von 68, wagt aber auch einen Ausblick in die Gegenwart.
Zwei Bücher sind das zum Preis von einem: So bekommt man erstens die wilde Zeit von '68 mit Hilfe von Matthias Matussek erklärt, und zweitens wird einem Matthias Matussek mit Hilfe jener wilden Zeit von '68 näher gebracht und vertraut gemacht

1968 war Matussek 14, ein bisschen jung für Revolution, aber doch schon irgendwie dabei, den Geist der Zeit zu inhalieren. Wie sich Privates und Politisches so mischen in eines Menschen Leben, das war ja das große Thema, die große Denk-Errungenschaft der 68er.

Angefangen hat es 1967 mit der berühmt-berüchtigten Kommune 1, deren sorgfältig erstellte Presseausschnittsammlung später im Besitz Hans Magnus Enzensbergers landete.

"Oft werden die Tage als Inkubationszeit für spätere Terrorakte gelesen. Und doch stehen sie für sich selbst. Sie waren eine politische Happeningphase, die die Köpfe der Nachkriegsgesellschaft wachrüttelte. Und die nebenbei den nötigen Modernisierungsschub besorgte, eine Öffnung in die Welt."

Matussek war allerdings noch gar nicht "Nachkriegsgesellschaft". Er war 14. Er bedurfte keines "Modernisierungsschubs", sondern ganz normaler Reifung. Das Drama jener hochpolitisierten Zeit bestand ja darin, dass die ideologische Perspektive sich über alles stülpte und jedem gleichermaßen aufgezwungen wurde. Man konnte nicht mal als Jugendlicher um ein Mädchen werben ohne revolutionäre Tiraden auf den Lippen.

Apropos Mädchen: Die nehmen in dieser Knabenerweckungs- und -entwicklungsgeschichte gebührend breiten Raum ein, und man merkt bald, dass das notorisch Draufgängerische an diesem Matthias Matussek mit einem beneidenswert erfüllten Geschlechtsleben korrespondiert. Wer außer ihm und Felix Krull kann schon berichten, in jungen Jahren durch das Dienstmädchen der Familie zum Beischlaf verführt worden zu sein?

Das war noch im Stuttgarter Elternhaus, dem fünf Brüder entsprossen. Der renitente Matthias hat es früh verlassen: schon als sechzehnjähriger Gymnasiast wohnte er in seiner eigenen Bude und schloss sich der KPD/ML an.

"Was mich am Marxismus elektrisierte, war das Katholische daran. Die Rituale, die Heiligengeschichten, das Erweckungsfieber, die Institution der Beichte, die hier 'Selbstkritik' hieß."

Was aber nicht heißt, dass Protestanten gegenüber dem Marxismus gleichgültiger gewesen wären. Allerdings wurden die christlichen Konnotationen damals derart ins Abseits gedrängt, dass Matussek mit seinen heutigen Bekenntnissen zum Bibel-Glauben in der deutschen Publizistik geradezu wie ein Wundertier erscheint. Dabei hat er ganz gute und witzige Argumente für sich.

"Offenbar glauben zwei Drittel aller Deutschen, daß Erdstrahlen und Wasseradern den Schlaf beeinträchtigen und daß sie durch Wünschelruten aufgespürt werden können; und viele Deutsche glauben, in Seancen mit den Toten reden und mit Hilfe von Karten in die Zukunft schauen zu können. Warum bereitet dann die Geschichte von der wundersamen Brotvermehrung so großes Kopfzerbrechen?"

Zurück zu Matusseks Stuttgarter KPD/ML-Zeit. Der Forderung nach Selbstkritik traf alsbald auch ihn, und zwar wegen seiner Liebe zu einem Geschöpf mit kastanienroten Locken, das dummerweise die Tochter eines Vorstandsmitglieds von Daimler-Benz war. Der deswegen abgehaltene Schauprozess half ihm aber, seine ideologischen Fesseln zu zerreißen. Die nachgetragene Erkenntnis lautet:

"War das nicht überhaupt Wahnsinn, wie hier die grausamen stalinistischen Prozessrituale, die immer auf Leben und Tod gingen, makaber und komisch als pubertäres Indianerspiel in einer kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft wiederholt wurden? Konnte man so etwas als Gefolgsmann je ernst nehmen? Konnte man es als Gegner, als Staat? Warum wurde dieser Mummenschanz nur für so bare Münze genommen? Eindeutig hatte sich hier eine Kunstwelt virtuos über die Realität gelegt. Im Grunde war die zitierte kommunistische Phantasiewelt so etwas wie die heutige 'Second life'-Tummelwiese im Internet, ein Nachbau der Wirklichkeit, durch den die Mitglieder ihre Selbstvergrößerungen und Selbstverschönerungen schicken, die sie Avatare nennen."

So sieht es aus dem Abstand von Jahrzehnten aus, und die große Frage, die am Ende der Geschichte bleibt, ist, ob der Mensch immer alles mitmachen muss, um seine Irrungen und Wirrungen später zu begreifen. Als ewiger Heißsporn neigt Matussek wohl dazu, diese Frage zu bejahen, aber als Vater wird er das möglicherweise anders sehen. Jetzt ist sein Sohn Markus, den er im Buch oft anspricht, gerade selber in der Pubertät; da mag zum Beispiel das Thema Drogen rasch eine andere Färbung bekommen.

Der Autor jedenfalls hat sich damals die Welt erkifft, er wurde sogar auf einem abenteuerlichen Trip nach Indien mit Haschisch in den Stiefeln verhaftet und zweimal eingekerkert. In der Erzählung klingt noch immer ein Triumph-Ton durch, der zweifellos dazu gehört, aber dass es eine Gnade war, heil davongekommen zu sein - weniger aus indischen Gefängnissen als von der ganzen Kifferei - das könnte, Markus zuliebe, noch ein bisschen deutlicher gesagt werden.

Denn im Unterschied zu so vielen Erinnerungs- und Selbstbespiegelungsbüchern zum Thema '68 macht Matussek das Fenster auf und schaut in die Gegenwart: Da leben Jugendliche, die offensichtlich anders ticken als ihre Eltern, die 68er, aber sie sind ihnen immer noch viel näher, als es die 68er ihren Eltern waren.

"Heute hat die Popkultur so sehr gewonnen, daß sie alle Generationen gleichzeitig bedient, egal, welchem Auto man zusteigt, überall läuft das Gleiche. Die Jugendkultur ist überflüssig geworden, weil alles Jugendkultur ist."

Es wird nicht so ganz klar, ob Matussek das gut findet oder ob er es bedauert. In jedem Fall fühlt er sich dem Pop verbunden und verpflichtet. Pop ist für ihn, den bis zur Albernheit Humorbegabten, ein Hinweis auf die stets gesuchte Lockerheit und Leichtigkeit. Aber das ist wohl ein Missverständnis. Pop kann auch sehr verbiestert sein.

"Das ist es, was uns von allen früheren Generationen unterscheidet. Unter den Bedingungen des Pop ist es möglich, daß Kierkegaard-Spezialisten gleichzeitig bekennende Donald-Duck-Liebhaber sind und Gerechtigkeits-Revolutionäre gleichzeitig wertkonservativ die Familie propagieren."

Nein, was uns von früheren Generationen unterscheidet, ist, dass man das für eine Errungenschaft hält und nicht weiß, dass große Geister schon immer alles kombinieren konnten. Hat Matussek das nicht von Goethe, mit dem er so drollig durch die Lande tourt, erfahren? Und wie sich Kierkegaard - neben so manch anderem - richtig schreibt, hat ihm auch niemand gesagt?

Matthias Matussek: Als wir jung und schön waren
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 2008
Matthias Matussek: Als wir jung und schön waren
Matthias Matussek: Als wir jung und schön waren© S. Fischer-Verlag